OLG Hamm, Urt. v. 9.6.2015 – 28 U 60/14 (Pressemitteilung OLG Hamm v. 26.1.2016)
Relevante Bereiche: fehlende Orientierungslinien Rückfahrkamera Sachmangel Rücktritt
Ausgangslage: Die Ausübung von Mängelrechten (Nacherfüllung, Minderung, Rücktritt, Schadensersatz, Aufwendungsersatz, vgl. § 437 BGB) setzt einen Mangel an der Sache voraus. Ganz allgemein gesprochen ist jede für den Käufer negative Abweichung des Ist-Zustands vom Soll-Zustand ein Sachmangel. Nach der gesetzlichen Systematik des § 434 BGB ist jedoch zur Feststellung eines Mangels nach einer ganz bestimmten Stufenfolge vorzugehen. So ist nach § 434 Abs. 1 S. 1 BGB die Sache nur dann frei von Sachmängeln ("Fehlern“), wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. Während unter "Gefahrübergang“ der Zeitpunkt der Übergabe gem. § 446 BGB zu verstehen ist, bedeutet Beschaffenheitsvereinbarung die auf Vorstellungen der Parteien beruhende Vereinbarung über die Beschaffenheit oder den Verwendungszweck der gekauften Sache. Weicht die objektive Beschaffenheit von der vereinbarten ab, liegt ein Sachmangel vor (= subjektiver Fehlerbegriff), vgl. R. Schmidt, Praxisratgeber Kaufrecht, 2015, S. 14.
In dem hier zu besprechenden Fall geht es um die Frage, ob das Fehlen von Orientierungslinien im Display einer Rückfahrkamera eines Pkw einen Sachmangel darstellt, der zudem zur Ausübung des Rücktrittsrechts befugt.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 9.6.2015 – 28 U 60/14; Pressemitteilung vom 26.1.2016): Der Geschäftsführer eines Betriebs (im Folgenden: K) bestellte bei einem Autohaus (im Folgenden: V) einen Mercedes Benz, Typ CLS 350 CDI zum Preis von rund 77.500 € für die Nutzung als Geschäftswagen. Darin inbegriffen waren u.a. die Sonderausstattungen: Rückfahrkamera (400 €), aktiver Park-Assistent inklusive Parktronic (730 €) und Command APS (2.620 €). In einer Verkaufsbroschüre des Herstellers war in Bezug auf die Rückfahrkamera ausgeführt, dass sie sich automatisch beim Einlegen des Rückwärtsganges einschalte, den Fahrer beim Längs- und Quereinparken unterstütze und dass statische und dynamische Hilfslinien dem Fahrer Lenkwinkel und Abstand anzeigen würden. Nach der Auslieferung des Fahrzeugs beanstandete K, dass die aktivierte Rückfahrkamera im Display keine Orientierungslinien anzeige. Er erhielt von V die Auskunft, dass die Fahrzeugelektronik keine Anzeige von Hilfslinien ermögliche. Einen vom Autohaus angebotenen Servicegutschein i.H.v. 200 € lehnte K ab und erklärte den Rücktritt vom Fahrzeugkauf, d.h. Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Wagens und Erstattung einer Nutzungsentschädigung.
Entscheidung des OLG:
Das OLG entschied, dass K – unter Abzug einer von ihm zu entrichtenden Nutzungsentschädigung – einen Anspruch auf Erstattung des Kaufpreises i.H.v. rund 62.500 € gegen Rückgabe des gekauften Mercedes Benz habe. Das Fahrzeug habe einen erheblichen Sachmangel, da die Rückfahrkamera keine dynamischen und statischen Orientierungslinien anzeige. Diese seien aber geschuldet gewesen. Schließlich habe K aufgrund des ihm überlassenen Verkaufsprospekts ein Bild der Rückfahrkamera einschließlich der Hilfslinien erwarten können. Dass dieser Aspekt für ihn auch bedeutsam gewesen sei, zeige die von ihm in diesem Zusammenhang gewählte kostenträchtige Zusatzausstattung. Außerdem sei der Mercedes bauartbedingt beim Blick nach hinten unübersichtlich und das Rückwärtsfahren sowie das Einparken sollten mit der gewählten Zusatzausstattung besonders erleichtert werden. Allein mit der ausgelieferten Rückfahrkamera seien der von K gewählte Komfort und die Sicherheit beim Rückwärtsfahren und Einparken jedoch nicht gewährleistet gewesen. Letztlich sei der Mangel auch nicht unerheblich gewesen. Dies zeige zum einen die bewusste Entscheidung des K für die teure Zusatzausstattung, die den Schluss zulasse, dass es ihm auch auf die angebotenen Funktionen dieser Zusatzausstattung angekommen sei. Zum anderen sei die durch die fehlenden Hilfslinien bestehende Funktionseinschränkung der Rückfahrkamera nicht als geringfügig anzusehen.
Bewertung:
Ob die Entscheidung des OLG überzeugt, soll im Folgenden anhand einer umfassenden Prüfung der Voraussetzungen des Rücktrittsrechts erläutert werden. Die Voraussetzungen eines Rücktritts vom Kaufvertrag ergeben sich aus §§ 434, 437 Nr. 2 Var. 1, 323, 326 Abs. 5 BGB. Nach diesen Vorschriften kann der Käufer den Rücktritt vom Kaufvertrag erklären, wenn
Ein wirksamer Kaufvertrag zwischen K und V lag vor. Die geschuldete Leistung (Übereignung und Übergabe des Neuwagens) war auch fällig. Allein die Frage, ob ein (erheblicher) Rechts- oder Sachmangel vorlag, könnte problematisch sein.
In Betracht kommt ausschließlich ein Sachmangel. Nach § 434 Abs. 1 S. 1 BGB ist die Sache nur dann frei von Sachmängeln („Fehlern“), wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. Unter Beschaffenheitsvereinbarung ist die auf den Vorstellungen der Parteien beruhende Vereinbarung über die Beschaffenheit oder den Verwendungszweck der gekauften Sache zu verstehen. Weicht die objektive Beschaffenheit von der vereinbarten ab, liegt ein Sachmangel vor (= subjektiver Fehlerbegriff). In den Kaufvertrag waren u.a. die Sonderausstattungen Rückfahrkamera (400 €), aktiver Park-Assistent inklusive Parktronic (730 €) und Command APS (2.620 €) aufgenommen. In einer Verkaufsbroschüre des Herstellers war in Bezug auf die Rückfahrkamera ausgeführt, dass sie sich automatisch beim Einlegen des Rückwärtsganges einschalte, den Fahrer beim Längs- und Quereinparken unterstütze und dass statische und dynamische Hilfslinien dem Fahrer Lenkwinkel und Abstand anzeigen würden. Zwar stammen die Angaben in der Verkaufsbroschüre vom Fahrzeughersteller und nicht von V, allerdings muss gleichwohl von einer stillschweigenden Beschaffenheitsvereinbarung ausgegangen werden, dass das verkaufte Fahrzeug diese Eigenschaften besitze. Doch auch dann, wenn man keine Beschaffenheitsvereinbarung annimmt, ergibt sich der Sachmangel jedenfalls aus dem objektiven Hilfskriterium des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB, wonach die Sache nur dann frei von Sachmängeln ist, wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann. Wichtig ist vorliegend die Regelung des § 434 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 BGB, wonach zur Beschaffenheit nach § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB auch Eigenschaften gehören, die der Käufer nach den öffentlichen Äußerungen des Herstellers insbesondere in der Werbung oder bei der Kennzeichnung über bestimmte Eigenschaften der Sache erwarten kann. Wie bereits erwähnt, war in einer Verkaufsbroschüre des Herstellers in Bezug auf die Rückfahrkamera ausgeführt, dass sie sich automatisch beim Einlegen des Rückwärtsganges einschalte, den Fahrer beim Längs- und Quereinparken unterstütze und dass statische und dynamische Hilfslinien dem Fahrer Lenkwinkel und Abstand anzeigen würden. Das Hilfskriterium des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB greift daher in jedem Fall, unabhängig davon, ob man bereits eine Beschaffenheitsvereinbarung annimmt. Ob V die Angaben im Verkaufsprospekt kannte, ist nicht von Bedeutung, da er sie in jedem Fall kennen musste. Auch musste er erkennen, dass die Angaben im Verkaufsprospekt geeignet sind, die Kaufentscheidung zu beeinflussen. Die Ausschlusskriterien des § 434 Abs. 1 S. 3 Halbs. 2 BGB greifen also nicht.
Dieser Sachmangel war – da konstruktionsbedingt – auch bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs (d.h. der Übergabe i.S.d. § 446 BGB) vorhanden. Diesen Beweis konnte K, der in Ermangelung einer Verbrauchereigenschaft insoweit beweisbelastet war, daher ohne weiteres erbringen.
Bei einem behebbaren Mangel muss der Käufer dem Verkäufer grundsätzlich eine angemessene Frist zur Nacherfüllung einräumen, bevor er den Rücktritt erklären kann (vgl. § 323 Abs. 1 BGB). Dass K dem V eine solche Frist gesetzt hätte, ist nicht ersichtlich. Allerdings ist eine Fristsetzung unter verschiedenen Voraussetzungen bzw. in verschiedenen Konstellationen entbehrlich (vgl. § 323 Abs. 2 BGB bzw. § 440 BGB). Bei einem unbehebbaren Mangel ist die Frist gem. 326 Abs. 5 BGB entbehrlich. Das entspricht der Regelung des § 275 Abs. 1 BGB, wonach der Schuldner von der Leistungspflicht befreit wird, soweit die Leistungserbringung für ihn oder für jedermann unmöglich ist. § 275 Abs. 4 BGB verweist u.a. auf § 326 BGB und damit auch auf § 326 Abs. 5 BGB.
Aufgrund der Aussage des Autohauses und der Feststellungen des OLG Hamm war die Beseitigung des Mangels technisch nicht möglich, sodass sich die Entbehrlichkeit der Fristsetzung bereits aus § 326 Abs. 5 BGB ergibt. Auf die Frage, ob sich die Entbehrlichkeit der Fristsetzung auch aus § 440 S. 1 BGB ergibt, wonach es der Fristsetzung u.a. dann nicht bedarf, wenn die Nacherfüllung (hier: Mängelbehebung) für den Käufer unzumutbar ist, kommt es daher nicht an.
Exkurs: Käme es auf die Kriterien des § 440 BGB an, wären für die Beurteilung, ob die Nacherfüllung für den Käufer unzumutbar ist, alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Zuverlässigkeit des Verkäufers (vgl. BT-Drucks. 14/6040, S. 233 f.), diesem vorzuwerfende Nebenpflichtverletzungen (BT-Drucks. 14/6040, S. 223) oder der Umstand, dass der Verkäufer bereits bei dem ersten Erfüllungsversuch, also bei Übergabe, einen erheblichen Mangel an fachlicher Kompetenz hat erkennen lassen (Erman/Grunewald, BGB, § 440 Rn. 3; Palandt/Weidenkaff, BGB, § 440 Rn. 8; BeckOK-BGB/Faust, § 440 Rn. 37) und das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien nachhaltig gestört ist (BGH NJW 2015, 1669). Zum anderen wäre eine Fristsetzung wegen § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB entbehrlich, da in den Äußerungen des Autohauses eine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung gesehen werden kann.
Das Rücktrittsrecht ist aber ausgeschlossen, wenn es sich um eine nur unerhebliche Pflichtverletzung handelt. Denn gem. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB berechtigt eine nur unerhebliche Pflichtverletzung nicht zum Rücktritt. Mit dieser Regelung soll der Verkäufer vor gravierenden wirtschaftlichen Folgen bewahrt werden, die mit der Rückabwicklung von Verträgen verbunden sind. Hierin ist keine unzumutbare Belastung des Käufers zu sehen, da diesem ja uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf die Schwere des Mangels das Minderungsrecht gem. §§ 437 Nr. 2 Var. 2, 441 BGB zusteht.
Bei der Frage, wann eine Pflichtverletzung "nicht nur unerheblich" ist, ist nach nach BGH (NJW 2014, 3229) das Verhältnis zwischen Beseitigungsaufwand und Kaufpreis entscheidet. Grundlage der Feststellung sei eine im Rahmen der Einzelfallumstände vorzunehmende Interessenabwägung: "Der Mangel ist nicht unerheblich, wenn der Mängelbeseitigungsaufwand einen Betrag von 5% des Kaufpreises überschreitet. Von einem geringfügigen Mangel, der zwar den Rücktritt, nicht aber die übrigen Gewährleistungsrechte ausschließt, kann hingegen in der Regel noch gesprochen werden, wenn der Mängelbeseitigungsaufwand die flexible Schwelle von 5% des Kaufpreises nicht übersteigt".
Ob der Mängelbeseitgungsaufwand in Bezug auf die fehlenden Orientierungslinien in einer Rückfahrkamera die Bagatellschwelle von 5% des Kaufpreises überschreitet, müsste sicherlich verneint werden, wenn es eine Frage der Einstellungen des Computersystems wäre. Vorliegend ist die Funktion aber nicht einstellbar, da das System sie nicht vorsieht. Bei einem unbehebbaren Mangel kann es auf die 5%-Schwelle des BGH nicht ankommen. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB greift nicht.
Zwischenergebnis:
Die nach § 323 Abs. 1 BGB an sich erforderliche Fristsetzung ist wegen § 326 Abs. 5 BGB entbehrlich. K konnte somit gegenüber V den Rücktritt vom Kaufvertrag erklären, ohne zuvor eine Frist zur Mängelbehebung gesetzt haben zu müssen.
Die Rechtsfolgen eines wirksamen Rücktritts bestimmen sich nach §§ 346 ff. BGB. Gemäß § 346 Abs. 1 BGB sind die jeweils empfangenen Leistungen zurückzugewähren. V hat daher K den Kaufpreis zu erstatten. Umgekehrt muss K dem V den Wagen herausgeben (d.h. zurückgeben und zurückübereignen).
Tritt der Käufer vom Vertrag zurück, muss er ggf. Wertersatz leisten (= ersparte Aufwendungen ersetzen), § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB. K muss sich also den Nutzen, den er hatte, anrechnen lassen. Bei Kfz hängt die Nutzungsentschädigung nach dem BGH (BGHZ 115, 47, 51 f.; bestätigt in NJW 2014, 2435, 2436) vom Bruttokaufpreis, der erwarteten Gesamtlaufleistung und den gefahrenen Kilometern ab. Es ergibt sich die folgende Berechnungsformel:
Nutzungsentschädigung = Kaufpreis x gefahrene Kilometer / (zu erwartende Restlaufleistung - KM-Stand bei Kauf).
Das OLG Hamm nahm im vorliegenden Fall eine Nutzungsentschädigung i.H.v. 15.000 € an, was in Ermangelung näherer Feststellungen nicht in Frage gestellt werden kann.
Ergebnis:
K hat also einen Anspruch auf Erstattung des Kaufpreises i.H.v. 77.500 € abzgl. einer Nutzungsentschädigung i.H.v. 15.000 € (im Ergebnis also einen Anspruch auf Zahlung von 62.500 €) Zug um Zug gegen Rückgabe des Wagens. Das mag zwar aus Sicht des Autohauses gerade mit Blick darauf, dass lediglich keine Orientierungslinien im Display angezeigt werden, unverhältnismäßig sein, ist aber Resultat der gesetzlichen Systematik und der "Zurechnung" der Prospektangaben des Herstellers. Immerhin hat das Autohaus einen Regressanspruch gegen den Hersteller, § 478 BGB. Dem Urteil des OLG Hamm ist daher aus juristischer Sicht beizupflichten, wenngleich im Ergebnis ein gewisses Unbehagen verbleibt.
R. Schmidt
(15.2.2016)