Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
an dieser Stelle möchte ich aktuelle Entwicklungen in Form von Gesetzesnovellen und Urteilsanmerkungen aufzeigen und gleichzeitig Inhalte meiner Bücher aktualisieren. Für das Jahr 2018 werden bislang folgende Themen behandelt (Thema bitte durch Anklicken
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- Zivilrecht: Zur Frage, ob die Ehefrau der Kindsmutter (allein) aufgrund der Ehe Mitelternteil des Kindes wird (18.11.2018)
- Zivilrecht: Zum Anspruch eines Neuwagenkäufers auf Ersatzlieferung eines mangelfreien Fahrzeugs (keine Gestaltungswirkung der gewählten Nacherfüllungsart) (28.10.2018)
- Zivilrecht: Zur Frage nach der Wirksamkeit von "Leihmutterverträgen" (29.8.2018)
- Zivilrecht: Haftung bei Gefälligkeiten? (1.8.2018)
- Strafprozessrecht/Strafverfahrensrecht: Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit auch außerhalb einer Vernehmung (18.7.2018)
- Zivilrecht: Zur Verwertbarkeit von Dashcam-Aufzeichnungen in „Unfallhaftpflichtprozessen" unter Berücksichtigung der Datenschutzgrundverordnung DSGVO (19.5.2018)
- Öffentliches Recht: Zur Frage nach der Erstattung von Kosten für die Unterbringung eines verwilderten Hundes unter dem Aspekt der öffentlich-rechtlichen GoA (5.5.2018)
- Zivilrecht: Zulässigkeit der Verbreitung ungenehmigter Filmaufnahmen aus "Bio-Hühnerställen" (11.4.2018)
- Strafrecht: Gerechtfertigter Hausfriedensbruch bei Tierschützern, die in Ställe eingedrungen waren, um dort Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen zu filmen (25.3.2018)
- Zivilrecht: Internetbewertungsportale – Anspruch auf Löschung von Bewertungen oder gar des Profils? (22.2.2018)
- Zivilrecht: Neuregelung des kaufrechtlichen Nacherfüllungsanspruchs zum 1.1.2018 (1.1.2018)
18.11.2018: Zur Frage, ob die Ehefrau der Kindsmutter (allein) aufgrund der Ehe Mitelternteil des Kindes wird
BGH, Beschluss v. 10.10.2018 – XII ZB 231/18
Mit Beschluss v. 10.10.2018 hat der XII. Zivilsenat des BGH (XII ZB 231/18) über die Frage entschieden, ob die Ehefrau der das Kind gebärenden Mutter (allein) aufgrund der bestehenden Ehe als weiterer Elternteil des Kindes in das Geburtenregister einzutragen ist. Er hat dies verneint, weil die bei verschiedengeschlechtlichen Ehepaaren geltende Abstammungsregelung des § 1592 Nr. 1 BGB bei gleichgeschlechtlichen Ehepaaren nicht gelte und auch eine analoge Anwendung der Vorschrift nicht in Betracht komme.Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Nach der Legaldefinition in § 1591 BGB ist Mutter die Frau, die das Kind geboren hat. Die Vorschrift knüpft damit an den Grundsatz: "mater semper certa est" (sinngemäß: die Mutter ist immer gewiss) an, der auch in Zeiten von Eizellspende und Leihmutterschaft die Geburt als äußeres Beweiszeichen ansieht. Bei der Vaterschaft fehlt es an einem solchen sicheren Beweiszeichen. Denn die Geburt als äußeres Beweiszeichen für die Mutterschaft sagt nichts über die Vaterschaft aus. Eine (automatische) Zuordnung zum genetischen Vater hat die Rechtsordnung nicht vorgenommen. Die Vaterschaft muss daher juristisch bestimmt werden. Regelungen treffen die §§ 1592-1600d BGB. Ausgangslage ist § 1592 BGB, der drei Zurechnungsgründe nennt. Danach ist Vater eines Kindes,
wer zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1),
wer die Vaterschaft anerkannt hat (Nr. 2) oder
dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3).
Gemäß § 1592 Nr. 1 BGB ist Vater eines Kindes, wer im Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder war. Bei dieser Regelung handelt es sich um eine gesetzliche Vermutung der Vaterschaft des Ehemanns, die immer dann eingreift, wenn im Zeitpunkt der Geburt des Kindes eine Ehe mit der Mutter bestanden hat. Mit dieser Regelung greift der Gesetzgeber den römischen Rechtsgrundsatz: "pater est, quem nuptiae Demonstrant" (Vater ist, wer durch die Heirat als solcher erwiesen ist) auf, um den Status des während der Ehe geborenen Kindes auf eine verlässliche Grundlage zu stellen: Unabhängig davon, wer aus biologischer (d.h. genetischer) Sicht Vater ist, gilt juristisch als Vater, wer zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet ist (siehe R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 469).
Für gleichgeschlechtliche Ehepartner (hier: die Ehefrau der Kindsmutter) greift § 1592 Nr. 1 BGB ausweislich seines Wortlauts jedenfalls nicht direkt, was die Frage nach einer analogen Anwendung aufwirft. Diese Frage war Gegenstand der BGH-Entscheidung, der folgender Sachverhalt
zugrunde lag (leicht abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): Die Kindsmutter und die Antragstellerin (deren heutige Ehefrau) lebten seit Mai 2014 in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Nach Einführung der "Ehe für alle" (siehe dazu ausführlich R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 20a ff.) schlossen sie am 12.10.2017 durch Umwandlung dieser Lebenspartnerschaft die Ehe. Am 3.11.2017 wurde das Kind geboren, das aufgrund gemeinsamen Entschlusses der beiden Frauen durch medizinisch assistierte künstliche Befruchtung mit Spendersamen einer Samenbank gezeugt worden war. Im Geburtenregister wurde die Mutter eingetragen, nicht aber ihre Ehefrau als weiterer Elternteil. Diese beantragte daraufhin beim Standesamt, den Geburtseintrag dahingehend zu berichtigen, dass sie als weitere Mutter aufgeführt werde. Der Antrag blieb jedoch erfolglos. Daraufhin erhob die Ehefrau Klage beim Familiengericht. Dieses gab der Klage statt und wies den Standesbeamten an, sie "als weiteren Elternteil bzw. als weitere Mutter" einzutragen. Auf die hiergegen vom Standesamt und der Standesamtsaufsicht eingelegten Beschwerden hat das Oberlandesgericht den familiengerichtlichen Beschluss aufgehoben und den Antrag der Ehefrau zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Rechtsbeschwerde der Antragstellerin vor dem BGH blieb ebenfalls erfolglos.
Die Entscheidung
des BGH: Der BGH hat entschieden, dass die Ehefrau der Kindsmutter nicht mit der Geburt rechtlicher Elternteil des Kindes geworden sei. Die allein in Betracht zu ziehende Elternstellung gemäß oder entsprechend § 1592 Nr. 1 BGB scheide aus, weil diese Vorschrift weder unmittelbar noch analog auf die Ehe zweier Frauen anwendbar sei. Mit dem am 1.10.2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.7.2017 ("Ehe für alle") habe der Gesetzgeber zwar die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt, jedoch das Abstammungsrecht (noch) nicht geändert. Die direkte Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB komme bereits deshalb nicht in Betracht, weil die Norm nach ihrem klaren Wortlaut allein die Vaterschaft regele und diese aufgrund einer widerlegbaren Vermutung einem bestimmten Mann zuweise. Die Abstammungsregeln der §§ 1591 ff. BGB hätten nach wie vor die Eltern-Kind-Zuordnung zu einer Mutter und einem Vater zum Gegenstand. Das Gesetz nehme ausgehend davon, dass ein Kind einen männlichen und einen weiblichen Elternteil habe, eine Zuordnung des Kindes zu zwei Elternteilen unterschiedlichen Geschlechts vor. Die Vorschrift sei auch nicht entsprechend (d.h. analog) anwendbar, weil die Voraussetzungen für eine Analogie nicht vorlägen. Das Gesetz weise schon keine planwidrige Regelungslücke zu der Frage einer Mitelternschaft bei gleichgeschlechtlichen Ehepaaren auf. Zwar sei richtig, dass der Gesetzgeber mit der "Ehe für alle" bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität habe beenden und hierzu rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechterstellen, habe beseitigen wollen. Er habe aber bislang von einer Reform des Abstammungsrechts bewusst Abstand genommen, wie der Umstand belege, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz einen Arbeitskreis eingesetzt habe, der eine umfassende Reform des Abstammungsrechts habe vorbereiten sollen und sich dabei auch intensiv mit der Frage gleichgeschlechtlicher Elternschaft befasst habe. Dieser habe seinen Abschlussbericht am 4.7.2017 und damit wenige Tage vor Erlass des Gesetzes zur "Ehe für alle" vorgelegt, sodass der Bericht nicht mehr in das Gesetz zur Neuregelung der Ehe vom 20.7.2017 habe einfließen können. Daneben fehle es auch an der für eine entsprechende Anwendung erforderlichen Vergleichbarkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe zweier Frauen mit der von § 1592 Nr. 1 BGB geregelten Elternschaft des mit der Kindsmutter verheirateten Mannes. Denn die Vaterschaft kraft Ehe beruhe darauf, dass diese rechtliche Eltern-Kind-Zuordnung auch die tatsächliche Abstammung regelmäßig abbilde. Die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende widerlegbare Vermutung der Vaterschaft sei für die mit der Kindsmutter verheiratete Frau dagegen keinesfalls begründet.
Die bestehende Rechtslage verstoße auch nicht gegen das Grundgesetz oder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Insbesondere stelle es keine (ungerechtfertigte) Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 I GG dar, dass die Ehefrau der Kindsmutter anders als ein Ehemann nicht allein aufgrund der bei Geburt bestehenden Ehe von Gesetzes wegen rechtlicher Elternteil des Kindes sei. Vielmehr sei die Situation insoweit verschieden, als die Ehefrau rein biologisch nicht leiblicher Elternteil des Kindes sein könne. Dieser Unterschied rechtfertige die im Rahmen des Abstammungsrechts nach wie vor bestehende abweichende Behandlung von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Ehepaaren und deren Kindern. Der Ehefrau einer Kindsmutter bleibe daher jedenfalls bis zu einer gesetzlichen Neuregelung nur die Möglichkeit einer Adoption nach § 1741 II S. 3 BGB, um in die rechtliche Elternstellung zu gelangen.
Bewertung:
Handelt es sich bei den Ehepartnern um zwei Frauen und gebärt eine der beiden Frauen (durch natürliche oder künstliche Befruchtung) ein Kind, stellt sich - wie der BGH zu Recht aufzeigt - die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis des Kindes zur Ehepartnerin der Mutter. § 1592 Nr. 1 BGB greift jedenfalls nicht direkt, da die Vorschrift allein die Vaterschaft regelt und die Ehefrau der Mutter nicht "Vater" sein kann. Eine analoge Anwendung lehnt der BGH - wie aufzeigt - ab. Folgt man dem, wäre mit dem BGH tatsächlich nur an eine Adoption zu denken, wobei aber jedenfalls weder eine Einzeladoption noch eine Stiefkind- oder Sukzessivadoption in Betracht kommen:
Während eine Einzeladoption nur unverheirateten Personen möglich ist (§ 1741 II S. 1 BGB), muss für eine Stiefkindadoption der eine Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung leiblicher Vater/leibliche Mutter eines Kindes sein, das dann der andere, adoptionswillige Ehegatte annehmen kann (§§ 1741 II S. 3, 1749 I S. 1 BGB – dazu R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 597). Die Annahme eines nach der Eheschließung geborenen Kindes ist danach also - entgegen dem BGH - nicht möglich. Denn § 1741 II S. 3 BGB knüpft - wie aufgezeigt - an den Umstand an, dass der Ehepartner des Adoptivwilligen bereits vor der Eheschließung leiblicher Elternteil war. § 1741 II S. 3 BGB passt also schlicht nicht für die vorliegende Konstellation (a.A. der BGH).
Es scheidet aber auch eine Sukzessivadoption aus: Zum einen betrifft sie nur den Fall, dass der Ehegatte das bereits zuvor vom anderen Ehegatten adoptierte Kind annimmt, und zum anderen muss das vom anderen Ehegatten adoptierte Kind bereits vor der Eheschließung angenommen worden sein, wie sich aus § 1742 BGB ergibt – dazu ebenfalls R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 597). Nichts von dem trifft auf die vorliegende Konstellation zu.
Selbst wenn man die vom BGH für möglich gehaltene Adoption nach § 1741 II S. 3 BGB in Erwägung zieht, ist Voraussetzung, dass das (sozial zu verstehende) Eltern-Kind-Verhältnis zwischen dem Annehmenden und dem Kind entweder bereits besteht oder die ernsthafte Aussicht seiner Entstehung vorhanden ist. Das darüber entscheidende Familiengericht darf die Annahme erst aussprechen, wenn nach seiner Überzeugung diese Voraussetzungen feststehen (BT-Drs. 7/5087, S. 9). Um Fehlentscheidungen zu vermeiden, soll die Annahme als Kind i.d.R. erst ausgesprochen werden, wenn der Annehmende das Kind eine angemessene Zeit in Pflege gehabt hat (§ 1744 BGB). Weiterhin muss das Gericht bei seiner Entscheidung über das Vorliegen der Adoptionsvoraussetzungen alle (sonstigen) wesentlichen Umstände berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere die Eignung des Bewerbers. Zu berücksichtigen sind: Alter und körperliche Leistungsfähigkeit, seelische Belastbarkeit, Charakter, Wohnungs- und Vermögensverhältnisse, berufliche und gesellschaftliche Stellung, Erziehungsfähigkeit und -willigkeit, Vorhandensein weiterer Kinder, Intaktheit der Ehe und sonstige (besondere) Eigenschaften.
Auf das alles kommt es aber nicht an, wenn ein Fall des § 1592 Nr. 1 BGB vorliegt. Denn dann besteht eine Elternschaft kraft Gesetzes ohne weitere Voraussetzungen. Eine direkte Anwendung kommt - wie aufgezeigt - allerdings nicht in Betracht, da die Ehefrau der Kindsmutter nicht Vater sein kann. Daher ist an eine analoge Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB
zu denken (siehe bereits R. Schmidt, Familienrecht, 9. Auflage 2018, Rn. 462o und nunmehr auch BGH 10.10.2018 - XII ZB 231/18). Dazu müssten die Voraussetzungen einer Analogie vorliegen. Diese sind:
Bestehen einer Regelungslücke (d.h. einer Unvollständigkeit im Gesetz),
Bestehen einer Interessenlage, die es gebietet, die Lücke bzw. Unvollständigkeit i.S. der vorhandenen Regelung zu schließen (Interessengleichheit),
Planwidrigkeit der Regelungslücke (d.h. eine versehentliche Unvollständigkeit im Gesetz)
(vgl. dazu auch BGHZ 105, 140, 143; 120, 239, 251 f.; 149, 165, 174; BGH NJW 2003, 1932, 1933; NJW 2016, 2502, 2503; ferner Koch, NJW 2016, 2461, 2463; Kuhn, JuS 2016, 104; R. Schmidt, BGB AT, 17. Auflage 2018, Rn. 40).
Eine Regelungslücke
besteht. Auch das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts v. 20.7.2017 hat die vorliegende Konstellation nicht erfasst. Insoweit ist dem BGH Recht zu geben. Anders als der BGH meint, besteht jedoch durchaus eine Interessenlage, die es gebietet, die Lücke bzw. Unvollständigkeit i.S. der vorhandenen Regelung (hier: § 1592 Nr. 1 BGB) zu schließen. Denn lässt man die Ehe zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts (hier: zwei Frauen) zu und gebärt eine der beiden Frauen während der Ehe ein Kind, gebieten es sowohl die Interessen der Ehepartner als auch die des Kindes, dass eine juristische Elternschaft zu beiden Elternteilen unter denselben Voraussetzungen besteht, wie das bei einer Vaterschaft gem. § 1592 Nr. 1 BGB der Fall wäre. Der vom BGH vorgenommene Verweis auf die Adoptionsmöglichkeit nach § 1741 II S. 3 BGB (falls eine solche überhaupt besteht, s.o.) erscheint angesichts des zum Zeitpunkt der Geburt bereits bestehenden Eheverhältnisses zur Kindsmutter für die Beteiligten nicht zumutbar. Die Interessenlage ist dieselbe wie bei heterosexuellen Ehepaaren. Schließlich ist die vorhandene Regelungslücke auch planwidrig. Insbesondere ergeben sich aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6665, S. 7 f.) keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber der Ehefrau der Kindsmutter bewusst die Elternschaft verwehren wollte. Selbst wenn man mit dem BGH ein plangemäßes Unterlassen (d.h. einen absichtsvollen Regelungsverzicht) annimmt, ist dem mit Blick auf den übergeordneten Verfassungskreis keine Beachtung zu schenken. Es stellt nicht nur eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 II GG dar, sondern auch eine Diskriminierung wegen des Geschlechts (siehe Art. 3 III S. 1 GG), wenn der Ehemann der Kindsmutter kraft Gesetzes Elternteil wird und die Ehefrau der Kindsmutter auf den (ungewissen) Adoptionsweg verwiesen wird. Und selbst wenn man den Adoptionsweg als einigermaßen risikolos betrachtet, so stellt doch allein die Auferlegung dieses Verfahrens eine Diskriminierung dar. Entgegen der Auffassung des BGH liegt daher auch ein Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens gem. Art. 8 I EMRK und das Diskriminierungsverbot gem. Art. 14 EMRK vor (siehe dazu auch EGMR NJW 2011, 1421). Nach EGMR NJW 2013, 2173 diskriminiert die fehlende Möglichkeit der Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare in Österreich diese im Vergleich zu unverheirateten heterosexuellen Paaren und verstößt gegen Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK. Ein Ausschluss von Stiefkindadoptionen bei gleichgeschlechtlichen Paaren zum Schutz der Familie im traditionellen Sinne oder zum Wohl des Kindes sei nicht notwendig. Daraus folgt, dass der EGMR durchaus geneigt ist, im Sinne gleichgeschlechtlicher Paare zu entscheiden.
Fazit:
Liegen damit die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB vor, wird die mit der Kindsmutter verheiratete Frau zum Zeitpunkt der Geburt juristische Mutter. Terminologisch kann man (in Anlehnung an das norwegische Recht) von "Mitmutter" sprechen.
Von der Zulässigkeit (und Gebotenheit) einer analogen Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB abgesehen, ist selbstverständlich der Gesetzgeber gefordert, das Versäumnis einer gesetzlichen Regelung auszugleichen und eine entsprechende Regelung nachzuholen. Diese könnte etwa durch eine Änderung des § 1591 BGB erfolgen und lauten (siehe bereits R. Schmidt, Familienrecht, 9. Auflage 2018, Rn. 462o):
§ 1591 Mutterschaft
Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat. Mutter eines Kindes ist auch die Frau, die zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist.
R. Schmidt (18.11.2018)
28.10.2018: Zum Anspruch eines Neuwagenkäufers auf Ersatzlieferung eines mangelfreien Fahrzeugs (keine Gestaltungswirkung der gewählten Nacherfüllungsart)
BGH, Urteil v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17
Mit Urteil v. 24.10.2018 hat der VIII. Zivilsenat des BGH (VIII ZR 66/17) über mehrere, bis dahin höchstrichterlich noch nicht geklärte Fragen im Zusammenhang mit dem Gewährleistungsanspruch des Käufers auf (Ersatz-)Lieferung einer mangelfreien Sache gem. § 437 Nr. 1, § 439 BGB entschieden. Insbesondere hat er entschieden, demvom Käufer wegen eines Sachmangels geltend gemachten Anspruch auf Nacherfüllung (§ 437 Nr. 1 BGB) durch Ersatzlieferung einer mangelfreien Sache (§ 439 I Var. 2 BGB) stehe nicht entgegen, dass er zunächst die andere Art der Nacherfüllung, nämlich die Beseitigung des Mangels (§ 439 I Var. 1 BGB), verlangt hat. Denn die Ausübung des Nacherfüllungsanspruchs sei (anders als die Ausübung des Rücktritts- oder Minderungsrechts) gesetzlich nicht als bindende Gestaltungserklärung ausgeformt, sodass der Käufer nicht daran gehindert sei, von der zunächst gewählten Art der Nacherfüllung wieder Abstand zu nehmen und die andere Art der Nacherfüllung zu wählen.
Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Ist die Sache mangelbehaftet, tritt keine Erfüllungswirkung ein. Der Käufer hat einen Anspruch auf Nacherfüllung (§§ 437 Nr. 1, 439 I BGB). Sollte diese nicht möglich oder (für Verkäufer oder Käufer) unzumutbar sein, tritt an die Stelle der Nacherfüllung Minderung des Kaufpreises oder Rücktritt vom Vertrag (§ 437 Nr. 2 BGB). Schadensersatz (§ 437 Nr. 3 BGB) ist daneben ebenfalls möglich, sofern der Schaden nicht schon durch die Minderung oder den Rücktritt abgegolten ist. Diese Rechte setzen allesamt einen Sachmangel (gem. § 434 BGB) voraus (dazu später).
Das genannte Recht auf Nacherfüllung
besteht wiederum aus zwei Varianten, der Lieferung einer mangelfreien Sache und der Beseitigung des Mangels (§§ 437 Nr. 1, 439 I BGB). Der Käufer hat ein Wahlrecht (vgl. § 439 I BGB: „...nach seiner Wahl“). Eine Beschränkung des Wahlrechts (etwa durch AGB) ist grds. unzulässig (vgl. § 309 Nr. 8 b) bb) BGB), weil eine solche die gesetzgeberische Entscheidung unterliefe. Der Käufer kann also grds. frei wählen, ob er die Sache repariert haben möchte oder lieber eine mangelfreie Nachlieferung gegen Tausch seiner (defekten) Sache haben möchte. Hat sich der Käufer für eine Form der Nacherfüllung (Reparatur oder Ersatz) entschieden, kann der Verkäufer nur dann die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung ablehnen, wenn diese unmöglich ist oder nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten zu leisten ist und angesichts der Interessen des Käufers sowie des Wertes der Kaufsache die andere Form der Nacherfüllung dem Käufer zumutbar ist. Fraglich ist allein, ob der Käufer an die von ihm gewählte Art der Nacherfüllung gebunden ist oder er nachträglich noch zur anderen Art wechseln kann. Diese Frage war Gegenstand der BGH-Entscheidung.
Dieser lag folgender Sachverhalt
zugrunde (abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): Im August 2018 hatte die K-GmbH, vertreten durch K, beim Autohaus A-GmbH, vertreten durch A, ein Neufahrzeug des Typs Sport Luxury als Dienstwagen erworben, das Anfang September geliefert wurde. Der Kaufpreis betrug 42.000 €. Das Fahrzeug ist mit einem Schaltgetriebe sowie einer Software ausgestattet, die bei drohender Überhitzung der Kupplung eine Warnmeldung einblendet. Ab Anfang Oktober zeigte das Multifunktionsdisplay mehrfach eine Warnmeldung, die den Fahrer aufforderte, das Fahrzeug vorsichtig anzuhalten, um die Kupplung (bis zu 45 Minuten) abkühlen zu lassen. Trotz mehrerer Werkstattaufenthalte ergab sich keine Besserung. A hat auch einen Mangel in Abrede gestellt. Man habe K mehrfach mitgeteilt, dass die Kupplung technisch einwandfrei sei und auch im Fahrbetrieb abkühlen könne; es sei deshalb nicht notwendig, das Fahrzeug anzuhalten, wenn die Warnmeldung der Kupplungsüberhitzungsanzeige erscheine. Nachdem diese Warnmeldung auch anschließend aufgetreten war, stellte K Ende Oktober das Fahrzeug auf dem Betriebshof der A-GmbH ab und verlangte die Lieferung eines mangelfreien Ersatzfahrzeugs, was A mit dem Argument der Unverhältnismäßigkeit ablehnte. Zudem sei inzwischen ein Softwareupdate verfügbar, das man mittlerweile auch aufgespielt habe, wodurch der Mangel beseitigt worden sei.
Lösung:
Der geltend gemachte Anspruch auf Nachlieferung könnte sich aus §§ 437 Nr. 1, 439 I Var. 2 BGB ergeben. Ein wirksamer Kaufvertrag, der Grundlage für Gewährleistungsrechte ist, liegt vor. Es müsste aber auch ein Sachmangel
vorgelegen haben. Ganz allgemein gesprochen ist jede für den Käufer negative Abweichung des Ist-Zustands vom Soll-Zustand ein Sachmangel. Nach der gesetzlichen Systematik des § 434 BGB ist bei der Mangelfeststellung nach einer ganz bestimmten Stufenfolge vorzugehen. So ist nach § 434 I S. 1 BGB die Sache nur dann frei von Sachmängeln („Fehlern“), wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. Während unter „Gefahrübergang“ der Zeitpunkt der Übergabe gem. § 446 BGB zu verstehen ist, bedeutet Beschaffenheitsvereinbarung die auf Vorstellungen der Parteien beruhende Vereinbarung über die Beschaffenheit oder den Verwendungszweck der gekauften Sache. Weicht die objektive Beschaffenheit von der vereinbarten ab, liegt ein Sachmangel vor (= subjektiver Fehlerbegriff). Bei einem Neuwagenkauf versteht es sich von selbst, dass der Käufer ein fabrikneues, ungenutztes und mangelfreies Fahrzeug erwarten kann. Die Kupplung selbst arbeitet vorliegend jedoch fehlerfrei. Insoweit liegt also kein Mangel vor. Allerdings gehört zur Beschaffenheit eines Neufahrzeugs auch, dass keine Falschmeldungen im Display erscheinen. Auch dahin geht die Beschaffenheitsvereinbarung hinsichtlich eines Neufahrzeugs. In jedem Fall aber greift § 434 I S. 2 Nr. 2 BGB, wonach eine Sache (nur dann) frei von Sachmängeln ist, wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet und so beschaffen ist, wie dies bei gleichartigen Sachen üblich ist und wie der Käufer dies nach der Art der Sache erwarten kann. Der Käufer eines Neufahrzeugs darf erwarten, dass nur korrekte Warnmeldungen angezeigt werden. An dieser Beurteilung als Sachmangel ändert sich auch dann nichts – wie der BGH zu Recht formuliert –, wenn der Verkäufer dem Käufer mitteilt, es sei nicht notwendig, die irreführende Warnmeldung zu beachten. Denn wie aufgezeigt hat der Käufer eines Neufahrzeugs die berechtigte Erwartung, nur zutreffende Warnmeldungen zu erhalten. Dieser Mangel lag schließlich zum Zeitpunkt der Übergabe, also des Gefahrübergangs gem. § 446 BGB, vor.
Liegt danach ein Sachmangel vor, richten sich die Rechte der Käufers nach § 437 BGB. Der Käufer hat zunächst einen Anspruch auf Nacherfüllung. Dieser Anspruch besteht aus zwei Varianten, der Lieferung einer mangelfreien Sache und der Beseitigung des Mangels (§§ 437 Nr. 1, 439 I BGB). Hat sich der Käufer für eine Form der Nacherfüllung (Reparatur oder Ersatz) entschieden, kann der Verkäufer nur dann die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung ablehnen, wenn diese unmöglich oder unzumutbar ist (siehe oben). Ob das vorliegend angenommen werden kann, braucht nicht entschieden zu werden, wenn bereits der Wechsel von der Nachbesserung zur Nachlieferung ausgeschlossen ist.
Fraglich ist daher, ob der Käufer an die von ihm gewählte Art der Nacherfüllung gebunden ist. Bezüglich des Rücktritts und der Minderung ist zunächst klar, dass ein Wechsel vom Rücktritt zur Minderung nicht möglich ist, da mit dem Rücktritt rechtsgestaltend ein Rückgewährschuldverhältnis eingeleitet wird. Was die Frage nach einem Wechsel vom bereits erklärten Minderungsrecht zum Rücktritt betrifft, hat der BGH entschieden, dass auch dies nicht möglich ist. Auch die mangelbedingte Minderung des Kaufpreises sei vom Gesetzgeber als Gestaltungsrecht ausgeformt worden. Mit der Ausübung des Minderungsrechts habe der Käufer von seinem Gestaltungsrecht Gebrauch gemacht. Der Käufer sei daher daran gehindert, hiervon wieder Abstand zu nehmen und stattdessen wegen desselben Mangels auf großen Schadensersatz überzugehen und unter diesem Gesichtspunkt Rückgängigmachung des Kaufvertrags zu verlangen (BGH 9.5.2018 – VIII ZR 26/17 unter Verweis auf BT-Drs. 14/6040, S. 221, 223, 234 f.).Da der große Schadensersatz wie der Rücktritt eine Rückabwicklung des Kaufvertrags zur Folge hat und damit ausscheidet, wenn der Käufer durch Kaufpreisminderung das Äquivalenzinteresse wiederherstellen möchte, dürfte in Bezug auf das Verhältnis Minderung/Rücktritt nichts anderes gelten.
In Bezug auf die Nacherfüllung hat der BGH jedoch keine Gestaltungswirkung angenommen. Er hat entschieden, dem vom Käufer wegen eines Sachmangels geltend gemachten Anspruch auf Nacherfüllung (§ 437 Nr. 1 BGB) durch Ersatzlieferung einer mangelfreien Sache (§ 439 I Var. 2 BGB) stehe nicht entgegen, dass er zunächst die andere Art der Nacherfüllung, nämlich die Beseitigung des Mangels (§ 439 I Var. 1 BGB), verlangt hat. Denn die Ausübung des Nacherfüllungsanspruchs sei (anders als die Ausübung des Rücktritts- oder Minderungsrechts) gesetzlich nicht als bindende Gestaltungserklärung ausgeformt, sodass der Käufer nicht daran gehindert sei, von der zunächst gewählten Art der Nacherfüllung wieder Abstand zu nehmen und die andere Art zu wählen.
Folgt man dem, war also K nicht an seine ursprüngliche Wahl (Nachbesserung) gebunden und durfte nachträglich zur Nachlieferung wechseln. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass der Anspruch auf Nachlieferung auch begründet ist. Denn gem. § 439 IV S. 1 BGB kann der Verkäufer – unbeschadet des § 275 II, III BGB – die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung verweigern
(Einrede des Verkäufers), wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten
möglich ist. Genau dies macht A geltend, indem er meint, die von K gewählte Art der Nacherfüllung (Lieferung eines Ersatzfahrzeugs) würde im Vergleich zur anderen Art (Aufspielen eines Softwareupdates) unverhältnismäßige Kosten verursachen. Ob eine solche relative Unverhältnismäßigkeit
besteht, ist aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung und Würdigung aller maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen (so der BGH). Dabei sind gem. § 439 IV S. 2 BGB insbesondere der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand, die Bedeutung des Mangels und die Frage zu berücksichtigen, ob auf die andere Art der Nacherfüllung ohne erhebliche Nachteile für den Käufer zurückgegriffen werden könnte.
Dass die Kosten einer Ersatzlieferung (Lieferung eines Ersatzwagens) deutlich höher sind als die Kosten der Nachbesserung durch ein Softwareupdate, liegt auf der Hand. Jedoch hat der BGH die Auffassung des Berufungsgerichts bestätigt, dass dem Mangel erhebliche Bedeutung (§ 439 IV S. 2 BGB) zukomme, weil er die Gebrauchsfähigkeit des Fahrzeugs spürbar einschränke. Insoweit sei wiederum ohne Einfluss, dass A die Einblendung der irreführenden Warnmeldung durch das Aufspielen einer korrigierten Software beseitigt hat. Denn für die Beurteilung der relativen Unverhältnismäßigkeit der gewählten Art der Nacherfüllung sei grundsätzlich der Zeitpunkt des Zugangs des Nacherfüllungsverlangens maßgebend.
Allerdings hat der BGH zu Recht darauf hingewiesen, dass nach § 439 IV S. 2 BGB der Verkäufer die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung durchaus verweigern darf, wenn die vom Verkäufer vorgenommene Beschränkung der Nacherfüllung keine erheblichen Nachteile für den Käufer mit sich bringt. Wenn vorliegend also der Mangel vollständig, nachhaltig und fachgerecht beseitigt werden kann, liegt in der Beschränkung der Nacherfüllung auf die Variante der Nachbesserung kein erheblicher Nachteil für K. Insofern hat der BGH die Sache zwecks Beweisaufnahme zurückverwiesen.
Ergebnis:
Geht man davon aus, dass die Falschmeldung durch ein Softwareupdate tatsächlich behoben worden ist, war der Wechsel des K von der Nachbesserung zur Nachlieferung wegen relativer Unverhältnismäßigkeit für A ausgeschlossen. Der BGH-Entscheidung ist mithin zuzustimmen.
Weiterführender Hinweis:
Ist damit höchstrichterlich geklärt, dass der Käufer von der zunächst gewählten Mangelbeseitigung wieder Abstand nehmen und zur Nachlieferung wechseln kann (das war die Konstellation der BGH-Entscheidung), stellt sich die Frage, ob das (zwingend) auch umgekehrt gilt, ob also der Käufer auch von der zunächst gewählten Nachlieferung Abstand nehmen und zur Mangelbeseitigung wechseln darf.
Dafür spricht die Formulierung des BGH: „…sodass der Käufer nicht daran gehindert ist, von der zunächst gewählten Art der Nacherfüllung wieder Abstand zu nehmen und die andere Art zu wählen“. Nach dieser offenen Formulierung wäre ein Wechsel von der Nachlieferung zur Nachbesserung also möglich.
Dagegen spricht die der BGH-Entscheidung zugrunde liegende Fallkonstellation, in der es um einen Wechsel von der Nachbesserung zur Nachlieferung ging. Es ist daher ungewiss, ob der BGH einen Wechsel auch zugelassen hätte, wenn es um einen Wechsel von der Nachlieferung zur Nachbesserung gegangen wäre. Denn hier ist die Interessenlage durchaus anders, etwa, wenn der Verkäufer bereits eine Ersatzsache bestellt oder eingekauft hat und der Käufer es sich dann anders überlegt und plötzlich Nachbesserung verlangt.
Beispiel: K kauft im Elektronikfachmarkt des V einen neuen Laptop. Nach einigen Tagen tritt ein (irreparabler) Defekt am Bildschirm auf. K verlangt Nacherfüllung in Form der Nachlieferung. Dann aber wird ihm bewusst, dass der Transfer verschiedener nachträglich erworbener und installierter Programme auf einen neuen Laptop recht mühsam wäre. Daher entscheidet er sich um und verlangt nunmehr Nachbesserung, d.h. Austausch des Monitor-Bauteils.
Lösung: Unter Zugrundelegung der offenen BGH-Formulierung wäre es zulässig, wenn K von seiner ursprünglichen Wahl (Nachlieferung) „zurückträte“ und nachträglich zur Nachbesserung wechselte. Dem könnte V dann lediglich die Unverhältnismäßigkeit gem. § 439 Abs. 4 S. 1 BGB entgegenhalten, wenn er bspw. ein Ersatzgerät bei seinem Lieferanten bestellt hätte und dieses nicht mehr ohne weiteres zurückgeben könnte.
R. Schmidt
(28.10.2018)
Zur Frage nach der Wirksamkeit von „Leihmutterverträgen“
Zugleich Buchauszug und Leseprobe aus R. Schmidt, FamR, 10. Aufl. 2018, Rn. 472 ff.
Nach der Legaldefinition in § 1591 BGB ist Mutter die Frau, die das Kind geboren hat. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick selbstverständlich, geradezu banal sein, sodass sich die Frage stellt, warum der Gesetzgeber sich veranlasst sah, die Mutterschaft legalzudefinieren. Bei hintergründiger Betrachtung wird jedoch deutlich, dass § 1591 BGB durchaus eine wichtige Aussage trifft. Denn der Grundsatz: „mater semper certa est“ (sinngemäß: die Mutter ist immer gewiss), der an die Geburt als äußeres Beweiszeichen anknüpft, kann in Zeiten moderner Fortpflanzungsmedizin, in denen auch „Leihmutterschaft“ und „Ersatzmutterschaft“ medizinisch möglich sind, nicht mehr uneingeschränkte Geltung beanspruchen. Zu klären sind daher diese Begriffe, um der Frage nach der Wirksamkeit von "Leihmutterverträgen" nachgehen zu können.
Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend spricht man von einer Leihmutterschaft, wenn eine Frau, die „Leihmutter“, sich bereiterklärt, ein fremdes Kind auszutragen, zu gebären und es nach der Geburt den „Bestelleltern“, d.h. den Personen, von denen Ei- und Samenzellen stammen, zu überlassen. Juristisch ist der Begriff „Leihmutter“ indes in mehrfacher Hinsicht falsch. Zunächst „verleiht“ die Tragemutter ihren Körper (d.h. ihre Gebärmutter) nicht, da zum einen Gegenstand eines Leihvertrags nur eine Sache (und kein Uterus) sein kann (vgl. § 598 BGB) und zum anderen auch nicht der Besitz am Uterus überlassen wird. Zudem handelte es sich, wenn man schon in Kategorien zivilrechtlicher Gebrauchsüberlassung spricht, um einen Mietvertrag (§ 535 BGB), da – wie regelmäßig – das Austragen gegen Entgelt erfolgt. Schließlich verbietet es schon die Menschenwürde, den Körper wie eine Sache zu behandeln. Das Gesetz verwendet den Begriff „Leihmutter“ auch nicht, sondern spricht ausschließlich von Ersatzmutterschaft und knüpft zudem an spezielle reproduktionsmedizinische Konstellationen an.
Gemäß der Legaldefinition in § 1 I Nr. 7 ESchG ist Ersatzmutter eine Frau, die bereit ist, das aufgrund künstlicher Befruchtung gezeugte oder aufgrund Embryonenspende von ihr ausgetragene Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen. Hauptfall ist der, dass einer Frau (der „Tragemutter“) entweder eine noch nicht befruchtete Eizelle einer anderen Frau eingepflanzt (sog. Eizellspende) und diese dann natürlich oder künstlich befruchtet (inseminiert) wird oder ihr eine bereits natürlich oder künstlich befruchtete Eizelle einer anderen Frau, d.h. ein Embryo (als Embryo gilt gem. § 8 I ESchG die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle. „Befruchtet“ ist die Eizelle nicht bereits dann, wenn ein Spermium in die Eizelle eingedrungen ist (sog. Imprägnation), sondern erst dann, wenn ein Spermium in den Zellkern der Eizelle gelangt ist und sich die jeweiligen Chromosomensätze vereinigt haben (Kernverschmelzung – sog. Konjugation); vgl. dazu Taupitz/Hermes, NJW 2015, 1802 m.w.N.). eingepflanzt wird (sog. Embryonenspende), damit sie das Kind austrägt, gebärt und danach den Wunscheltern überlässt. In diesem Fall ist es somit nicht die Eizelle der Ersatzmutter, aus der das Kind entsteht. Die Ersatzmutter ist in diesem Fall daher nicht die genetische Mutter des Kindes. Genetische und gebärende Mutter sind in diesem Fall personenverschieden („gespaltene“ Mutterschaft). Wegen § 1591 BGB ist jedoch die gebärende Frau die rechtliche Mutter.
Enger ist die Legaldefinition in § 13a AdvermiG. Danach ist Ersatzmutter eine Frau, die (aufgrund einer Vereinbarung) bereit ist
sich einer künstlichen oder natürlichen Befruchtung zu unterziehen (Nr. 1)
oder einen nicht von ihr stammenden Embryo auf sich übertragen zu lassen oder sonst auszutragen (Nr. 2)
und das Kind nach der Geburt Dritten zur Annahme als Kind oder zur sonstigen Aufnahme auf Dauer zu überlassen.
Im Fall des § 13a Nr. 1 AdvermiG ist Ersatzmutter i.S.d. § 13a AdvermiG i.d.R. eine Frau, die sich aufgrund einer vorherigen Vereinbarung mit den „Bestelleltern“ mit dem Samen des Bestellvaters (natürlich oder künstlich) befruchten lässt, das Kind austrägt, gebärt und anschließend der Bestellmutter überlässt. Die Ersatzmutter ist in diesem Fall die genetische und wegen § 1591 BGB auch die rechtliche Mutter des Kindes. Eine „gespaltene“ Mutterschaft, wie dies nach § 1 I Nr. 7 ESchG bzw. § 13a Nr. 2 AdvermiG möglich ist, existiert in diesem Fall also nicht.
Damit erfassen § 1 I Nr. 7 ESchG und § 13a AdvermiG aufgrund ihres Regelungsinhalts sämtliche Konstellationen, in denen eine Frau bereit ist, ein aufgrund künstlicher Befruchtung (auch im Rahmen einer Eizellspende) gezeugtes und von ihr ausgetragenes Kind oder ein aufgrund einer Embryonenspende von ihr ausgetragenes Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen.
Aufgrund der oben dargestellten „gespaltenen“ Mutterschaft war lange Zeit zweifelhaft, wer juristisch als Mutter anzusehen ist, d.h. die Frau, deren Eizelle in den Uterus der anderen Frau eingesetzt wurde, oder die Frau, die das Kind ausgetragen und geboren hat. Der Gesetzgeber hat sich mit der bereits erwähnten, am 1.7.1998 in Kraft getretenen Regelung des § 1591 BGB für die gebärende Mutter entschieden und damit seinen Willen zum Ausdruck gebracht, dass er die psychosoziale und physische Bindung der gebärenden Mutter für gewichtiger erachtet als die genetische Abstammung. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Denn i.d.R. binden Schwangerschaft und Geburt die gebärende Frau und das Kind eng an-einander, sodass die Übernahme von Verantwortung für das Neugeborene am ehesten von der gebärenden Frau statt von der genetischen zu erwarten ist (vgl. Wellenhofer, in: MüKo, § 1591 Rn. 4). Bei einer Ersatzmutterschaft wird man dies aber nicht unbedingt annehmen können, sodass in diesem Fall weniger die psychosoziale und physische Bindung der gebärenden Mutter als die sichere rechtliche Zuordnung (Statusklarheit) das Motiv für die Mutterschaftszuordnung sein dürfte. Eine Mutterschaftsanfechtung ist wegen § 1591 BGB (und nicht gegebener Anfechtungsmöglichkeit) in jedem Fall ausgeschlossen.
Der deutsche Gesetzgeber ist sogar so weit gegangen, dass er die Ersatzmutterschaft verboten und für einige Beteiligte unter Strafe gestellt hat. So macht sich strafbar, wer es unternimmt, bei einer Ersatzmutter eine künstliche Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen (§ 1 I Nr. 7 ESchG). Die Ersatzmutter und die Person, die das Kind auf Dauer bei sich aufnehmen will, sind von der Strafbarkeit ausgenommen (§ 1 III Nr. 2 ESchG). Und wer entgegen § 13c AdvermiG Ersatzmuttervermittlung betreibt, diesbezüglich einen Vermögensvorteil erhält oder sich versprechen lässt oder sogar gewerbs- oder geschäftsmäßig handelt, macht sich gem. § 14b I bzw. II AdvermiG strafbar. Auch von dieser Strafandrohung sind gem. § 14b III AdvermiG die Ersatzmutter und die Bestelleltern ausgenommen.
Die Motive für den Abschluss eines Ersatzmutterschaftsvertrags sind mannigfaltig. Zunächst kommt die „klassische“ Konstellation in Betracht, bei der ein verheiratetes heterosexuelles Paar seinen Kinderwunsch nicht selbst erfüllen kann oder möchte, weil mindestens einer der Partner zeugungsunfähig ist oder an einer Erbkrankheit leidet. Zwar kommt immer auch eine Adoption in Betracht, zumeist wünscht sich das Paar jedoch, dass zumindest einer der Partner genetischer Elternteil sein soll. Virulenter wird die Frage nach der Ersatzmutterschaft jedoch bei homosexuellen männlichen Paaren. Diese sind zwingend auf eine „Leihmutterschaft“ angewiesen, wenn einer der beiden Partner mit dem Kind genetisch verwandt sein soll.
In allen Konstellationen gilt aber: Wenn die Parteien, d.h. die Wunscheltern (wobei es bei der Frage nach der (Un-)Wirksamkeit von Ersatzmutterverträgen nicht darauf ankommt, ob diese miteinander verheiratet sind) und die Ersatzmutter, versuchen, über einen Vertrag (vgl. § 311 I BGB) die Ersatzmutter (und wegen § 1591 BGB die rechtliche Mutter) zu verpflichten, das Kind nach der Geburt an die Wunschmutter zu übergeben, damit diese im Außenverhältnis (insbesondere gegenüber dem Standesamt) angeben kann, sie habe das Kind geboren, stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit eines solchen Vertrags. Einer Wirksamkeit könnte zunächst § 134 BGB entgegenstehen. Ein direktes gesetzliches Verbot einer Ersatzmutterschaft im Verhältnis zwischen Wunscheltern und Ersatzmutter existiert nicht. Straf- bzw. bußgeldbewehrte Verbote sind zwar insbesondere in § 1 I Nr. 7 ESchG und §§ 13c, 14b I sowie § 14b II AdvermiG enthalten (s.o.). Zu einer Nichtigkeit des zwischen den Wunscheltern und der Ersatzmutter geschlossenen „Leihmuttervertrags“ wegen Verstoßes gegen § 134 BGB kommt man also nur, wenn man die genannten Sanktionstatbestände so auslegt, dass daraus ein umfassendes Verbot der Ersatzmutterschaft folgt. Das wäre angesichts der differenzierten gesetzlichen Regelung zumindest problematisch. Nicht unbeabsichtigt hat der Gesetzgeber Wunscheltern und Ersatzmutter von der Sanktionsandrohung ausgenommen. Auch aus § 1591 BGB lässt sich kein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB herleiten. Zwar nimmt diese Vorschrift eine rechtliche Zuordnung vor („Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat“), was ggf. zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der vertraglichen Leistungsverpflichtung führt. Jedoch ist auch ein auf eine unmögliche Leistung gerichteter Vertrag nicht per se nichtig, wie sich aus dem Wegfall der bis zum 31.12.2001 geltenden Regelung des § 306 a.F. BGB ergibt. Wegen § 311a I BGB ist auch ein solcher Vertrag wirksam. Daher ist der Frage nachzugehen, ob sich eine Nichtigkeit des „Leihmuttervertrags“ aus § 138 I BGB ergeben kann. Nach dieser Vorschrift ist ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn es gegen die guten Sitten verstößt. Was zu den guten Sitten gehört bzw. gegen sie verstößt, ist nach dem Rechts- und Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zu bestimmen (BGHZ 10, 228, 232; 69, 295, 297; 141, 357, 361; BGH NJW 2005, 1490 f.). Entscheidend ist nach dem BGH, ob das Rechtsgeschäft seinem Inhalt nach mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung unvereinbar ist (BGH NJW 1998, 2531, 2532). Freilich wird hierdurch lediglich ein höchst unbestimmter Rechtsbegriff durch andere ersetzt, was die Problematik nicht wirklich auflöst. Immerhin kommt auch nach Auffassung des BGH bei der Frage, was unter „guten Sitten“ i.S.v. § 138 I BGB zu verstehen ist, der Wertordnung des Grundgesetzes, wie sie insbesondere in den Grundrechten niedergelegt ist, eine wesentliche Bedeutung zu (BGH NJW 1999, 566, 568). Das ist schon deswegen zutreffend, weil sämtliche unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln des einfachen Rechts (und damit auch der vorliegend einschlägige Begriff der „Sittenwidrigkeit“ in § 138 I BGB) nicht ohne Beachtung des übergeordneten Verfassungskreises ausgelegt werden können. Begründen also die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte gegenüber dem Staat, sondern verkörpern auch eine objektive Wertordnung (grundlegend BVerfGE 7, 198, 203 ff. (Lüth); vgl. auch R. Schmidt, Grundrechte, 23. Aufl. 2018, Rn. 21 ff.) und sind für die gesamte Rechtsordnung interpretationsleitend, gelten sie zugleich auch mittelbar zwischen Privaten (allgemeine Ansicht, vgl. etwa BVerfG NJW 2018, 1667, 1668 (Stadionverbot); BGH NJW 2015, 489, 491; BGH NJW 2018, 1884, 1886 (jeweils jameda.de). Vgl. auch BVerfG NJW 2015, 2485 f. Grundlegend – wie aufgezeigt – BVerfGE 7, 198, 203 ff. (Lüth). Diesbezüglich hat sich der Begriff „mittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ etabliert (auch hier wieder grundlegend BVerfGE 7, 198, 204 ff. (Lüth). Aktuell BVerfG NJW 2018, 1667, 1668 (Stadionverbot).
Damit sind also bei der Auslegung der „Sittenwidrigkeit“ in § 138 I BGB die Grundrechte der Beteiligten in ein Verhältnis praktischer Konkordanz (Begriff nach Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 317 ff. Später verwendet bspw. auch von BVerfGE 89, 214, 232; 129, 78, 101 f.; 134, 204, 223; 142, 74, 101 ff. (Verwendung von Samples in Musikstück)) mit den jeweils widerstreitenden Grundrechten zu bringen. Aufseiten der Wunscheltern kommen die Grundrechte aus Art. 6 I GG (hier: Grundrecht auf Familie), aus Art. 6 II GG (Elternrecht, das das Recht auf Elternschaft beinhaltet) sowie aus Art. 2 I i.V.m. 1 I GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht) in Betracht. Bei der „Leihmutter“ ist zu differenzieren: Sollte diese aus wirtschaftlichen Gründen handeln (sog. kommerzielle Leihmutterschaft), steht nach wohl h.M. die Menschenwürde des (noch ungeborenen) Kindes (da die Parteien derartige Verträge i.d.R. zu einem Zeitpunkt schließen, in dem es noch nicht zu einer Befruchtung gekommen ist, stellt sich vordergründig die Frage, wie ein noch nicht einmal gezeugtes Kind Menschenwürde haben kann. Stellt man aber auf das potentielle menschliche Leben ab und erstreckt den Schutz der Menschenwürde auf menschliche Keimzellen, ist die Menschenwürde (ebenso wie bei „Genexperimenten“) betroffen; siehe dazu R. Schmidt, Grundrechte, 23. Aufl. 2018, Rn 228) dem Schutz aus Art. 12 I GG auch dann entgegen, wenn die „Leihmutter“ aus finanzieller Not heraus handelt (etwa, um ihre Familie zu versorgen). Denn in diesem Fall werde das Kind zu einer „Handelsware“ (Majer, NJW 2018, 2294, 2295 ff. m.w.N.). Die theoretisch denkbare altruistische Leihmutterschaft, also die uneigennützige und unentgeltliche Leihmutterschaft, ist nach der hier vertretenen Auffassung hingegen von vornherein unproblematisch, und zwar selbst dann, wenn die „Leihmutter“ eine Aufwandsentschädigung erhält. Denn in diesem Fall wird das Kind nicht zur „Handelsware“. Aber auch bei der kommerziellen Leihmutterschaft steht am Ende ein Mensch, der ohne die Leihmutterschaft nicht gezeugt und geboren worden wäre. Es leuchtet nicht ein, wie man darin einen Menschenwürdeverstoß sehen kann. Ebenso wenig überzeugt es, einen Menschenwürdeverstoß aufseiten der Ersatzmutter anzunehmen. Zwar ist es richtig, dass die Menschenwürde indisponibel ist und daher auch nicht zur Disposition der Ersatzmutter steht. Dass sich die Ersatzmutter durch ihr Verhalten aber ihren sozialen Wert- und Achtungsanspruch abspricht, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt (so die Definition des BVerfG (BVerfGE 87, 209, 228), oder sich zum Objekt, d.h. zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabwürdigt (so die Objektformel Dürigs (Dürig, AöR 81 (1956), S. 117, 126). Siehe auch BVerfGE 27, 1, 1; 45, 187, 228), kann nicht angenommen werden. Das gilt erst recht, wenn man bei der Frage nach der Menschenwürde den Schutz vor Erniedrigung, Demütigung, Brandmarkung, Verfolgung und Ächtung hervorhebt. Von alledem kann bei einer (freiwilligen!) Ersatzmutterschaft keine Rede sein. Solange also die Entscheidung zur Ersatzmutterschaft frei von Zwängen ist, die Ersatzmutter eigenverantwortlich handelt und sich auch nicht selbst als „Handelsware“ versteht, geht die Annahme einer Menschenwürdeverletzung fehl.
Aber auch Gleichheitsaspekte spielen eine Rolle. So könnten heterosexuelle Ehepaare, bei denen der Mann zeugungsunfähig ist oder wegen einer (schweren) Erbkrankheit keine Kinder zeugen möchte, völlig legal von einer Reproduktionsklinik eine heterologe Insemination (siehe dazu R. Schmidt, FamR, 10. Aufl. 2018, Rn. 462m) vornehmen lassen. Das Gleiche gilt für homosexuelle weibliche Ehepaare; bei diesen könnten sogar beide Ehepartner eine künstliche Befruchtung vornehmen lassen. Bei homosexuellen männlichen Ehepaaren ist all dies nicht möglich; diese gleichheitswidrige Differenzierung ließe sich nur mit einer Leihmutterschaft beseitigen.
Verneint man in allen genannten Konstellationen einen Menschenwürdeverstoß, ist die Annahme einer Sittenwidrigkeit der Leihmutterschaft nicht (mehr) zwingend. Sie richtet sich dann unterverfassungsrechtlich allein nach dem „Rechts- und Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ (BGHZ 10, 228, 232; 69, 295, 297; 141, 357, 361; BGH NJW 2005, 1490 f.) und es ist danach zu fragen, ob das Rechtsgeschäft seinem Inhalt nach mit den „grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung“ unvereinbar ist (BGH NJW 1998, 2531, 2532). Gerade wegen der Verneinung der Menschenwürdeverletzung ist der Prüfungsmaßstab aber stark herabgesetzt.
Sollte man gleichwohl eine Sittenwidrigkeit annehmen, wäre der „Leihmuttervertrag“ gem. § 138 I BGB nichtig. Folge wäre, dass keine Ansprüche bestünden. Die Wunscheltern hätten keinen Anspruch auf Herausgabe des Kindes; die „Leihmutter“ hätte umgekehrt keinen Anspruch auf das vereinbarte Entgelt. Selbstverständlich hätte dann die „Leihmutter“ auch keinen Anspruch auf „Abnahme“ des Kindes durch die Wunscheltern. Es bliebe bei der Regelung des § 1591 BGB.
Sollte man (mit der hier vertretenen Auffassung) eine Sittenwidrigkeit verneinen, wäre der Ersatzmuttervertrag wirksam. Grundsätzliche Folge wäre die Verpflichtung zur Erbringung aller Primärpflichten und Beachtung aller Sekundärpflichten. Dann aber stellten sich (unlösbare) Probleme bei „Leistungsstörungen“. Sollen die Wunscheltern ein Recht zur Verweigerung der „Abnahme“ haben, wenn das Kind mit einer Behinderung zur Welt gekommen ist? Oder können die Wunscheltern (bei „Abnahme“ des Kindes) einen Schadensersatzanspruch geltend machen, wenn die Tragemutter während der Schwangerschaft Drogen (auch Alkohol) konsumiert hat, wodurch das Kind geschädigt wurde? Ein gangbarer Weg bestünde darin, die Vorschrift des § 120 III FamFG analog anzuwenden. Nach dieser Vorschrift unterliegt die Verpflichtung zur Eingehung der Ehe und zur Herstellung des ehelichen Lebens nicht der Vollstreckung. Dieses Vollstreckungshindernis könnte in analoger Anwendung des § 120 III FamFG auch für den Ersatzmuttervertrag gelten. Folge wäre, dass zwar Leistungsansprüche bestünden, diese aber nicht der Vollstreckung unterlägen. Die Wunscheltern könnten also nicht gezwungen werden, ihren Vertragspflichten nachzukommen. Wegen des Fehlverhaltens der Ersatzmutter wäre diese auch nicht schutzwürdig. Was aber soll gelten, wenn das Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt, die nicht auf ein Fehlverhalten der Ersatzmutter zurückzuführen ist? Möglicherweise kommt es auf all diese Aspekte überhaupt nicht an, wenn man auf die Regelung des § 1591 BGB abstellt. Wie bereits bei Rn. 462f ausgeführt, lässt sich aus der rechtlichen, nicht anfechtbaren Zuordnung des Kindes zu der Frau, die es geboren hat, schließen, dass ein Ersatzmuttervertrag ggf. zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der vertraglichen Leistungsverpflichtung führt. Folgt man diesem Ansatz, ist der Ersatzmuttervertrag zwar nicht allein deswegen nichtig, sondern wegen § 311a I BGB (zunächst) wirksam. Jedoch kommt dann gem. §§ 346 I, 323 I, 326 V, 275 I BGB ein sofortiges Rücktrittsrecht in Betracht mit der Folge, dass zunächst entstandene Ansprüche untergingen. Sollten die Wunscheltern „Vorkasse“ geleistet haben, stünde einem Rückzahlungsanspruch gegenüber der Ersatzmutter aus § 812 BGB auch nicht § 817 S. 2 BGB entgegen. So oder so gilt im Ergebnis: Die Ersatzmutter ist (und bleibt) rechtliche Mutter und muss die Folgen tragen. Freilich stünde es dem Gesetzgeber offen, die Leihmutterschaft gesetzlich zu regeln und eine von § 1591 BGB abweichende Regelung zu treffen.
Fazit:
Wie die vorstehenden Ausführungen verdeutlicht haben, ist die Problematik der „Leihmutterschaft“ sehr differenziert zu betrachten, zumal auch moralische und rechtsethische Vorstellungen die rechtliche Beurteilung prägen. Da nach Auffassung des Verfassers weder die Menschenwürde der Ersatzmutter noch die des (zu zeugenden) Kindes verletzt ist, wäre eine gesetzliche Regelung der Ersatzmutterschaft in Deutschland – abweichend von der gegenwärtigen Regelung des § 1591 BGB – möglich. Voraussetzung wäre, dass sie – ähnlich wie die Samenspende – altruistisch (bzw. nur gegen Aufwandsentschädigung) erfolgte, dem Kind dieselben Rechte zustünden wie dem durch Samenspende gezeugten Kind und dass ein formalisiertes, der staatlichen Kontrolle unterworfenes Verfahren eingeführt würde.
R. Schmidt
(29.8.2018)
1.8.2018: Haftung bei Gefälligkeiten?
BGH, Urteil v. 26.4.2016 – VI ZR 467/15 (NJW-RR 2017, 272)
Mit Urteil v. 26.4.2016 hat der VI. Zivilsenat des BGH (VI ZR 467/15) entschieden, dass der Gefällige, der einen Schaden verursacht, durchaus hafte, wenn er haftpflichtversichert und der Schaden versicherungsrechtlich abgedeckt sei. Denn in einem solchen Fall sei eine Vereinbarung über eine Haftungsbeschränkung regelmäßig nicht anzunehmen. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Nicht selten verabreden die Parteien eine unentgeltliche Tätigkeit wie bspw. eine unentgeltliche Verwahrung des Haustieres oder das Bewässern des Gartens während einer urlaubs- oder berufsbedingten Abwesenheit. Gerade wegen der Unentgeltlichkeit wäre es unbillig, wenn der „Gefällige“ in gleichem Maße leistungsverpflichtet oder gar (bei einem Schadenseintritt) schadensersatzpflichtig wäre wie jemand, der die gleiche Tätigkeit gegen Entgelt verrichtet. Folgerichtig sieht das BGB zahlreiche Haftungsprivilegierungen zugunsten des unentgeltlich Tätigen vor wie z.B. eine Beschränkung der Haftung des unentgeltlich tätigen Verwahrers. Dieser hat gem. § 690 BGB nur für diejenige Sorgfalt einzustehen, welche er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. Gemäß § 277 BGB bedeutet das, dass eine Haftung nur bei grober Fahrlässigkeit (und erst recht bei Vorsatz) gegeben ist. Es gibt aber auch Ausnahmen von der Haftungsprivilegierung bei unentgeltlicher Tätigkeit, etwa im Auftragsrecht (§§ 662 ff. BGB), weil es dort an einer entsprechenden Regelung fehlt.
Nicht im Gesetz geregelt sind bloße Gefälligkeiten im gesellschaftlichen Bereich, etwa die Zusage, den Nachbarn mit dem Auto mit in die Stadt zum Einkauf zu nehmen. Wird dann nicht daran gedacht, den Nachbarn mitzunehmen, und muss dieser deswegen ein Bus- oder Bahnticket kaufen, wird kaum jemand auf die Idee kommen, von Schadensersatzansprüchen zu reden.
Mit Blick auf Leistungs-, aber auch Schadensersatzpflichten kann es im Einzelfall daher von erheblicher Bedeutung sein, ob zwischen den Beteiligten ein Vertrag oder eine Gefälligkeit vorliegt. Entscheidend ist der sog. Rechtsbindungswille, also der Wille, sich in einer bestimmten Art und Weise rechtlich binden (und Verantwortung übernehmen) zu wollen. Dieser ist subjektiv-objektiv zu ermitteln. Sollten die Beteiligten mit Hilfe übereinstimmender Erklärungen bestimmte Vereinbarungen treffen, ist der jeweilige Rechtsbindungswille evident und keinesfalls zu problematisieren. Nicht selten kommt es jedoch vor, dass ein ausdrücklich oder stillschweigend erklärter Wille der Beteiligten über die Rechtsbindung nicht feststellbar ist (vgl. nur BGH NJW 1974, 1705, 1706 - „Lottogemeinschaft“; BGHZ 21, 102, 106 f.). In einem solchen Fall ist fraglich, ob ein Rechtsbindungswille besteht und nach welchen Kriterien er zu ermitteln ist. Die Rechtsprechung stellt zur Ermittlung des Rechtsbindungswillens (unter Zugrundelegung der §§ 133, 157 BGB) auf den objektiven Empfängerhorizont ab: Kann dieser unter Berücksichtigung der Interessenlage beider Parteien nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte (§ 242 BGB) auf einen Rechtsbindungswillen schließen, ist ein solcher auch dann anzunehmen, wenn der Erklärende innerlich einen entgegenstehenden Willen hatte (BGH NJW 1974, 1705, 1706; BGHZ 21, 102, 106 f.; 56, 204, 210), vgl. R. Schmidt, BGB AT, Rn. 268.
In die „Geschichte“ eingegangen ist der „Lotto-Fall“ (BGH NJW 1974, 1705):
Fünf Bekannte hatten sich zu einer Lottospielgemeinschaft zusammengeschlossen. Der wöchentliche Einsatz betrug 10 DM pro Person, die von B, einem der Teilnehmer, eingesammelt wurden. Es wurde verabredet, dass B bestimmte, zuvor festgelegte Zahlen ankreuze, die Tippzettel im eigenen Namen ausfülle und sie bei der Annahmestelle abgebe. Zu einer Ausspielung im Oktober 1971 versäumte er es jedoch, die Tippzettel abzugeben. Nachdem sich nach der Ziehung herausgestellt hatte, dass die verabredeten Zahlen zu einem Gewinn von insgesamt 10.550 DM geführt hätten, machten drei der Mitglieder gegen B ihre Gewinnanteile geltend.
Wäre in diesem Fall Gesellschaftsrecht (i.S.d. §§ 705 ff. BGB) anwendbar oder läge eine sonstige vertragliche Beziehung zwischen den Beteiligten vor mit dem Inhalt, dass sich B rechtlich verpflichtete, die Tippzettel wie verabredet auszufüllen und abzugeben, wäre wegen Pflichtverletzung Schadensersatz denkbar (§ 280 I BGB;
immerhin mit der Haftungsprivilegierung aus § 708 BGB).
Jedoch hat der BGH entschieden, aus einer „Lottogemeinschaft“ ergebe sich nicht ohne weiteres, dass auch eine rechtliche Bindung insoweit bestehe, als einer der Mitspieler es übernommen habe, die Spielscheine in der verabredeten Weise auszufüllen und bei einer Annahmestelle einzureichen. Soweit ein ausdrücklich oder stillschweigend erklärter Wille der Beteiligten nicht feststellbar sei, könne dies nur unter Berücksichtigung der Interessenlage beider Parteien nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte geprüft werden (BGH NJW 1974, 1705, 1706 mit Verweis auf BGHZ 21, 102, 106 f.; 56, 204, 210). Indizien, die auf einen Rechtsbindungswillen und damit auf einen (Gefälligkeits-)Vertrag schließen lassen, seien
die Art der Gefälligkeit, ihr Grund und ihr Zweck,
ihre wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung,
die bestehende Interessenlage sowie
der Wert der anvertrauten Sache.
Danach sei entscheidend, ob die Annahme einer entsprechenden Rechtspflicht und das sich daraus ergebende Schadensersatzrisiko auch für B unter Berücksichtigung der Unentgeltlichkeit der übernommenen Geschäftsbesorgung zumutbar sei. Das müsse vorliegend verneint werden. Es sei umgekehrt für die Mitspieler zumutbar, die Gefahr, dass der beauftragte Spieler gegen die von den Mitspielern getroffene Abrede verstoße, hinzunehmen. Es müsse hingenommen werden, dass der beauftragte Spieler das Ausfüllen einmal vergesse, wegen anderer Verpflichtungen daran gehindert werde oder versehentlich andere als die verabredeten Zahlen ankreuze. Zugleich sei die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem solchen Fehler ein erheblicher Schaden erwachse, äußerst klein – so wie die Chance eines hohen Gewinns. Wenn sich aber die geringe Gewinnchance verwirkliche, könnte der Gewinn eine außergewöhnliche Höhe erreichen und die wirtschaftliche Existenz des beauftragten Spielers vernichten. Dies müssten sich die anderen Spieler redlicherweise entgegenhalten lassen. Diesen sei bewusst, dass eine Spielgemeinschaft allgemein mit dem Ziel verabredet werde, durch den erhöhten Einsatz die geringe Gewinnchance etwas zu erhöhen. Ihnen sei aber auch klar, dass keiner der Spieler ein mitunter existenzvernichtendes Risiko wissentlich übernehmen wolle. Das Glücksspiel bleibe ein Spiel und damit ein freies, außerhalb wirtschaftlicher Zwecke und Notwendigkeiten stehendes Handeln. Rechtlicher Zwang und Schadensersatz, wie sie sonst zum Schutz wesentlicher Interessen und Güter notwendig seien, seien damit nicht vereinbar.
Handelt es sich um Abreden, die ausschließlich im gesellschaftlich-sozialen Bereich anzusiedeln sind, wie das regelmäßig bei einer Freundschaft, Kollegialität oder Nachbarschaft der Fall ist, spricht man von reinen Gefälligkeitsverhältnissen (BGH NJW 2015, 2880; BGH NJW-RR 2017, 272; Stadler, BGB AT, § 17 Rn. 17; Wolf/Neuner, BGB AT, § 28 Rn. 17; Boecken, BGB AT, Rn. 188). In diesen Fällen will sich der Gefällige auch aus der (maßgeblichen) Sicht des objektiven Beobachters in der Rolle des Erklärungsempfängers i.d.R. gerade nicht rechtlich binden, somit keine Willenserklärung abgeben und keine vertraglichen Pflichten eingehen. Es fehlt der genannte Rechtsbindungswille.
(Weitere)
Beispiele sind (R. Schmidt, BGB AT, Rn. 284): Einladung zu einer Feier, zum Essen oder zu einer Angeltour; Versprechen, einen Brief in den Briefkasten einzuwerfen (zumindest im Grundsatz); die (nicht regelmäßige) unentgeltliche Mitnahme im Auto (sog. Gefälligkeitsfahrt, vgl. dazu BGH NJW 2015, 2880 f.; nicht aber bei regelmäßigen Fahrgemeinschaften etwa zur Arbeitsstätte); Versprechen, ein Kleidungsstück von der Reinigung abzuholen; Bereitschaft, das Haus eines abwesenden Bekannten oder Verwandten zu beaufsichtigen (zumindest im Grundsatz); Bereitschaft, den Garten des Nachbarn während dessen Urlaubsreise zu bewässern
In Fällen dieser Art mangelt es i.d.R. an einem Rechtsbindungswillen und damit am vertraglichen Schuldverhältnis. Der Gefällige will sich weder zur Leistung verpflichten noch besondere Sorgfaltspflichten beachten. Er haftet daher weder auf Erfüllung noch auf vertraglichen oder vertragsähnlichen Schadensersatz, hat umgekehrt aber ebenfalls keinen Anspruch auf Aufwendungsersatz bzw. Schadensersatz (BGH NJW 2015, 2880 f.). Hiervon unberührt bleibt aber (in beide Richtungen) die Möglichkeit der Schadensersatzpflicht aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis, bspw. wegen einer unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB) oder wegen Vorliegens eines Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (§§ 987 ff. BGB – sog. EBV). Hier ist aber zu beachten, dass nicht jeder Schaden ersatzfähig ist. So werden reine Vermögensschäden von § 823 I BGB nicht erfasst; im Rahmen des § 826 BGB, der auch reine Vermögensschäden erfasst, ist die erforderliche Schädigungsabsicht kaum zu beweisen; bei § 823 II BGB ist die Verletzung eines Schutzgesetzes erforderlich, was bei fahrlässiger Beschädigung einer Sache nicht denkbar ist (die fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar). Auch Ansprüche aus EBV bestehen nicht, wenn der Besitzer gutgläubig ist (vgl. § 993 I a.E. BGB). Kommt es aber zu einem von § 823 I BGB erfassten Schaden, stellt sich die Frage, ob die Annahme eines reinen Gefälligkeitsverhältnisses mit der Folge des Ausschlusses einer vertraglichen Haftung nicht Einfluss auf die deliktische Haftung (also auf die Haftung aus unerlaubter Handlung) ausübt.
Dem hier zu besprechenden Urteil lag folgender Sachverhalt
zugrunde (leicht verändert, um Problem zu fokussieren): Während des Sommerurlaubs seines Nachbarn N übernahm es G, dessen Haus zu versorgen und den Garten zu bewässern. Absprachegemäß bewässerte G den Nachbargarten mit einem an den Außenhahn des Hauses des N montierten Wasserschlauch. Anschließend drehte er die am Schlauch befindliche Spritze zu, stellte aber nicht die Wasserzufuhr zum Schlauch ab. In der darauffolgenden Nacht löste sich der weiter unter Wasserdruck stehende Schlauch vom Außenhahn. In der Folge trat eine erhebliche Menge Leitungswasser aus, lief in das Gebäude des N und führte zu Beschädigungen im Untergeschoss. Es entstand ein Schaden von rund 12.000,- €, den N nunmehr gegenüber G geltend macht.
Lösungsgesichtspunkte:
Ein möglicher Schadensersatzanspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag
(GoA, §§ 677 ff. BGB) liegt nicht vor. Zwar haftet der Geschäftsführer nach den allgemeinen Regeln (§ 677 i.V.m. §§ 280 ff.; §§ 823 ff. BGB) auf Schadensersatz, wenn er im Rahmen der Geschäftsausübung schuldhaft seine Pflichten aus § 677 oder § 681 BGB verletzt (sog. Ausführungsverschulden) und aus dieser Pflichtverletzung ein adäquat kausaler Schaden des Geschäftsherrn entsteht. Allerdings handelte G nicht „ohne Auftrag oder sonstige Berechtigung“ i.S.d. § 677 BGB. Denn G war ja gerade „beauftragt“, den Garten zu bewässern.
In Betracht kommt zunächst ein Schadensersatzanspruch aus § 280 I BGB unter dem Aspekt einer vertraglichen Pflichtverletzung. G versäumte es, den Gartenschlauch drucklos zu machen, und verursachte so den Wasserschaden. Jedoch dürfte es an dem für § 280 I BGB erforderlichen Schuldverhältnis fehlen. Zwar kommt als Schuldverhältnis der Auftrag (§ 662 BGB) in Betracht, jedoch erfolgte – wie der BGH zu Recht angenommen hat – die Versorgung des Nachbarhauses einschließlich der Bewässerung des Gartens durch G im Rahmen eines reinen Gefälligkeitsverhältnisses, da es an einem für einen Auftrag (der eine Haftung wegen Pflichtverletzung begründet hätte) erforderlichen Rechtsbindungswillen fehlt. Für den bei der Ausführung der Gefälligkeit entstandenen Schaden kämen daher keine vertraglichen, sondern allenfalls deliktische Ansprüche
in Betracht (BGH NJW-RR 2017, 272, 273).
Anspruchsgrundlage hierfür könnte § 823 I BGB sein. G hat fahrlässig den Wasserschaden verursacht. Es stellt eine Sorgfaltspflichtverletzung i.S.d. § 276 II BGB dar, einen Gartenschlauch nicht drucklos zu machen. Da G aber unentgeltlich, d.h. im Rahmen einer Nachbarschaftshilfe, handelte, stellt sich die Frage nach einer Haftungsprivilegierung. Allgemein sieht die Rechtsordnung Haftungsprivilegierungen bei unentgeltlichen Verträgen vor, so z.B. bei §§ 521, 599 und 690 BGB (Haftung nur bei grober Fahrlässigkeit und Vorsatz bzw. eigenübliche Sorgfaltspflicht), die aus Wertungsgesichtspunkten auch bei der deliktischen Haftung greifen, um die Haftungsprivilegierung nicht auszuhebeln. Vorliegend besteht aber kein Vertragsverhältnis. Selbst wenn ein Auftragsverhältnis bestanden hätte, hätte keine Haftungsprivilegierung bestanden, die auf das Deliktsrecht durchgeschlagen hätte. Eine analoge Anwendung von Haftungsprivilegierungstatbeständen auf Gefälligkeitsverhältnisse wird in Ermangelung einer planwidrigen Regelungslücke abgelehnt (BGH NJW-RR 2017, 272, 273 mit Verweis auf BGH VersR 1992, 1145, 1147).
Der BGH erwägt aber eine Haftungsbeschränkung durch ergänzende, auf einer Hypothese beruhende Vertragsauslegung auf der Grundlage des § 242 BGB. Voraussetzung sei aber grundsätzlich, dass der Schädiger, wäre die Rechtslage vorher zur Sprache gekommen, einen Haftungsverzicht gefordert hätte und sich der Geschädigte dem ausdrücklichen Ansinnen einer solchen Abmachung billigerweise nicht hätte versagen dürfen (BGH NJW-RR 2017, 272, 273 mit Verweis u.a. auf BGH VersR 1979, 136, 137; 1980, 426, 427; a.A. Medicus/Petersen BR, Rn. 369; Wolf/Neuner BGB AT, § 28 Rn. 25. Zur Figur der ergänzenden Vertragsauslegung vgl. R. Schmidt, BGB AT, Rn. 418 f.). Davon könne aber nicht ausgegangen werden, wenn der Schädiger haftpflichtversichert sei. Denn eine Haftungsbeschränkung, die die Haftpflichtversicherung des Schädigers entlastet (und damit den Geschädigten belastet), entspreche regelmäßig nicht dem Willen der Beteiligten (BGH NJW-RR 2017, 272, 273 mit Verweis u.a. auf BGH VersR 1993, 1092, 1093; 1992, 1145, 1147).
Keinesfalls sei ein Haftungsverzicht allein deswegen anzunehmen, weil der Schaden bei einem Gefälligkeitserweis entstanden ist und zwischen Schädiger und Geschädigtem enge persönliche Beziehungen bestehen. Ein Haftungsausschluss komme aber dann in Betracht, wenn der Schädiger keinen Haftpflichtversicherungsschutz habe, für ihn ein nicht hinzunehmendes Haftungsrisiko bestünde und darüber hinaus besondere Umstände vorlägen, die im konkreten Fall einen Haftungsverzicht als besonders naheliegend erscheinen ließen (BGH NJW-RR 2017, 272, 274 mit Verweis u.a. auf BGH VersR 1993, 1092, 1093).
Daraus folgt:
Ist der Schädiger nicht privathaftpflichtversichert und müsste daher selbst für Schäden aufkommen, ist von einer stillschweigend vereinbarten Haftungsbeschränkung (d.h. Beschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit) auszugehen. Ist der Schädiger aber haftpflichtversichert und ist der Schaden versicherungsrechtlich abgedeckt, ist eine Haftungsbeschränkung regelmäßig nicht anzunehmen. In diesem Fall kommt es auf die Frage nach dem Maß des Verschuldens (einfache oder grobe Fahrlässigkeit) nicht an.
Stellungnahme:
Es mutet auf den ersten Blick seltsam an, den konkludenten Haftungsausschluss bzw. die konkludente Haftungsprivilegierung vom Bestehen einer Privathaftpflichtversicherung aufseiten des Schädigers abhängig zu machen. Auf dieser Grundlage könnte man auch einen Haftungsausschluss bzw. eine Haftungsprivilegierung annehmen für den Fall, dass der Geschädigte den Schaden über die (obligatorische) Gebäudeversicherung regulieren kann. Das aber lehnt der BGH explizit ab mit dem Argument, dass anderenfalls die Willensfiktion einer Haftungsbeschränkung im Ergebnis zulasten des Geschädigten ginge und das Haftungsrisiko sich von dem Verursacher des Schadens und dessen Haftpflichtversicherung ungerechtfertigt auf die (Gebäude-)Versicherung des Geschädigten verschöbe (BGH NJW-RR 2017, 272, 274). Das überzeugt schon deshalb nicht, weil man mit dem Argument (keine Verschiebung des Haftungsrisikos zulasten der Versicherung) dann generell die Möglichkeit einer konkludenten, im Rahmen ergänzender Vertragsauslegung vorzunehmenden Haftungsprivilegierung im Verhältnis Schädiger/Geschädigter ablehnen müsste.
R. Schmidt
(1.8.2018)
18.7.2018: Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit auch außerhalb einer Vernehmung
BGH, Urteil v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17 (NJW 2018, 1986)
Mit Urteil v. 6.3.2018 hat der 1. Strafsenat des BGH (1 StR 277/17) entschieden, dass die Aussagefreiheit auch außerhalb von Vernehmungen nach §§136,136a StPO verletzt werden und zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Für das Strafprozessrecht gelten verschiedene Grundsätze (Maximen), die die Struktur des Verfahrens prägen. Sie stehen im engen Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip, den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Grundgesetzes, sind aber nicht unmittelbare Folge aus diesen, sondern vielmehr historisch begründet: Es handelt sich um eine Errungenschaft des gegen den Obrigkeitsstaat kämpfenden Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, der u.a. die Ablösung des „Inquisitionsprozesses“ zur Folge hatte. Unter „Inquisitionsprozess“ versteht man einen geheimen Prozess, bei dem die Einleitung, die Ermittlungen und die Verurteilung in einer Hand liegen. Dass ein „Inquisitionsprozess“ in einem demokratischen Rechtsstaat keinen Platz hat, ist selbstverständlich. Dementsprechend ist das Strafverfahren von folgenden Prinzipien geleitet (siehe Hartmann/Schmidt, StrafProzR, Rn. 65):
Unschuldsvermutung
Offizialprinzip
Akkusationsprinzip
Legalitätsprinzip
Opportunitätsprinzip
Fair-trial-Prinzip
Beschleunigungsgebot (Konzentrationsmaxime)
Untersuchungsgrundsatz (Ermittlungsgrundsatz)
Grundsatz des gesetzlichen Richters
Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
Nemo tenetur se ipsum accusare
In dubio pro reo
Grundsatz der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit
Grundsatz der Unmittelbarkeit
Grundsatz des rechtlichen Gehörs
Gerichtliche Fürsorgepflicht
Im vorliegenden Zusammenhang ist der Nemo-tenetur-Grundsatz
einschlägig (vollständig heißt dieser lateinische Rechtssatz: nemo tenetur se ipsum procedere (oder) accusare: Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu verraten/belasten/anzuzeigen).
Dieser Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit besagt, dass der Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, aktiv die Sachaufklärung zu fördern bzw. aktiv an seiner Überführung mitzuwirken, insbesondere, sich selbst zu belasten. Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang (BVerfGE 38, 105, 113; 55, 144, 150; 56, 37, 43; 110, 1, 31; BGH NJW 2018, 1986, 1987); er ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips (Art 20 III GG) und der Grund- und Menschenrechte, insbesondere des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) und der Menschenwürde (Art. 1 I S. 1 GG – siehe BVerfGE 38, 105, 113; 55, 144, 150; 56, 37, 43; BGH NJW 2018, 1986, 1987). Streng genommen basiert die Selbstbelastungsfreiheit nicht auf den genannten Verfassungsbestimmungen, da sie schon lange vor Inkrafttreten des Grundgesetzes bestand. Selbstverständlich aber ist sie unter der Geltung des Grundgesetzes den genannten Bestimmungen zuzuordnen. Konventionsrechtlich ist die Selbstbelastungsfreiheit durch Art. 6 EMRK geschützt. Der Beschuldigte darf nicht zu Tests, Tatrekonstruktionen, zur Abgabe von Schrift- und Stimmproben, zum Atemalkoholtest (vgl. dazu KG NStZ 2015, 42 mit Bespr. v. Mosbacher, NStZ 2015, 42 f.) etc. gezwungen werden (BGH NStZ 2004, 392, 393; OLG Brandenburg NStZ 2014, 524, 525), wohl aber zur passiven Duldung bspw. einer Blutprobenentnahme (all dies gilt gem. § 46 OWiG auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren, vgl. Mosbacher, NStZ 2015, 42 f.; Geppert, NStZ 2014, 481, 482; Cierniak/Herb, NZV 2012, 409, 410 f.). Einfachgesetzlich abgesichert wird der Nemo-tenetur-Grundsatz in der StPO durch ein umfassendes Schweigerecht des Beschuldigten sowohl im Ermittlungsverfahren (§ 136 I S. 2 StPO – vgl. dazu etwa BGH NJW 2013, 2769 f.; OLG Nürnberg StRR 2014, 105 f. Vgl. auch Kasiske, JuS 2014, 15 ff.) als auch während der Hauptverhandlung (§ 243 V S. 1 StPO – vgl. nur BGH NStZ 2016, 59 f.), worauf der Beschuldigte/Angeklagte bei der Vernehmung hinzuweisen ist. Daher dürfen auch keine Spontanäußerungen des Beschuldigten/Angeklagten, die er nach der Belehrung über sein Schweigerecht macht und nach der Erklärung, dass er von seinem Schweigerecht Gebrauch mache, zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen gemacht werden (BGH NJW 2013, 2769 f.; BGH NJW 2018, 1986, 1987). Ebenfalls ist der Nemo-tenetur-Grundsatz verletzt, wenn in einer Vernehmung oder „vernehmungsähnlichen Situation“ (also einer Situation, in der außerhalb einer förmlichen Vernehmung befragt wird) der Beschuldigte nicht eigenverantwortlich entscheiden kann, ob und ggf. inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt, die Ermittlungsperson diese Unfähigkeit der freien Entscheidung erkennt und gleichwohl durch ihr hartnäckiges Verhalten dazu beiträgt, dass der Beschuldigte die Aussagefreiheit nicht wahrnehmen kann (BGH NJW 2018, 1986, 1987 mit Verweis auf BVerfGE 38, 105, 113; 56, 37, 43; BGHSt 52, 11, 17 f.).
Dem vorliegend zu besprechenden Urteil des BGH lag folgender Sachverhalt
zugrunde (abgewandelt, um die Probleme des Falls zu fokussieren): Aufgrund von Mietrückständen kam es zu einer Räumungsklage in Bezug auf das von T gemietete Wohnhaus. Frustrationsbedingt fasste sie daher den Entschluss, das Gebäude anzuzünden. Sie kaufte bei einer nahegelegenen Tankstelle Benzin und brachte es in einem Benzinkanister zum Haus. Dort nahm sie zehn Tabletten des Antidepressivums Sertralin ein. Anschließend verteilte sie an mehreren Stellen im Haus sowie in der Garage zusammengerolltes Zeitungspapier und sonstiges brennbares Material, übergoss es mit Benzin und entzündete dann die präparierten Stellen. Weil ein Teil des ausgebrachten Benzins verdampft und dadurch ein Benzindampf-Luft-Gemisch entstanden war, führte dies mit dem Anzünden zu einer explosionsartigen Verpuffung. Infolge des raschen Eintreffens der durch Nachbarn herbeigerufenen Feuerwehr konnte der Brand gelöscht und T unverletzt gerettet werden. T wurde noch im Bereich des Brandobjekts durch Kriminalhauptkommissar R über ihre Rechte gem. § 136 StPO belehrt. Sie äußerte daraufhin, zur Sache nicht aussagen zu wollen. In der Folge wurde T in ein Krankenhaus verbracht, um mögliche gesundheitliche Folgen der Raucheinwirkungen abklären zu lassen. Mit der Begleitung der T war die Kriminalbeamtin K beauftragt worden, welche, wie bei der Kriminalpolizei üblich, Zivilkleidung trug. Auf dem Weg zum Dienstfahrzeug fragte T, die sich bei deutlich erhöhter Pulsfrequenz in der Angst befand, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, die K, ob diese Ärztin sei. K verneinte dies und wies auf ihren Polizeibeamtenstatus hin. Im Krankenhaus gab T auf Befragen des Arztes an, sie habe zehn Tabletten des Medikaments Sertralin genommen. Zudem sei viel Rauch entstanden. Sie habe „Benzin ausgeschüttet und das ausgeschüttete Benzin angezündet, überall im Erdgeschoss“, davor habe sie „Tabletten genommen“. K hielt sich zu dieser Zeit – für T erkennbar – ebenfalls im Behandlungszimmer auf und nahm daher die Äußerungen der T zur Kenntnis. Zuvor hatte K dem Arzt und der T die Frage gestellt, ob sie hinausgehen solle, ohne allerdings irgendeine Antwort zu erhalten. Später, im Krankenzimmer, ließ T die K mehrfach an ihr Bett kommen, um in Erfahrung zu bringen, wie es ihrer Tochter, die sich zur Zeit des Brandes ebenfalls im Haus aufhielt, gehe. Dabei äußerte sie gegenüber K u.a. wörtlich, dass sie einfach „nicht mehr konnte“ und „einfach alles angezündet“ habe.
Später im Prozess wurde K als Zeugin vernommen; ihre Aussage wurde vom Strafgericht verwertet. Die Angaben am Krankenbett seien verwertbare freiwillige Spontanäußerungen außerhalb einer Vernehmungssituation gewesen. Darauf stützte sich die Revision der T.
Entscheidung des BGH:
In diesem Fall fand zwar zunächst eine förmliche Vernehmung durch R unter Beachtung der Belehrungspflicht bzgl. der Aussagefreiheit vor. Jedoch befand sich T anschließend ununterbrochen dem Einfluss der K ausgesetzt, die zu keinem Zeitpunkt auf das Schweigerecht der T Rücksicht nahm. Der BGH stellte hierzu fest, dass T letztlich auf diese Weise einer dauerhaften Befragung ausgesetzt war. Dies habe schon während des Transports der T zum Krankenhaus begonnen. K habe immer wieder das Gespräch auf die Tat gelenkt, auch im Wartebereich vor dem Arztzimmer, obwohl T zuvor ausdrücklich von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Sie sei – weshalb sie ja einem Arzt habe vorgestellt werden müssen – in einer gesundheitlich sehr angeschlagenen Verfassung gewesen. Sie habe eine Überdosis Psychopharmaka zu sich genommen und sich bei deutlich erhöhter Pulsfrequenz in der Angst befunden, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Schon allein aufgrund dieser prekären gesundheitlichen Verfassung sei T nicht aussagebereit gewesen, was weitere Fragen ausgeschlossen habe. Dies habe umso mehr gegolten, als T die K – wie sich aus ihrer Frage „Sind Sie Ärztin?“ ergeben habe – gar nicht als Kriminalbeamtin wahrgenommen habe (BGH NJW 2018, 1986, 1987).
Seien die Aussagen der T daher schon deshalb wegen Verstoßes gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz unverwertbar, könne es dahinstehen, ob das Arzt-Patienten-Gespräch wie im vorliegenden Fall nicht ohnehin einem Verwertungsverbot wegen einer Verletzung des absolut geschützten Kernbereichs persönlicher Lebensführung unterlegen hätte (BGH NJW 2018, 1986, 1987 mit Verweis auf BGHSt 50, 206, 210; 57, 71, 74 ff.), bei dem Ermittlungsmaßnahmen stets unzulässig seien (BGH NJW 2018, 1986, 1987 mit Verweis auf BVerfGE 129, 208, 265 f.; 109, 279, 322 f.; BT-Drs. 16/5846, 36 f.). Dagegen bestünden hinsichtlich der Verwertbarkeit der Aussagen später am Krankenbett keine Bedenken, da T selbst die K an ihr Bett holen ließ und die Tat gestand.
Stellungnahme:
Da sich T auf der Fahrt zum Krankenhaus und während der ärztlichen Behandlung im Krankenhaus in einer „vernehmungsähnlichen Situation“ befand und dabei zudem unfähig war, die Tragweite ihres Handelns zu erkennen, gebietet es der Nemo-tenetur-Grundsatz in der Tat, ihre Aussage als unverwertbar anzusehen. K hätte den vernehmungsunfähigen Zustand der T schon allein dadurch erkennen können, dass sie von T für eine Ärztin gehalten wurde; spätestens im Behandlungszimmer war K aber klar, dass T unter der Einwirkung von Psychopharmaka stand. K hätte daher nicht weiter auf T einwirken dürfen.
Dass der BGH die Unverwertbarkeit der Aussage nicht mit einer Verletzung des Kernbereichsschutzes (Arzt-Patienten-Gespräch) begründet, sondern diese Frage offengelassen hat, mag auf den ersten Blick erstaunen, ist aber wohl dem Umstand geschuldet, dass er diese Frage nicht entscheiden wollte, zumal sowohl der Gesetzgeber als auch das BVerfG diese Frage im Falle von Arztgesprächen (lediglich) für möglich gehalten, ebenfalls aber nicht beantwortet haben (der BGH verweist insoweit auf BVerfGE 129, 208, 265 f.; 109, 279, 322 f.; BT-Drs. 16/5846, 36 f.). Zudem hätte die Beantwortung dieser Frage nichts daran geändert, dass die Fahrt zum Krankenhaus und das Gespräch später am Krankenbett nicht vom Kernbereichsschutz (Arzt-Patienten-Gespräch) erfasst waren und daher die Verwertbarkeit nicht daran gescheitert wäre.
Im Übrigen bestand für den BGH auch keine Notwendigkeit, sich vom formellen Vernehmungsbegriff zu lösen, mit der Folge, dass die Vorschriften der §§ 163a IV, 136 StPO auch auf „Spontanäußerungen“, „informatorische Befragungen“ und „Befragungen“ eines Beschuldigten durch Private (V-Leute oder Informanten) anwendbar wären (siehe dazu Hartmann/Schmidt, StrafProzR, Rn. 238). Denn bejaht die Strafverfolgungsbehörde die Beschuldigteneigenschaft, muss sie förmlich vernehmen und zuvor belehren; anderenfalls verletzt sie die Beschuldigtenrechte, insbesondere die Selbstbelastungsfreiheit, mit der Folge der Unverwertbarkeit der Angaben, so, wie das bei einer fehlerhaften förmlichen Vernehmung der Fall wäre.
R. Schmidt
(18.7.2018)
19.5.2018: Zur Frage nach der Verwertbarkeit von Dashcam-Aufzeichnungen in „Unfallhaftpflichtprozessen" unter Berücksichtigung der Datenschutzgrundverordnung DSGVO
BGH, Urteil v. 15.5.2018 – VI ZR 233/17
Mit Urteil v. 15.5.2018 hat der BGH (VI ZR 233/17) nach Maßgabe des bis zum 24.5.2018 geltenden Rechts entschieden, dass Dashcam-Aufnahmen als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess auch dann verwertbar sein können, wenn die Aufnahmen rechtswidrig erfolgten. Entscheidend sei eine Abwägung zwischen dem Interesse des Beweisführers (hier: des Geschädigten) an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche, seinem im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von der Filmaufnahme Betroffenen (hier: des Beweisgegners) in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ggf. als Recht am eigenen Bild andererseits. Der BGH sprach dem zuerst genannten Interesse das höhere Gewicht zu.Ob das Urteil überzeugt, und ob die Entscheidungsgründe auch nach der ab dem 25.5.2018 geltenden DSGVO greifen, soll im Folgenden untersucht werden.
Dem Urteil des BGH lag folgender Sachverhalt
zugrunde (abgewandelt, um die Probleme des Falls zu fokussieren): Die Fahrzeuge von A und B waren innerorts beim Linksabbiegen auf zwei nebeneinander verlaufenden Linksabbiegespuren seitlich kollidiert. Die Beteiligten stritten darüber, wer von beiden seine Spur verlassen und die Kollision herbeigeführt hatte. Die Fahrt vor der Kollision und die Kollision wurden von einer Dashcam („Frontscheibenkamera“)
aufgezeichnet, die im Fahrzeug des A angebracht war. Diese war so konfiguriert, dass sie permanent und anlasslos das gesamte Geschehen auf und entlang der Fahrstrecke des A aufzeichnete. Im vorliegenden Fall ließ sich nur aufgrund der Aufzeichnung nachvollziehen, dass B einen Fahrfehler begangen hatte und die Kollision für A unvermeidbar gewesen war. Ohne die Dashcam-Aufzeichnung hätte der Beweis der Unfallverursachung nicht geführt werden können. B machte daher geltend, dass die Dashcam-Aufzeichnung wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts (hier: Recht am eigenen Bild) nicht verwertbar und die Klage daher abzuweisen sei.
Entscheidung
des BGH: Der BGH entschied, dass die vorgelegte Videoaufzeichnung nach den geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen unzulässig gewesen sei. Sie habe gegen § 4 BDSG verstoßen, da sie ohne Einwilligung der Betroffenen erfolgt sei und nicht auf § 6b I BDSG oder § 28 I BDSG gestützt werden konnte. Jedenfalls sei eine permanente anlasslose Aufzeichnung des gesamten Geschehens auf und entlang der Fahrstrecke zur Wahrnehmung von Beweissicherungsinteressen nicht erforderlich, denn es sei technisch möglich, eine kurze, anlassbezogene Aufzeichnung unmittelbar des Unfallgeschehens zu gestalten, beispielsweise durch ein dauerndes Überschreiben der Aufzeichnungen in kurzen Abständen und Auslösen der dauerhaften Speicherung erst bei Kollision oder starker Verzögerung des Fahrzeuges.
Dennoch sei die vorgelegte Videoaufzeichnung als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess verwertbar. Die Unzulässigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung führe im Zivilprozess nicht ohne weiteres zu einem Beweisverwertungsverbot. Über die Frage der Verwertbarkeit sei vielmehr aufgrund einer Interessen- und Güterabwägung nach den im Einzelfall gegebenen Umständen zu entscheiden. Die Abwägung zwischen dem Interesse des Beweisführers an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche, seinem im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beweisgegners in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ggf. als Recht am eigenen Bild andererseits führe zu einem Überwiegen der Interessen des A.
Das Geschehen habe sich im öffentlichen Straßenraum ereignet, in den sich B freiwillig begeben habe. Er habe sich durch seine Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Es seien nur Vorgänge auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet worden, die grundsätzlich für jedermann wahrnehmbar seien. Rechnung zu tragen sei auch der häufigen besonderen Beweisnot, die der Schnelligkeit des Verkehrsgeschehens geschuldet sei. Unfallanalytische Gutachten setzten verlässliche Anknüpfungstatsachen voraus, an denen es häufig fehle.
Der mögliche Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte anderer (mitgefilmter) Verkehrsteilnehmer führe nicht zu einer anderen Gewichtung. Denn ihrem Schutz sei vor allem durch die Regelungen des Datenschutzrechts Rechnung zu tragen, die nicht auf ein Beweisverwertungsverbot abzielten.
Verstöße gegen die datenschutzrechtlichen Bestimmungen könnten mit hohen Geldbußen geahndet werden und vorsätzliche Handlungen gegen Entgelt oder in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht seien mit Freiheitsstrafe bedroht. Im Übrigen könne die Aufsichtsbehörde mit Maßnahmen zur Beseitigung von Datenschutzverstößen steuernd eingreifen.
Schließlich sei im Unfallhaftpflichtprozess zu beachten, dass das Gesetz den Beweisinteressen des Unfallgeschädigten durch die Regelung des § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) ein besonderes Gewicht zugewiesen habe. Danach müsse ein Unfallbeteiligter die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und die Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglichen. Nach § 34 StVO seien auf Verlangen der eigene Name und die eigene Anschrift anzugeben, der Führerschein und der Fahrzeugschein (redaktionelle Korrektur: Gemeint ist die Zulassungsbescheinigung I i.S.d. § 11 FZV, die 2005 den Fahrzeugschein abgelöst hat) vorzuweisen sowie Angaben über die Haftpflichtversicherung zu machen.
Bewertung:
Der BGH unterscheidet zutreffend zwei Ebenen, die erste Ebene der Beweiserhebung und die zweite Ebene der (prozessualen) Beweisverwertung. Diese Unterscheidung ist dem deutschen (Prozess-)Recht generell nicht fremd.
Beweiserhebung: Der BGH gelangt zu Recht zu der Annahme einer verbotenen Beweiserhebung, da die permanente Videoüberwachung des öffentlichen (Verkehrs-)Raums gegen die genannten Vorschriften des Datenschutzrechts verstößt. Anders hätte es möglicherweise ausgesehen, wenn die Dashcam so konfiguriert gewesen wäre, dass die Aufnahmen automatisch wieder gelöscht worden wären, wenn nicht innerhalb einer bestimmten Zeit (30 Sekunden?) eine deutliche Erschütterung am Auto wahrgenommen worden wäre. Nur in diesem Fall wäre das Aufzeichnungssegment aus dem Zwischenspeicher dauerhaft auf die eingesetzte SD-Karte gespeichert worden. Für diese Art der Konfiguration lässt der BGH deutlich durchklingen, dass er von einer rechtmäßigen Datenerhebung ausgegangen wäre, was freilich die Frage aufgeworfen hätte, ob aus einer rechtmäßigen Beweiserhebung stets die Zulässigkeit auch der Beweisverwertung folgt.
Kommen wir zur Beweisverwertung: Sofern (wie in der vorliegenden Konstellation) kein gesetzliches Beweisverwertungsverbot besteht, entscheidet die Rechtsprechung unter Zugrundelegung der Abwägungstheorie. Geht es um eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, unterscheidet sie bei der Frage nach der Verwertbarkeit (rechtswidrig) gewonnener Beweismittel nach der betroffenen Persönlichkeitssphäre. Während - wie bereits im Aktuelles-Beitrag v. 11.4.2018 aufgezeigt - bei Beeinträchtigungen der Intimsphäre regelmäßig keine Verwertbarkeit angenommen wird, sind Beweismittel, die bei einem Eindringen in die Privatsphäre gewonnen werden, unter strengen Voraussetzungen verwertbar. Beweise, die beim Eindringen lediglich in die Sozialsphäre (und erst recht beim Eindringen lediglich in die Geschäftssphäre) erlangt wurden, unterliegen - wegen des Bezugs nach außen - weniger strengen Voraussetzungen (zur Sphärentheorie siehe R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, 12. Aufl. 2018, Rn. 666). Sollte man (mit dem Verfasser) der Sphärentheorie skeptisch gegenüberstehen (wegen der mitunter schwierigen Zuordnung zu einer Sphäre), kommt es primär darauf an, ob der Eingriff in den Kernbereich oder in den Randbereich erfolgt: Ist in den Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingegriffen worden, folgt aus der Absolutheit des Schutzes die Rechtswidrigkeit des Eingriffs, wobei auch hier nicht zweifelsfrei beantwortet werden kann, welche Gegenstände den Kernbereich ausmachen. Ist aber lediglich in den Randbereich (also den relativen Bereich) eingegriffen worden, findet eine Abwägung statt. Geht es um eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private, bedarf es regelmäßig einer praktischen Konkordanz zwischen den Grundrechten des Eingreifenden (insbesondere Art. 5 I und 5 III GG, aber auch Vermögensinteressen) und denen des Betroffenen (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) bzw. den Belangen der Allgemeinheit.
Auf welches Modell man auch abstellt, entscheidet bei der Frage nach der Verwertbarkeit vorliegend eine Abwägung (dazu R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, 12. Aufl. 2018, Rn. 666 ff. mit Verweis auf die zahlreich ergangene Rechtsprechung). Diese hat der BGH zugunsten des A an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche, seinem im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege entschieden.
Für die Rechtspraxis ist hinsichtlich des Einsatzes von Dashcams zu empfehlen, auf deren Einsatz zu verzichten. Hinsichtlich der Verwertbarkeit von Dashcam-Aufzeichnungen ist zu empfehlen, die Dashcam so zu konfigurieren, dass lediglich die letzten Sekunden vor dem schadensbegründenden Ereignis dauerhaft gespeichert werden. Auf keinen Fall sollten Dashcam-Aufzeichnungen auch über den Zweck der prozessualen Beweisführung hinaus verwendet werden, insbesondere nicht ins Internet gestellt werden.
Ausblick:
Ob diese BGH-Entscheidung vor dem Hintergrund der ab dem 25.5.2018 geltenden EU-Datenschutzgrundverordnung
(Verordnung (EU) 2016/679 - DSGVO) Bestand hat, soll im Folgenden untersucht werden. Die DSGVO hat gem. Art. 288 II S. 1 AEUV allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der EU (Art. 288 II S. 2 AEUV). Einer Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber, wie das bei EU-Richtlinien gem. Art. 288 III AEUV der Fall ist, bedarf es nicht. Freilich sind die Mitgliedstaaten befugt, den schmalen Abweichungs- und Gestaltungsspielraum, den die DSGVO einräumt, durch nationale Regelung auszuschöpfen.
1. Datenverarbeitung i.S.d. DSGVO, Art. 4 DSGVO
Zunächst
ist festzuhalten, dass auch die Datenerhebung und -speicherung Formen
der Datenverarbeitung i.S.d. DSGVO sind (siehe Art. 4 Nr. 2 DSGVO). Relevant sind
allein „personenbezogene Daten“, d.h. „alle Informationen, die sich auf
eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (betroffene
Person) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person
angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu
einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu
einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen
identifiziert werden kann, die Ausdruck der physischen, physiologischen,
genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen
Identität dieser natürlichen Person sind" (Art. 4 Nr. 1 DSGVO). Die Erfassung von Straßenverkehrsteilnehmern, und sei es auch nur von deren Kfz bzw. Kfz-Kennzeichen, fällt hierunter.
Art. 4 Nr. 2 DSGVO unterscheidet das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen und die Speicherung voneinander. Daraus wird man folgern müssen, dass auch die Erfassung der personenbezogenen Daten im Zwischenspeicher („Prerecording durch Zwischenspeicherung im Arbeitsspeicher“) von der DSGVO erfasst sein soll, nicht nur die Speicherung der letzten Sekunden vor der Kollision im Speicherchip (der SD-Karte). Dann aber ergeben sich große Probleme in Bezug auf die Informations- und Dokumentationspflicht nach Art. 13 DSGVO (und §§ 4 und 32 BDSG). Darauf wird später zurückzukommen sein.
2. Anwendbarkeit der DSGVO auf den Dashcam-Einsatz, Art. 2 und 3 DSGVO
Da die DSGVO für die Verarbeitung personenbezogener Daten gilt, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen (Art. 2 I DSGVO), und durch den Dashcam-Einsatz auch nicht nur personenbezogene Daten zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeitenverarbeitet werden (Art. 2 II lit. c) DSGVO),ist die DSGVO auch sachlich anwendbar. Der räumliche Anwendungsbereich der DSGVO ist damit jedenfalls eröffnet, sofern der Dashcam-Einsatz auf dem Gebiet der EU erfolgt (Art. 3 DSGVO).
Damit ist also geklärt, dass Dashcam-Aufzeichnungen vom Anwendungsbereich der DSGVO erfasst sind.
3. Grundsätze für die Datenverarbeitung, Art. 5 DSGVO
Nach Art. 5 I lit. a) DSGVO dürfen personenbezogene Daten nur auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden („Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz“). Hierbei wird man an die o.g. Anforderung anknüpfen müssen, wonach die Dashcam so zu konfigurieren ist, dass lediglich die letzten Sekunden vor dem schadensbegründenden Ereignis dauerhaft gespeichert werden.
Art. 5 I lit. b) Halbs. 1 DSGVO verlangt, dass Daten nur für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden dürfen. Auch das kann hinsichtlich des Dashcam-Einsatzes als Beweissicherungsmittel angenommen werden, wobei unklar ist, worin sich die „legitimen Zwecke" von der „rechtmäßigen Weise" und von „Treu und Glauben" i.S.d. Art. 5 I lit. a) DSGVO unterscheiden sollen.
Zudem muss gem. Art. 5 I lit. c) DSGVO der Dashcam-Einsatz dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein („Datenminimierung").
Der Dashcam-Einsatz muss gem. Art. 5 I lit. d) DSGVO sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden („Richtigkeit“).
Die erhobenen Daten müssen gem. Art. 5 I lit. e) DSGVO in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen nur so lange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist; personenbezogene Daten dürfen länger gespeichert werden, soweit die personenbezogenen Daten vorbehaltlich der Durchführung geeigneter technischer und organisatorischer Maßnahmen, die von dieser Verordnung zum Schutz der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person gefordert werden, ausschließlich für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke oder für wissenschaftliche und historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gemäß Artikel 89 Absatz 1 verarbeitet werden („Speicherbegrenzung“).
Art. 5 I lit. f) DSGVO verlangt schließlich, dass Daten in einer Weise verarbeitet werden, die eine angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten gewährleistet, einschließlich Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung und vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeabsichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen („Integrität und Vertraulichkeit“). Dies müsste der Dashcam-Betreiber gewährleisten.
Als „Verantwortlicher" i.S.d. DSGVO muss der Dashcam-Benutzer die Einhaltung der o.g. Grundsätze nachweisen können („Rechenschaftspflicht“), Art. 5 II DSGVO.
4. Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung, Art. 6 DSGVO
Nach der Systematik der DSGVOmuss zur Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung mindestens eine der inArt. 6 I S. 1 DSGVOformulierten Bedingungen erfüllt sein.
Da die von der Dashcam-Aufzeichnung betroffene Person kaum ihre Einwilligung (siehe zu deren Voraussetzungen Art. 7 DSGVO) zu der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegeben haben wird, scheidet Art. 6 I S. 1 lit. a) DSGVO evident aus.
Auch ist die Verarbeitungnicht erforderlichfür die Erfüllung eines Vertrags, dessen (mögliche) Vertragspartei die betroffene Person ist, Art. 6 I S. 1 lit. b) DSGVO, da kein (möglicher) Vertragspartner existiert. Insbesondere ist der spätere Unfallgegner kein (möglicher) Vertragspartner.
Es besteht auch keine rechtliche Verpflichtung zum Einsatz einer Dashcam, Art. 6 I S. 1 lit. c) DSGVO.
Auch ist ein Dashcam-Einsatz nicht erforderlich, um lebenswichtige Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person zu schützen, Art. 6 I S. 1 lit. d) DSGVO.
Die mit dem Dashcam-Einsatz verbundene Datenverarbeitung ist auch nicht für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, Art. 6 I S. 1 lit. e) DSGVO.
Allenfalls lässt sich begründen, dass die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, Art. 6 I S. 1 lit. f) DSGVO. Dies wäre dann mittels umfassender Güterabwägung festzustellen, dürfte aber ebenfalls zu verneinen sein.
In jedem Fall muss der Dashcam-Betreiber die in Art. 6 IV DSGVO genannte Zweckbindung beachten.
5. Informationspflicht, Art. 13 DSGVO
Nach Art. 13 I, II DSGVO müssen zur Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung die in der Vorschrift formulierten Bedingungen erfüllt sein. So muss gem. Art. 13 I DSGVO derVerantwortliche (das ist der Dashcam-Benutzer, sofern keine andere Person dahinter steht, etwa bei Firmenfahrzeugen), derpersonenbezogene Daten bei der betroffenen Person erhebt, der betroffenen Person zum Zeitpunkt der Erhebung dieser Daten Folgendes mitteilen:
- den Namen und die Kontaktdaten des Verantwortlichen sowie ggf. seines Vertreters,
- ggf. die Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten,
- die Zwecke, für die die personenbezogenen Daten verarbeitet werden sollen, sowie die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung,
- wenn die Verarbeitung auf Art. 6 I lit. f) DSGVO beruht, die berechtigten Interessen, die von dem Verantwortlichen oder einem Dritten verfolgt werden,
- ggf. die Empfänger oder Kategorien von Empfängern der personenbezogenen Daten,
- ggf.
die Absicht des Verantwortlichen, die personenbezogenen Daten an ein
Drittland oder eine internationale Organisation zu übermitteln (...).
Gemäß Art. 13 II DSGVO muss der Verantwortliche zusätzlich zu den Informationen gem. Art. 13 I DSGVO der betroffenen Person zum Zeitpunkt der Erhebung dieser Daten folgende weitere Informationen zur Verfügung stellen, die notwendig sind, um eine faire und transparente Verarbeitung zu gewährleisten:
- die Dauer, für die die personenbezogenen Daten gespeichert werden, oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer,
- das Bestehen eines Rechts auf Auskunft seitens des Verantwortlichen über die betreffenden personenbezogenen Daten sowie auf Berichtigung oder Löschung oder auf Einschränkung der Verarbeitung oder eines Widerspruchsrechts gegen die Verarbeitung sowie des Rechts auf Datenübertragbarkeit,
- wenn die Verarbeitung auf Art. 6 I lit. a) oder Art. 9 II lit. a) DSGVO beruht, das Bestehen eines Rechts, die Einwilligung jederzeit zu widerrufen, ohne dass die Rechtmäßigkeit der aufgrund der Einwilligung bis zum Widerruf erfolgten Verarbeitung berührt wird,
- das Bestehen eines Beschwerderechts bei einer Aufsichtsbehörde,
- ob die Bereitstellung der personenbezogenen Daten gesetzlich oder vertraglich vorgeschrieben oder für einen Vertragsabschluss erforderlich ist, ob die betroffene Person verpflichtet ist, die personenbezogenen Daten bereitzustellen, und welche mögliche Folgen die Nichtbereitstellung hätte,
- das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling gemäß Art. 22 I, IV DSGVO und - zumindest in diesen Fällen - aussagekräftige Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung für die betroffene Person.
Beabsichtigt der Verantwortliche, die personenbezogenen Daten für einen anderen Zweck weiterzuverarbeiten als den, für den die personenbezogenen Daten erhoben wurden, stellt er gem. Art. 13 III DSGVO der betroffenen Person vor dieser Weiterverarbeitung Informationen über diesen anderen Zweck und alle anderen maßgeblichen Informationen gemäß Art. 13 II DSGVO zur Verfügung.
Reflektiert man also die in Art. 13 I-III DSGVO genannten Informationspflichten, wird deutlich, dass deren Einhaltung von Dashcam-Betreibernin der Praxis äußerst schwierig sein dürfte. Eine Ausnahme enthält zwar Art. 13 IV DSGVO, die aber kaum vorliegen dürfte.
6. Dokumentationspflichten, Art. 30 DSGVO
Zudem bestehen etliche Dokumentationspflichten. Gemäß Art. 30 I S. 1 DSGVO muss jeder Verantwortliche (und ggf. sein Vertreter) ein (schriftliches oder elektronisches, siehe Art. 30 III DSGVO) Verzeichnis aller Verarbeitungstätigkeiten führen, die seiner Zuständigkeit unterliegen. Dieses Verzeichnis hat gem. Art. 30 I S. 2 DSGVO folgende Angaben zu enthalten:
- den Namen und die Kontaktdaten des Verantwortlichen und ggf. des gemeinsam mit ihm Verantwortlichen, des Vertreters des Verantwortlichen sowie eines etwaigen Datenschutzbeauftragten,
- die Zwecke der Verarbeitung,
- eine Beschreibung der Kategorien betroffener Personen und der Kategorien personenbezogener Daten,
- die Kategorien von Empfängern, gegenüber denen die personenbezogenen Daten offengelegt worden sind oder noch offengelegt werden, einschließlich Empfänger in Drittländern oder internationalen Organisationen,
- ggf. Übermittlungen von personenbezogenen Daten an ein Drittland oder an eine internationale Organisation (...),
- wenn möglich, die vorgesehenen Fristen für die Löschung der verschiedenen Datenkategorien,
- wenn möglich, eine allgemeine Beschreibung der technischen und organisatorischen Maßnahmen gem. Art. 32 I DSGVO.
Wie sich aus Art. 30 V Halbs. 1 DSGVO ergibt, besteht die Dokumentationspflicht in jedem Fall für Unternehmen oder Einrichtungen mit mind. 250 Beschäftigten. Das heißt aber nicht, dass Unternehmen bzw. Einrichtungen mit weniger als 250 Beschäftigten stets von der Dokumentationspflicht ausgenommen wären. Auch für diese gilt gem. Art. 30 V Halbs. 2 DSGVO die Dokumentationspflicht nach Art. 30 I, II DSGVO, wenn
- die Verarbeitung der Daten ein Risiko für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen birgt,
- die Verarbeitung nicht nur gelegentlich erfolgt oder
- eine Verarbeitung
besonderer Datenkategorien gem. Art. 9 I DSGVO (z.B. Daten zu religiösen
und politischen Weltanschauungen) oder von Daten über strafrechtliche
Verurteilungen und Straftaten gem. Art. 10 DSGVO erfolgt.
Liegt also auch nur eine
dieser Gegenausnahmen vor, bleibt es bei der Dokumentationspflicht, unabhängig von der Größe des Unternehmens bzw. der Einrichtung.
Was bedeutet dies nun für Dashcam-Benutzer? Klar dürfte sein, dass die mit dem Betrieb der Dashcam verbundene Datenerhebung (und damit Datenverarbeitung i.S.d. Art. 4 Nr. 2 DSGVO) nicht nur gelegentlich erfolgt, was zur Annahme der genannten umfangreichen Dokumentationspflicht führen könnte. Allerdings ist Art. 30 DSGVO ganz offenbar auf Wirtschaftsteilnehmer zugeschnitten. Das ergibt sich auch aus Erwägungsgrund 13 der DSGVO, der von „Wirtschaftsteilnehmern einschließlich Kleinstunternehmen sowie kleiner und mittlerer Unternehmen" spricht. Rein private Dashcam-Benutzer dürften also von der Dokumentationspflicht ausgenommen sein. Ob der Begriff „Wirtschaftsteilnehmer" aber Berufspendler erfasst, also Personen, die mit ihrem Privat-Kfz zur Arbeitsstätte fahren, hängt davon ab, ob man den Begriff weit oder eng auslegt. Eine Auslegungshilfe bietet immerhin S. 4 des Erwägungsgrundes 13 der DSGVO, wonach die Organe und Einrichtungen der Union sowie die Mitgliedstaaten und deren Aufsichtsbehörden dazu angehalten werden, bei der Anwendung dieser Verordnung die besonderen Bedürfnisse von Kleinstunternehmen sowie von kleinen und mittleren Unternehmen zu berücksichtigen. Ob sich - gerade mit Blick auf die empfindlichen Sanktionen - die Aufsichtsbehörden tatsächlich daran orientieren oder zumindest von den Gerichten zu einer restriktiven Auslegung angehalten werden, bleibt abzuwarten.Das
selbst gesteckte Ziel, mit der DSGVO „Rechtssicherheit" zu schaffen (S.
1 des Erwägungsgrundes 13 der DSGVO), dürfte jedenfalls insoweit eher als verfehlt anzusehen sein.
Zwischenfazit:
Auch private Dashcam-Benutzer müssen die strengen Vorgaben der DSGVO beachten:
- So darf der Einsatz nur zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erfolgen und muss die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, Art. 6 I S. 1 lit. f) DSGVO, was mittels umfassender Güterabwägung festzustellen wäre. Die Voraussetzungen für den Einsatz dürften aber zu verneinen sein.
- Der Dashcam-Betreiber muss die in Art. 6 IV DSGVO genannte Zweckbindung beachten.
- Er hat die in Art. 13 I-III DSGVO genannten Informationspflichten zu beachten (die in Art. 13 IV DSGVO genannte Ausnahme dürfte kaum vorliegen). Das gilt jedenfalls für die auf dem Festspeicher (d.h. der SD-Karte) gespeicherte Videosequenz und ist hinsichtlich der temporären Speicherung unklar, siehe dazu Punkt 8.
- Ob dagegen der rein private Dashcam-Betreiber auch die nach Art. 30 I, II DSGVO umfangreichen Dokumentationspflichten (Verzeichnispflichten) hat, dürfte zu verneinen sein.
7. Ergänzende Regelungen nach dem BDSG
Da es beim Dashcam-Einsatz um die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) geht, ist (auch) § 4 BDSG
zu beachten, der den kleinen Gestaltungsspielraum der DSGVO ausschöpft. Gemäß Abs. 1 S. 1 Nr. 3 dieser Vorschrift ist die Videoüberwachung (nur) zulässig, soweit sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. Aber auch hierbei sind gem. § 4 II BDSG der Umstand der Beobachtung und der Name und die Kontaktdaten des Verantwortlichen durch geeignete Maßnahmen zum frühestmöglichen Zeitpunkt erkennbar zu machen. Zudem ist gem. § 4 III S. 1 BDSG die Speicherung oder Verwendung der erhobenen Daten (nur) zulässig, wenn sie zum Erreichen des verfolgten Zwecks erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen.
Werden die durch den Dashcam-Einsatz erhobenen Daten einer bestimmten Person zugeordnet, besteht gem. § 4 IV S. 1 BDSG zunächst die (bereits dargestellte) Pflicht zur Information der betroffenen Person über die Verarbeitung gem. Art. 13 und 14 DSGVO. Allerdings ordnet § 4 IV S. 2 BDSG die entsprechende Geltung des § 32 BDSG an, der wiederum umfangreiche Informationspflichten, aber auch Ausnahmen enthält. Im Fall des Dashcam-Einsatzes kommt allein § 32 I Nr. 4 BDSG in Betracht. Danach besteht die Pflicht zur Information der betroffenen Person nicht, wenn die Erteilung der Information über die beabsichtigte Weiterverarbeitung die Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung rechtlicher Ansprüche beeinträchtigen würde und die Interessen des Verantwortlichen an der Nichterteilung der Information die Interessen der betroffenen Person überwiegen. Also auch hier findet die genannte Abwägung statt, die sich freilich an der DSGVO und deren Erwägungsgründen zu orientieren hat.
8. Teleologische Einschränkung des Begriffs der Datenerhebung
Da der Erlass der DSGVO maßgeblich von der bislang geltenden deutschen Rechtslage geprägt war, stellt sich die Frage, ob die dazu ergangene Auslegung des BVerfG fruchtbar gemacht werden kann. Konkret geht es um die Rechtsprechung bzgl. der präventivpolizeilichen automatisierten Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen zwecks Abgleichs mit dem Fahndungsbestand (d.h. um den Einsatz von Kennzeichenlesesystemen bei Verkehrskontrollen). Sofern dabei Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer Person unbegrenzt speicherbar und jederzeit und ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind, liegt nach zutreffender Auffassung des BVerfG ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG) vor. Das gilt nach Auffassung des BVerfG auch dann, wenn das geschützte Rechtsgut nicht konkret beeinträchtigt ist. Denn eine Beeinträchtigung dieses Grundrechts könne auch im Vorfeld konkreter Bedrohung der informationellen Selbstbestimmung entstehen. Allein mit dem Bestehen vielfältiger Nutzungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten sei eine solche abstrakte Gefährdung des Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG gegeben (BVerfGE 120, 378, 397 ff.). Zu einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung komme es nur dann nicht, wenn der (automatisierte) Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen werde und negativ ausfalle (also im sog. Nichttrefferfall) und zusätzlich rechtlich und technisch gewährleistet sei, dass die Daten anonym blieben und sofort gelöscht würden, ohne dass die Möglichkeit bestehe, einen Personenbezug herzustellen. Denn in diesen Fällen begründe die Datenerfassung keine Gefährdung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 120, 378, 397 ff.; vgl. auch BVerwG NVwZ 2015, 806, 907 f.).
Überträgt man diese inhaltlich zutreffende Auslegung des Begriffs der Datenerhebung auf die DSGVO, lässt sich m.E. gut vertreten, die Erfassung anderer Verkehrsteilnehmer lediglich im Temporärspeicher (Arbeitsspeicher) der Dashcam nicht als "Erhebung" i.S.d. Art. 4 Nr. 2 DSGVO anzusehen. Dann wäre der Dashcam-Einsatz insoweit rechtmäßig und es bestünden zumindest in Bezug auf die Erfassung der personenbezogenen Daten im Zwischenspeicher (also das „Prerecording") auch keine Informations- und Dokumentationspflichten.
Folgt man diesem Gedanken nicht und liegt kein Entbehrlichkeitsgrund vor, ist der Einsatz der Dashcam generell unzulässig, wenn der Betreiber nicht die genannten strengen Vorgaben beachtet. Zwar würde sich dadurch wohl nichts an der Verwertbarkeit der Dashcam-Aufzeichnung für den Schadensersatzprozess ändern, allerdings wäre durch die Einbringung der Dashcam-Aufzeichnung als Beweismittel zugleich der Beweis für die rechtswidrige Verwendung der Dashcam gegeben. Die dann folgenden Sanktionen (Art. 83 DSGVO und Art. 84 DSGVO i.V.m. §§ 41-43 BDSG) könnten so schwerwiegend sein, dass man nur generell vom Einsatz von Dashcams abraten kann. Zu nennen ist insbesondere die Androhung von Geldbußen nach Art. 83 DSGVO. Zudem droht die präventivpolizeiliche Sicherstellung der Dashcam durch die Polizei wegen Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit.
Es bleibt also abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung künftig positionieren wird.
R. Schmidt
(19.5.2018)
5.5.2018: Zur Frage nach der Erstattung von Kosten für die Unterbringung eines verwilderten Hundes unter dem Aspekt der öffentlich-rechtlichen GoA
BVerwG, Urteil v. 26.4.2018 – 3 C 24.16
Mit Urteil v. 26.4.2018 hat das BVerwG (3 C 24.16) entschieden, dass eine Gemeinde Kosten für die Unterbringung eines verwilderten Hundes im Tierheim nicht vom Landkreis erstattet verlangen kann. Ein verwilderter Hund ohne feststellbaren Besitzer unterliege dem Fundrecht. Er sei nicht als herrenlos zu behandeln, weil die Aufgabe des Eigentums durch Besitzaufgabe (Dereliktion, § 959 BGB) gegen das Verbot verstoße, ein in menschlicher Obhut gehaltenes Tier auszusetzen, um sich seiner zu entledigen (§ 3 S. 1 Nr. 3 TierSchG). Eine Gemeinde, die einen solchen Hund an sich nehme und in einem Tierheim unterbringe, erfülle damit eine eigene Aufgabe als Fundbehörde und könne von einer anderen Behörde nicht den Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Wie bei R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, 12. Aufl. 2018, Rn. 38 ff. erläutert, geht es bei der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) ganz allgemein darum, dass jemand (der Geschäftsführer) ein Geschäft für einen anderen (den Geschäftsherrn) besorgt, ohne dabei von ihm beauftragt oder sonst ihm gegenüber berechtigt zu sein (vgl. § 677 BGB). Ist die GoA berechtigt, stehen dem Geschäftsführer Ersatz seiner Aufwendungen zu (§ 683 BGB); anderenfalls ist der Geschäftsführer zum Schadensersatz verpflichtet (§ 678 BGB), kann aber Herausgabe desjenigen verlangen, was der Geschäftsherr durch die Geschäftsführung erlangt hat (§ 684 BGB). Berechtigt ist die GoA, wenn sie dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht oder der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Pflicht dient (§ 683 BGB). Nach allgemeiner Auffassung in der Rechtsprechung sind die Regelungen der GoA auch im öffentlichen Recht anwendbar, sofern keine speziellen Vorschriften des öffentlichen Rechts (wie z.B. § 25 SGB XII, § 8 VwVfG oder die Regelungen über die Erstattung von Kosten und Auslagen nach den Gefahrenabwehrgeset-zen) greifen (vgl. etwa BGH NJW 2017, 397, 398; BVerwGE 80, 170, 172 f.; 48, 279, 285; 18, 429, 436; BVerwG NVwZ 2000, 433; BGHZ 156, 394, 398 ff.; BGH NVwZ 2008, 349 f.; NVwZ 2016, 870, 872; VGH Kassel NJW 2018, 964 ff.; Oechsler, JuS 2016, 215 ff.). Voraussetzung ist aber stets, dass ein öffentlich-rechtlicher Charakter der GoA besteht, was wiederum dann angenommen werden kann, wenn die vom Ge-schäftsführer wahrgenommene Aufgabe öffentlich-rechtlich ist (insoweit bestätigend BVerwG 26.4.2018 – 3 C 24.16). Darum ging es im vorliegenden Fall.
Dem Urteil des BVerwG lag folgender Sachverhalt
zugrunde (abgewandelt, um die Probleme des Falls zu fokussieren): Auf dem Gebiet der Gemeinde G wurde ein verwilderter Hund aufgefunden. Das Landratsamt, das Tierschutzbehörde ist, lehnte es ab, den Hund unterzubringen. Darauf kündigte G an, das Tier selbst unterzubringen und die Kosten dem Landkreis L in Rechnung zu stellen. L lehnte es nachfolgend ab, G die Aufwendungen für den Transport und die Unterbringung des Hundes zu ersetzen, weil es sich um ein Fundtier gehandelt habe und somit kein Kostenerstattungsanspruch bestehe.
Lösung:
Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Aufwendungsersatzanspruch könnte §§ 683 S. 1, 670 BGB sein. Das aber setzt eine berechtigte GoA gem. § 677 BGB voraus. Der Fremdgeschäftsführungswille lässt sich auf § 967 BGB i.V.m. Art. 20a GG stützen. G handelte auch ohne Auftrag oder sonstige gegenüber L bestehende Berechtigung. Ob aber die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des L entspricht (vgl. § 683 S. 1 BGB), ist zweifelhaft. Dies kann jedoch dahinstehen, wenn die Geschäftsübernahme zumindest im objektiven Interesse von L gewesen ist und der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Pflicht des L (siehe §§ 683 S. 2, 679 BGB) gedient hat. Zweifellos gehört der Tierschutz allein schon wegen Art. 20a GG zum öffentlichen Interesse jeder staatlichen Stelle und damit auch des L. Allerdings ist die öffentlich-rechtliche Pflicht des L zur Unterbringung des Hundes zweifelhaft. Eine solche Pflicht bestünde nur dann, wenn eine gesetzliche Vorschrift sie anordnete. Handelte es sich bei dem Hund um eine „Fundsache“ und wäre L „Fundbehörde“, wäre er gem. § 967 BGB zur Unterbringung verpflichtet.
Der Hund müsste also zunächst eine „Fundsache“ sein. Bezüglich des Wortbestandteils „Sache“ ist zu beachten, dass Tiere wegen § 90a S. 1 BGB zwar keine Sachen sind, jedoch wegen § 90a S. 3 BGB die Vorschriften über Sachen entsprechend anwendbar sind. Der Begriff „Fund“ bezieht sich gem. § 965 I BGB nur auf verlorene Sachen. Dies sind Sachen, die besitzlos, aber nicht herrenlos sind (siehe nur Herrler, in: Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, Vorbem vor § 965 Rn. 1). Besitzlos sind Sachen, über die keine von einem Sachherrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft besteht (siehe nur Herrler, in: Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, § 960 Rn. 3), was sich nach der Verkehrsauffassung bemisst und für den vorliegenden Fall bejaht werden kann. Herrenlos sind Sachen, die in niemandes Eigentum stehen. Daher sind vorliegend die Eigentumsverhältnisse zu prüfen. Der Hund wurde offenbar ausgesetzt. Ausgesetzte Wildtiere werden herrenlos gem. § 960 III BGB. Bei Haustieren führt die Aussetzung aber nicht zur Begründung der Wildtiereigenschaft (Herrler, in: Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, § 854 Rn. 2-4; zum Sachherrschaftswillen vgl. BGH NZM 2013, 204, 205). Die Herrenlosigkeit des ausgesetzten Hundes könnte sich jedoch aus § 959 BGB (Dereliktion: Eigentumsaufgabe durch Besitzaufgabe) ergeben.
Im Katzenfall (es ging um einen Anspruch gegen die Gemeinde auf Erstattung der Kosten für eine privat veranlasste Kastration freilebender Katzen, die von ausgesetzten Katzen abstammten) hat der VGH Kassel (NJW 2018, 964) entschieden, dass § 959 BGB vorliege. Insbesondere scheitere eine Dereliktion nicht an § 3 S. 1 Nr. 3 TierSchG. Zwar sei es nach dieser Vorschrift verboten, ein in menschlicher Obhut gehaltenes Tier auszusetzen, um sich seiner zu entledigen, jedoch sei diese Vorschrift nicht als ein Dereliktionsverbot zu betrachten. Die Vorschrift wende sich nicht ausschließlich an den Eigentümer, weil auch eine andere Person ein Tier aussetzen könne, und schließe die Möglichkeit der Dereliktion nicht aus, da nur gewisse Verhaltensweisen im allgemeinen öffentlichen Ordnungsinteresse gewährleistet werden sollen, für die die Eigentumslage irrelevant sei. Der Eigentümer werde dadurch auch nicht unbilligerweise aus seiner Verantwortung entlassen, denn nach § 7 III des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung könnten ordnungsrechtliche Maßnahmen auch gegen den früheren Eigentümer einer herrenlosen Sache gerichtet werden, der das Eigentum an der Sache aufgegeben habe. Nach der gegenteiligen Ansicht würde sich das Eigentum an dem Muttertier auch an den Jungtieren und über Generationen hinweg an den Abkömmlingen der weiblichen Tiere fortsetzen. Ein derartiges Verständnis wäre bei verwilderten Katzenpopulationen nicht sachgerecht, denn die Eigentumsverhältnisse wären völlig unüberschaubar (VGH Kassel NJW 2018, 964, 965). Auf den vorliegenden Fall übertragen hieße das: Auch der verwilderte Hund wäre herrenlos gewesen mit der Folge, dass Ansprüche aus Fund, die über die GoA geltend gemacht werden könnten, ausscheiden.
Allerdings stellt das BVerwG zu Recht fest, dass ein verwilderter Hund ohne feststellbaren Besitzer nicht als herrenlos zu behandeln sei, weil eine Dereliktion sehr wohl an § 3 S. 1 Nr. 3 TierSchG scheitere (BVerwG 26.4.2018 – 3 C 24.16). Folgt man dem, wird ein Haustier durch Aussetzung daher zwar besitzlos, allerdings nicht herrenlos, sondern verbleibt im Eigentum des Eigentümers. Ansprüche aus Fund wären demnach nicht ausgeschlossen.
Für die Auffassung des BVerwG sprechen Tierschutzaspekte, die über Art. 20a GG Verfassungsrang haben. Wer ein Haustier aussetzt, bleibt Eigentümer und wird gem. §§ 953, 99 BGB auch Eigentümer der Abkömmlinge. Darin ist keine Unbilligkeit oder Unzumutbarkeit zu sehen, hat es der Eigentümer ja in der Hand, diese Folge durch Unterlassen der Aussetzung oder zumindest durch Vornahme einer vorherigen Kastration zu verhindern.
Zwischenergebnis: Ausgesetzte Haustiere verbleiben im Eigentum und unterliegen u.a. dem Fundrecht. Das gilt auch für einen verwilderten Hund ohne feststellbaren Besitzer.
Zu klären ist damit lediglich noch, ob L „Fundbehörde“ ist und damit gem. § 967 BGB zur Unterbringung verpflichtet war. Die zuständige Behörde i.S.d. §§ 965-967 und 973-976 BGB bestimmt sich nach Landesrecht. Der vom BVerwG entschiedene Fall trug sich in Sachsen zu. In Sachsen sind gem. § 2 I Sächsische Gemeindeordnung i.V.m. §§ 967, 90a BGB die Gemeinden für die Inobhutnahme von Fundtieren zuständig (in der Freien und Hansestadt Hamburg ist ein zentrales Fundbüro eingerichtet; zudem werden vom Eigentümer bzw. Verlierer Verwahrungsgebühren erhoben). Indem G den Hund an sich genommen und untergebracht hat, hat sie also eine eigene Aufgabe als Fundbehörde und keine Pflicht des L (siehe §§ 683 S. 2, 679 BGB) wahrgenommen. Ihre Aufwendungen hat sie daher selbst zu tragen.
Stellungnahme:
Wie bereits zum Ausdruck gebracht, ist dem BVerwG vollumfänglich zuzustimmen. Ausgesetzte Haustiere werden mitunter zwar besitzlos, aber nicht herrenlos, da eine wirksame Dereliktion insoweit an § 3 S. 1 Nr. 3 TierSchG scheitert. Es handelt sich bei ausgesetzten Haustieren, die entdeckt und in Besitz genommen werden, somit um "Fundsachen" i.S.d. §§ 965 ff. BGB. Gemäß § 966 BGB ist der Finder (zunächst) zur Verwahrung verpflichtet, er ist gem. § 967 BGB jedoch berechtigt und auf Anordnung der zuständigen Behörde verpflichtet, die Sache an die zuständige Behörde abzuliefern. Die zuständige Behörde i.S.d. §§ 965-967 und 973-976 BGB bestimmt sich wie oben ausgeführt nach Landesrecht, das in aller Regel die jeweiligen Gemeinden als zuständige Behörde benennt. Selbstverständlich haben auch die Fundbehörden – wie die Finder – eine Erhaltungspflicht (davon geht auch BVerwG 26.4.2018 – 3 C 5.16, 3 C 6.16, 3 C 7.16 aus), im Falle von Tieren also eine Versorgungs- bzw. Unterbringungspflicht, die den Anforderungen des TierSchG genügen muss. Daher war die Entscheidung, dass die Gemeinde selbst die Unterbringungskosten zu tragen hat und diese nicht auf den Landkreis abwälzen kann, korrekt. Sollte sich der derelinquierende Eigentümer ermitteln lassen (was für den Fall, dass der Hund mit einem Transponder versehen ist, sehr wahrscheinlich ist), ist zu prüfen, ob ein Verwahrungskostenanspruch nach öffentlich-rechtlichem Gebührenrecht besteht.
Ergebnis:
G hat gegen L keinen Aufwendungsersatzanspruch aus öffentlich-rechtlicher GoA gem. §§ 683 S. 1, 670 BGB.
R. Schmidt
(5.5.2018)
11.4.2018: Zulässigkeit der Verbreitung ungenehmigter Filmaufnahmen aus "Bio-Hühnerställen"
BGH, Urteil v. 10.4.2018 – VI ZR 396/16
Mit Urteil v. 10.4.2018 hat der BGH (VI ZR 396/16) über die Zulässigkeit der Verbreitung ungenehmigter Filmaufnahmen aus "Bio-Hühnerställen" entschieden. Ging es also im am 25.3.2018 vom Verfasser besprochenen Fall des OLG Naumburg um die Frage nach der Rechtfertigung eines Hausfriedensbruchs, den Tierschützer begangen hatten, um Missstände aufzudecken (siehe Aktuelles-Beitrag v. 25.3.2018), war Gegenstand der Entscheidung des BGH die Frage, ob die Verbreitung von (illegal hergestellten) Filmaufnahmen im Fernsehen zulässig ist oder ob dem das aus einer Gesamtschau aus Art. 14 I GG, 12 I GG und Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG hergeleitete Unternehmerpersönlichkeitsrecht bzw. das Recht auf Geheimhaltung unternehmensbezogener Umstände entgegensteht. Bezeichnenderweise geht der BGH offenbar davon aus, dass der Hausfriedensbruch nicht gerechtfertigt war.
Dem BGH-Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um die Probleme des Falls zu fokussieren): K ist Betreiber eines ökologisch arbeitenden Betriebs, der Ackerbau und Hühnerhaltung betreibt. Eines Nachts drang T, der sich für den Tierschutz engagiert, in die Hühnerställe des K ein und fertigte dort Filmaufnahmen. Die Aufnahmen zeigen u.a. Hühner mit unvollständigem Federkleid und tote Hühner. T überließ die Aufnahmen dem Fernsehsender A, der sie exklusiv unter dem Titel "Wie billig kann Bio sein?" und später unter dem Titel "Biologische Tierhaltung und ihre Schattenseiten" ausstrahlte. Die Beiträge befassen sich u.a. mit den Auswirkungen, die die Aufnahme von Bio-Erzeugnissen in das Sortiment der Supermärkte und Discounter zur Folge hat, und werfen die Frage auf, wie preisgünstig Bio-Erzeugnisse sein können.
Das Landgericht verurteilte A antragsgemäß, es zu unterlassen, im Einzelnen näher bezeichnete Bildaufnahmen zu verbreiten, die verpackte Waren, tote Hühner oder solche, die ein unvollständiges Federkleid haben, eine umzäunte Auslauffläche und die Innenaufnahme eines Hühnerstalls zeigen. Die von A eingelegte Berufung beim OLG hatte keinen Erfolg. Mit der vom OLG zugelassenen Revision verfolgte A ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.
Die Entscheidung des BGH: Der BGH hat der von A eingelegten Revision stattgegeben und die Klage des K abgewiesen. Die Verbreitung der Filmaufnahmen verletze weder das Unternehmerpersönlichkeitsrecht des K noch sein Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Zwar seien die Filmaufnahmen - die eine Massentierhaltung dokumentieren und tote oder nur mit unvollständigem Federkleid versehene Hühner zeigen - geeignet, das Ansehen und den wirtschaftlichen Ruf des K in der Öffentlichkeit zu beeinträchtigen. Auch sei der BGH davon ausgegangen, dass die Ausstrahlung der nicht genehmigten Filmaufnahmen das Interesse des K berührt, ihre innerbetriebliche Sphäre vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Diese Beeinträchtigungen seien aber nicht rechtswidrig. Das von A verfolgte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihr Recht auf Meinungs- und Medienfreiheit überwögen das Interesse des K am Schutz ihres sozialen Geltungsanspruchs und ihre unternehmensbezogenen Interessen. Dies gelte trotz des Umstands, dass die veröffentlichten Filmaufnahmen von T rechtswidrig hergestellt worden waren. A habe sich an dem von T begangenen Hausfriedensbruch nicht beteiligt. Mit den beanstandeten Aufnahmen wurden keine Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse des K offenbart. Die Aufnahmen hätten vielmehr die Art der Hühnerhaltung dokumentiert. Die Öffentlichkeit habe grundsätzlich ein berechtigtes Interesse an einer näheren Information über diese Umstände. Die Filmaufnahmen informierten den Zuschauer zutreffend. Sie transportierten keine unwahren Tatsachenbehauptungen, sondern gäben die tatsächlichen Verhältnisse in den Ställen zutreffend wieder. Mit der Ausstrahlung der Filmaufnahmen habe A einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geleistet. Die Filmberichterstattung setze sich unter den Gesichtspunkten der Verbraucherinformation und der Tierhaltung kritisch mit der Massenproduktion von Bio-Erzeugnissen auseinander und zeige die Diskrepanz auf zwischen den nach Vorstellung vieler Verbraucher gegebenen, von Erzeugern oder Erzeugerzusammenschlüssen wie dem von K herausgestellten hohen ethischen Produktionsstandards einerseits und den tatsächlichen Produktionsumständen andererseits. Es entspreche der Aufgabe der Presse als "Wachhund der Öffentlichkeit", sich mit diesen Gesichtspunkten zu befassen und die Öffentlichkeit zu informieren. Die Funktion der Presse sei nicht auf die Aufdeckung von Straftaten oder Rechtsbrüchen beschränkt.
Bewertung: Dem BGH ist - jedenfalls, was die Rechtmäßigkeit der Verbreitung betrifft - vollumfänglich zuzustimmen. Die genannten unternehmensbezogenen Grundrechte müssen bei einer (im Rahmen von § 1004 BGB vorzunehmenden) Abwägung mit dem widerstreitenden Informationsinteresse der Gesellschaft hinsichtlich Missstände auch und gerade in der ökologischen Tierhaltung sowie der Medien- bzw. Rundfunkfreiheit des A zurücktreten. Im Übrigen sei auf die Argumentation des BGH verwiesen. Ob der BGH zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn A sich an dem in den Augen des BGH rechtswidrigen Hausfriedensbruch beteiligt hätte, ist unklar. Wäre dies einerlei, hätte der BGH nicht angeführt, dass sich A an dem von T begangenen Hausfriedensbruch nicht beteiligt habe. Es steht zu befürchten, dass der BGH mitunter zur Unzulässigkeit der Verbreitung der Filmaufnahmen gelangt wäre, wenn A sich am Hausfriedensbruch beteiligt hätte.
Nicht zu folgen ist dem BGH indes hinsichtlich der von ihm angenommenen Rechtswidrigkeit des Hausfriedensbruchs. Wie bereits im Aktuelles-Beitrag v. 25.3.2018 aufgezeigt, hat das OLG Naumburg mit Urteil v. 22.2.2018 (Az. 2 Rv 157/17) zu Recht die Vorinstanzen bestätigt und entschieden, dass das Eindringen in Stallanlagen durch Tierschützer, die dort eklatante Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen filmen wollten, um die Aufnahmen anschließend den Behörden vorzulegen sowie Strafanzeige zu stellen, zwar den Tatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 I StGB) verwirklicht habe, jedoch gerechtfertigt gewesen sei. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sich der BGH auch zu dieser Frage inhaltlich geäußert und eine inzidente Strafbarkeitsprüfung vorgenommen hätte (statt beiläufig in einem "obiter dictum" schlicht auf den "strafbaren Hausfriedensbruch" zu verweisen). Dann wäre die Frage nach dem Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands zugunsten von Tieren höchstrichterlich (wenn auch "nur" von einem Zivilsenat) geklärt worden, in der Hoffnung, dass der BGH (nicht im Eigentum des Notstandsübenden stehende) Tiere dann als notstandsfähig angesehen hätte. Leider ist nach diesem Urteil vom Gegenteil auszugehen. Immerhin gelangt der BGH trotz offensichtlicher Annahme eines strafbaren Verhaltens des T zur Rechtmäßigkeit der Verbreitung des A, obwohl man davon ausgehen muss, dass A über die Art und Weise der Beschaffung der Bildaufnahmen informiert war oder diese zumindest für ihn klar erkennbar war. Diese Annahme erinnert an die Frage nach der "Fernwirkung" von Beweisverboten, also an die Frage, inwieweit unter Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften gewonnene Beweisergebnisse im Strafprozess verwertet werden dürfen. Im Zivil(prozess)recht firmiert diese Problematik unter der Frage, ob aus einem Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot folgt. Sofern (wie in der vorliegenden Konstellation) kein gesetzliches Beweisverwertungsverbot besteht, entscheidet die Rechtsprechung unter Zugrundelegung der Abwägungstheorie. Geht es um eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, unterscheidet sie bei der Frage nach der Verwertbarkeit gewonnener Beweismittel nach der betroffenen Persönlichkeitssphäre. Während bei Beeinträchtigungen der Intimsphäre regelmäßig keine Verwertbarkeit angenommen wird, sind Beweismittel, die bei einem Eindringen in die Privatsphäre gewonnen werden, unter strengen Voraussetzungen verwertbar. Beweise, die beim Eindringen lediglich in die Sozialsphäre (und erst in die Geschäftssphäre) erlangt wurden, unterliegen - wegen des Bezugs nach außen - weniger strengen Voraussetzungen (zur Sphärentheorie siehe R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, 12. Aufl. 2018, Rn 666). Sollte man (mit dem Verfasser) der Sphärentheorie skeptisch gegenüberstehen (wegen der mitunter schwierigen Zuordnung zu einer Sphäre), kommt es primär darauf an, ob der Eingriff in den Kernbereich oder in den Randbereich erfolgt: Ist in den Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingegriffen worden, folgt aus der Absolutheit des Schutzes die Rechtswidrigkeit des Eingriffs, wobei auch hier nicht zweifelsfrei beantwortet werden kann, welche Gegenstände den Kernbereich ausmachen. Ist aber lediglich in den Randbereich (also den relativen Bereich) eingegriffen worden, findet eine Abwägung statt. Geht es um eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private, bedarf es regelmäßig einer praktischen Konkordanz zwischen den Grundrechten des Eingreifenden (insbesondere Art. 5 I und 5 III GG, aber auch Vermögensinteressen) und denen des Betroffenen (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) bzw. den Belangen der Allgemeinheit.
Auf welches Modell man auch abstellt, entscheidet bei der Frage nach der Verwertbarkeit vorliegend eine Abwägung (dazu R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, 12. Aufl. 2018, Rn. 666 ff. mit Verweis auf die zahlreich ergangene Rechtsprechung). Diese hat der BGH zugunsten des Allgemeininteresses an der Aufklärung und an Information über Missstände sowie der Medien- und Rundfunkfreiheit des A vorgenommen.
Ausblick: Diese Entscheidung könnte Einfluss auf die Frage nach der Verwertbarkeit von Dashcam-Aufzeichnungen haben. Denn gegen die Dashcam-Entscheidung des LG Magdeburg (5.5.2017 – 1 S 15/17) ist die Revision beim BGH anhängig, und zwar beim selben Senat, der den oben behandelten "Hühnerstall-Fall" entschieden hat (siehe Az. VI ZR 233/17). Im Gegensatz zum gleich zu besprechenden Fall des OLG Nürnberg verneinte das LG Magdeburg u.a. wegen der im konkreten Fall längeren Aufzeichnungsdauer die Verwertbarkeit der Dashcam-Aufzeichnungen.
Beispielfall zur Dashcam-Aufzeichnung (nach OLG Nürnberg NJW 2017, 3597): Um ein mögliches Unfallgeschehen rekonstruieren und Beweis für einen etwaigen Unfallhergang erbringen zu können, hat F an der Frontscheibe seines Lkw eine sog. Dashcam („Frontscheibenkamera“) installiert. Diese ist so konfiguriert, dass die Aufnahmen automatisch wieder gelöscht werden, wenn nicht innerhalb von 30 Sekunden eine deutliche Erschütterung am Auto wahrgenommen wird. In diesem Fall wird das Aufzeichnungssegment aus dem Zwischenspeicher dauerhaft auf die eingesetzte SD-Karte gespeichert. Als es nun tatsächlich zu einem Unfall mit dem Pkw des T gekommen war, ließ sich aufgrund der Aufzeichnung nachvollziehen, dass T ein höchst gefährliches Fahrmanöver durchgeführt hatte, indem er von der linken Fahrspur der dreispurigen Autobahn auf die äußerst rechte Fahrspur gewechselt, vor dem Lkw des F eingeschert war und dort eine sehr starke Bremsung eingeleitet hatte. Aus der Aufzeichnung geht klar hervor, dass sich vor dem Fahrzeug des T auf der rechten Spur keine abbremsenden Fahrzeuge befanden, die T seinerseits Anlass für eine Bremsung hätten geben können. Ohne die Dashcam-Aufzeichnung hätte der Beweis der Unfallverursachung nicht geführt werden können. T macht daher geltend, dass die Dashcam-Aufzeichnung wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts (hier: Recht am eigenen Bild) nicht verwertbar sei.
Lösung (R. Schmidt, Schuldrecht Besonderer Teil II, 12. Aufl. 2018, Rn. 670): Geht es um die Frage nach der Zulässigkeit und Verwertbarkeit von Aufzeichnungen einer im Frontbereich eines Fahrzeugs installierten Dashcam über einen Verkehrsunfall, ist entscheidend, dass es nicht um die Fertigung von Bildnissen geht, sondern um die Aufzeichnung eines Verkehrsgeschehens, bei dem lediglich die Sozial- oder Öffentlichkeitssphäre betroffen ist. Das OLG Nürnberg hat im zu entscheidenden Fall die Aufzeichnung des Verkehrsgeschehens für zulässig erachtet und damit als verwertbar angesehen, weil persönliche Daten der betroffenen Person allein in Bezug auf ihr konkretes Fahrverhalten auf einer öffentlichen Straße in einem Zeitraum von weniger als einer Minute festgehalten wurden, die Person als solche (aufgrund eines Weitwinkel-Objektivs) nicht erkennbar war, der geschädigten Person keine sonstigen Beweismittel zur Verfügung standen und ohne Berücksichtigung der Dashcam-Aufzeichnung eine der materiellen Gerechtigkeit widersprechende, falsche gerichtliche Entscheidung hätte getroffen werden müssen. Diese Entscheidung stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, lässt jedoch die Frage unbeantwortet, wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn z.B. das Aufnahmegerät eine längere Zeitspanne aufgezeichnet hätte (z.B. die letzten 3 Minuten vor dem Unfall) oder der Unfallverursacher erkennbar gewesen wäre. Die Erkennbarkeit des Unfallverursachers ist zwar nicht für die Kfz-Halterhaftung nach § 7 I StVG erforderlich, sie könnte aber erforderlich sein, um bei einem Personen- oder bedeutenden Sachschaden die Strafbarkeit (z.B. aus §§ 222, 229, 315c, 315d StGB) nachzuweisen. Verallgemeinerte man also die Argumentation des OLG Nürnberg, könnte man den Schluss ziehen, dass eine Dashcam-Aufzeichnung unverwertbar wäre, wenn sie den Unfallverursacher klar und deutlich zeigte. Das wäre nach der hier vertretenen Auffassung nicht überzeugend, gerade wenn es auf die Feststellung der Identität des Unfallverursachers ankommt. Nach dem hier vertretenen Ansatz sind Dashcam-Aufzeichnungen auch dann verwertbar, wenn durch sie die Person des Unfallverursachers identifizierbar ist. Der mit der Aufzeichnung verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht betrifft lediglich die Sozial- oder Öffentlichkeitssphäre bzw. den Randbereich des Grundrechts und ist daher durch berechtigte Interessen des Geschädigten (bzw. der Allgemeinheit) bereits dann gerechtfertigt, wenn anderenfalls eine Aufklärung des Unfallhergangs bzw. einer Straftat unmöglich oder unzumutbar erschwert würde. Ist danach die Beweiserhebung rechtmäßig, kommt es auf die Frage der Verwertbarkeit nicht an. Die die Zulässigkeit der Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume (und damit erst recht des öffentlichen Straßenverkehrs) regelnde einfachgesetzliche Bestimmung des § 4 I S. 1 Nr. 3, S. 2 BDSG ist entsprechend auslegbar und daher (jedenfalls insoweit) verfassungskonform.
Gegen die weiter oben erwähnte Entscheidung des LG Magdeburg ist - wie gesagt - die Revision beim BGH anhängig unter dem Az. VI ZR 233/17. Überträgt man die Aussagen der "Hühnerstall-Entscheidung" und deren Entscheidungsgründe auf den Dashcam-Fall, dürfte das Interesse des Unfallgeschädigten höher wiegen als das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen. Die Entscheidung des BGH wird mit Spannung erwartet.
R. Schmidt
(11.4.2018)
25.3.2018: Gerechtfertigter Hausfriedensbruch bei Tierschützern, die in Ställe eingedrungen waren, um dort Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen zu filmen
OLG Naumburg, Urteil v. 22.2.2018 – 2 Rv 157/17
Mit Urteil v. 22.2.2018 (Az. 2 Rv 157/17) hat das OLG Naumburg die Vorinstanzen bestätigt und entschieden, dass das Eindringen in Stallanlagen durch Tierschützer, die dort eklatante Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen filmen wollten, um die Aufnahmen anschließend den Behörden vorzulegen sowie Strafanzeige zu stellen, zwar den Tatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 I StGB) verwirklicht habe, jedoch gerechtfertigt gewesen sei.
Dem Urteil lag der Sachverhalt
zugrunde, dass Mitglieder einer Tierschutzorganisation aufgrund von Rechercheergebnissen davon überzeugt waren, dass in einer Stallanlage, in der Massentierhaltung vorgenommen wird, erhebliche und fortdauernde Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen begangen werden. Da die informierten zuständigen Behörden untätig gebleiben sind, drangen drei Mitglieder der Tierschutzorganisation nachts in die Anlage ein, um Fotos von den Missständen zu fertigen und sie anschließend den Behörden vorzulegen sowie Strafanzeige zu stellen. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Wie bei R. Schmidt, Strafrecht, Besonderer Teil I, 19. Aufl. 2018, Rn. 997 unter Verweis auf die h.M. erläutert, schützt die Strafnorm des Hausfriedensbruchs
(§ 123 StGB) die Freiheit der Entscheidung des Rechtsgutträgers darüber, wer sich innerhalb der geschützten Räumlichkeiten und des befriedeten Besitztums aufhalten darf, mithin das Hausrecht. Zu den geschützten Objekten gehören gemäß der Formulierung in § 123 I StGB Wohnungen, Geschäftsräume, befriedete Besitztümer und zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmte, in sich abgeschlossene Räume. Ob Stallanlagen zu den Geschäftsräumen zählen oder unter die befriedeten Besitztümer zu subsumieren sind, kann dabei dahinstehen.
Als Tathandlung
nennt § 123 I Var. 1 StGB das widerrechtliche Eindringen. Dabei ist anzumerken, dass es sich bei der genannten „Widerrechtlichkeit“ (wie auch bei dem Merkmal „ohne Befugnis“ des § 123 I Var. 2 StGB) nicht um Tatbestandsmerkmale, sondern lediglich um deklaratorische Hinweise auf das allgemeine Verbrechensmerkmal der Rechtswidrigkeit handelt. Ein ohne Erlaubnis des Hausrechtsinhabers (oder eines Ermächtigten) erfolgtes Eindringen in ein durch § 123 I StGB geschütztes Objekt bedarf also der Rechtfertigung, um den Unrechtstatbestand auszuschließen. Zu nennen sind insbesondere die mutmaßliche Einwilligung und die Notwehr nach § 32 StGB bzw. der Notstand nach § 34 StGB. Dringen also Tierschützer in Stallungen ein, um Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen aufzudecken, ist zu prüfen, ob dies durch Notwehr oder Notstand gerechtfertigt
ist.
Notwehr:
Als notwehrfähiges Rechtsgut kommt jedes rechtlich geschützte Interesse oder Gut des Täters oder eines anderen (vgl. das Textfragment Nothilfe in § 32 II!) in Betracht. Dazu zählen – wie sich aus dem Textfragment Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden ergibt – jedenfalls alle Individualrechtsgüter
wie insbesondere Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Eigentum.
Fraglich ist, ob Rechtsgüter, die nicht dem Rechtskreis des Verteidigers (oder des anderen) angehören bzw. Universalrechtsgüter (wie sie z.B. von §§ 315b StGB und 316 StGB geschützt werden) darstellen, notwehrfähig sind. Das wäre nur dann der Fall, wenn man dem von der h.M. vertretenen dualistischen Ansatz folgt und der Vorschrift des § 32 StGB die Verteidigung auch des Rechtsbewährungsinteresses (sozialrechtliche Komponente) unterstellt und nicht nur den Schutz von Individualrechtsgütern. Nach der hier vertretenen Auffassung (siehe auch R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 19. Aufl. 2018, Rn. 331) ist dies zumindest zweifelhaft, da – wie bei R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 19. Aufl. 2018, Rn. 324 ausgeführt – § 32 StGB nur von der Abwendung eines Angriffs von sich oder einem anderen spricht, was gerade die Beschränkung auf Individualrechtsgüter nahelegt. Danach sind also nur Individualrechtsgüter, nicht jedoch auch Universalrechtsgüter notwehrfähig.
Aus diesem Grund ist fraglich, ob Tiere notwehrfähig sind. Ihre Notwehrfähigkeit ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn sie im Eigentum des Notwehrübenden bzw. im Eigentum eines anderen Menschen stehen. Denn in diesem Fall wird das notwehrfähige Rechtsgut Eigentum (als Individualrechtsgut) verteidigt. Ob aber Tiere als solche
notwehrfähig sind, ist zweifelhaft. Zwar wären Tiere notwehrfähig, wenn man sie als Rechtssubjekte (und damit als „andere“ i.S.d. § 32 II StGB) qualifizierte, das wird im Allgemeinen jedoch abgelehnt. Überwiegend werden Tiere auch nicht – dem dualistischen Ansatz folgend – dem notwehrfähigen Allgemeininteresse zugeordnet, sodass im Ergebnis ein Hausfriedensbruch (§ 123 I StGB), der im Rahmen einer Tierbefreiungsaktion oder einer Fotodokumentation zur Aufdeckung von Missständen in einer Tierhaltungsanlage verwirklicht wird, nicht über § 32 StGB gerechtfertigt werden kann. Die entgegenstehende Auffassung des LG Magdeburg (als Vorinstanz der hier zu besprechenden Entscheidung des OLG Naumburg) ist zwar sehr sympathisch, lässt sich rechtlich aber nur vertreten, wenn man den Charakter des § 32 StGB nicht auf den Individualschutz beschränkt, sondern den Schutz der allgemeinen Rechtsordnung unterstellt. Das aber wird – selbst nach Maßgabe des dualistischen Ansatzes – ganz überwiegend abgelehnt (s.o.). Daran ändert auch die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG nichts, die eine Schutzverpflichtung des Staates begründet und keine individuelle Durchsetzungsmacht verleiht. Der Rückgriff auf Notwehr ist aber auch nicht erforderlich, wenn die Notstandsregelung des § 34 StGB greift.
Notstand:
Wie § 32 StGB berechtigt auch § 34 StGB zur Rettung bestimmter Güter (= Erhaltungsgüter) zu Lasten anderer (= Eingriffsgüter). Im Unterschied zur Notwehr erfordert der allgemeine rechtfertigende Notstand jedoch keinen Angriff, sondern lediglich eine nicht anders als durch Inanspruchnahme des Eingriffsguts abwendbare Gefahr. Dabei ist nicht Voraussetzung, dass die abzuwendende Gefahr von dem in Anspruch genommenen Eingriffsgut ausgeht. Der Notstandsübende muss nur beachten, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dem allgemeinen rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB liegt somit der Gedanke zugrunde, dass das Recht im Konflikt zweier Interessen die Verletzung des von der Rechtsordnung geringer bewerteten Interesses erlaubt, wenn der Täter nicht anders handeln kann, um das höherwertige Interesse zu schützen (vgl. R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 19. Aufl. 2018, Rn. 410 mit Verweis auf Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 33 I 2; Sch/Sch-Perron, § 34 StGB Rn. 1 f.).
Die Notstandshandlung besteht gem. § 34 StGB in der Begehung einer Tat, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Das Wort „um“ kennzeichnet die rein subjektive Beziehung des Notstandsübenden zu seiner Tat; diese muss die Zielsetzung haben, die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, was jedenfalls (auch) im Rahmen des subjektiven Tatbestands zu prüfen ist. Besteht die Gefahr aber nicht für den Notstandsübenden oder einen anderen, ist das nach der hier vertretenen Auffassung bereits im objektiven Tatbestand zu berücksichtigen. Ist danach das Merkmal „von sich oder einem anderen“ im Rahmen der Notstandshandlung zu prüfen, könnte das bedeuten, dass die Gefahr entweder für den Notstandsübenden selbst oder für einen anderen Menschen bestehen muss. Wäre das zutreffend, könnte eine Gefahr, die für ein anderes Rechtsgut (bspw. der Allgemeinheit) besteht, nicht gem. § 34 StGB abgewendet werden.
Lösung des Falls:
Der Tatbestand
des Hausfriedensbruchs
ist erfüllt. Die Mitglieder der Tierschutzorganisation verschafften sich Zutritt zu den Tierställen. Fraglich ist allein, ob die Tat gem. § 34 StGB gerechtfertigt
war. Die Tierschützer handelten zugunsten des Tierschutzes, dies allerdings nicht im Sinne der Tiereigentümer und damit nicht zugunsten eines von § 34 StGB explizit genannten Rechtsguts. Allerdings sind, wie sich aus der Formulierung „oder ein anderes Rechtsgut“ ergibt, die geschützten Rechtsgüter nicht auf die in der Vorschrift genannten Art begrenzt; auch solche der Allgemeinheit sind nach h.M. geschützt und damit notstandsfähig. Der Tierschutz
ist damit ebenfalls umfasst. Auch lag eine gegenwärtige Gefahr
vor, denn es wurden nicht nur bereits eklatante Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen angenommen, sondern eine Fortsetzung dieser Zustände hätte das Leid der Tiere ggf. sogar noch verstärkt. Ein (weiterer) Schadenseintritt wäre daher höchstwahrscheinlich gewesen, wenn nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen worden wären. Das widerrechtliche Betreten der Stallanlagen war das einzige Mittel, um die Missstände aufzudecken, da die Behörden untätig geblieben sind.
§ 34 StGB fordert aber auch eine Interessenabwägung
dergestalt, dass das geschützte Rechtsgut erheblich mehr wert sein muss als das beeinträchtigte. Hintergrund ist, dass § 34 StGB auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses beruht. Die diesbezügliche Interessenabwägung besteht gem. § 34 S. 1 a.E. StGB aus zwei Elementen, der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter (das allgemeine Rangverhältnis) und dem Grad der ihnen drohenden Gefahren (die Bewertung in der konkreten Lebenssituation).
Allgemeines Rangverhältnis zwischen dem Eingriffsgut und dem Erhaltungsgut: Ausgangspunkt der Abwägung ist das allgemeine Rangverhältnis der betroffenen Rechtsgüter. Personenwerte stehen im Rang höher als Sachwerte. Innerhalb der Personenwerte steht Leben höher als Gesundheit. Im Übrigen wird der Wert des einzelnen Rechtsguts durch die Strafandrohung bei Verletzungshandlungen indiziert (vgl. R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 19. Aufl. 2018, Rn. 418 mit Verweis auf Sch/Sch-Perron, § 34 StGB Rn. 23; LK-Zieschang, § 34 StGB Rn. 56; SK-Günther, § 34 StGB Rn. 42).
Kann der (abstrakte) Rang der betroffenen Rechtsgüter kein eindeutiges Ergebnis der Interessenabwägung liefern, ist die Bewertung von Eingriffsgut und Erhaltungsgut in der konkreten Lebenssituation
maßgeblich.
Vorliegend ist zunächst darauf abzustellen, dass der Tierschutz Verfassungsrang hat (siehe Art. 20a GG; einfachgesetzlich konkretisiert in § 1 TierSchG). Zwar ist auch das durch § 123 I StGB geschützte Hausrecht verfassungsrechtlich geschützt (Art. 14 GG; einfachgesetzlich konkretisiert in § 903 BGB; bei Wohnungen käme der Grundrechtsschutz aus Art. 13 GG bzw. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG hinzu), allerdings ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die Tierschützer lediglich in Tierstallungen eingedrungen sind; ein Eingriff in eine höherrangige Privat- oder gar Intimsphäre fand gerade nicht statt. Von daher erscheint es angebracht, dem Tierschutz als zu schützendes Rechtsgut den von § 34 StGB geforderten erheblich höheren Wert beizumessen gegenüberdem beeinträchtigten Rechtsgut Hausrecht (davon geht ganz offenbar auch OLG Naumburg 22.2.2018 – 2 Rv 157/17 aus). Die Tierschützer wären demnach also gem. § 34 StGB gerechtfertigt.
Dieses aus Sicht des Verfassers sehr zu begrüßende Ergebnis darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit auch (unerwünschte) Folgeprobleme verbunden sein können. Man stelle sich nur vor, es hätte sich zum Zeitpunkt der Tat der Inhaber des Betriebs oder schutzbereites Personal in den Stallungen befunden. Sieht man das Eindringen der Tierschützer als gerechtfertigt an, stellt sich die Frage, ob der Hausrechtsinhaber bzw. der zur Ausübung des Hausrechts Berechtigte z.B. Notwehr gem. § 32 StGB üben darf. Das müsste man verneinen, weil der „Angriff“ auf das Hausrecht (als Bestandteil des Schutzgutes Eigentum) ja nicht rechtswidrig war. Dann aber stellt sich die Frage, ob die Verteidigung des Hausrechts nach § 34 StGB gerechtfertigt ist. Hier wird man die o.g. Abwägung vornehmen müssen. Zugunsten des das Hausrecht Verteidigenden könnte Art. 13 I GG wirken, wenn man mit dem BVerfG den Wohnungsbegriff des Art. 13 I GG auch auf Gewerberäume erstreckt. Aber auch hier gilt, dass bei Stallungen kein Eingriff in die Privat- oder Intimsphäre erkennbar ist und daher auch das Schutzniveau des Art. 13 I GG äußerst gering ist.
Ergebnis:
Dem OLG Naumburg (und den Vorinstanzen) ist zuzustimmen. Der von den drei Tierschützern tatbestandlich verwirklichte Hausfriedensbruch gem. § 123 StGB war wegen Notstands gem. § 34 StGB gerechtfertigt, weil der Tierschutz das Hausrecht deutlich überwog: Während massive Tierquälereien im Raum standen und auch Behörden untätig geblieben waren, waren von der Beeinträchtigung des Hausrechts nur Stallungen betroffen, nicht etwa die Privat- oder Intimsphäre.
R. Schmidt
(25.3.2018)
23.2.2018: Internetbewertungsportale – Anspruch auf Löschung von Bewertungen oder gar des Profils? Hier: jameda.de
BGH, Urteil v. 20.2.2018 – VI ZR 30/17
Mit Urteil v. 20.2.2018 (Az. VI ZR 30/17) hat der BGH entschieden, dass das Bewertungsportal jameda.de (im Folgenden: P) das Profil einer Hautärztin löschen müsse.
Dem Urteil lag der Sachverhalt
zugrunde, dass die Klägerin (K), eine niedergelassene Dermatologin und Allergologin, im Portal als Nichtzahlerin gegen ihren Willen ohne Bild mit ihrem akademischen Grad, ihrem Namen, ihrer Fachrichtung und ihrer Praxisanschrift geführt wurde. Bei Abruf ihres Profils auf dem Portal erschienen unter der Rubrik „Hautärzte (Dermatologen) in der Umgebung“ weitere (zahlende) Ärzte mit demselben Fachbereich und mit einer Praxis in der Umgebung der Praxis der K. Dargestellt wurde neben der Note des jeweiligen anderen Arztes die jeweilige Distanz zwischen dessen Praxis und der Praxis der K. Diese verlangte von P u.a. die vollständige Löschung ihres Eintrags im Portal und die Löschung ihrer veröffentlichten Daten. Während das Landgericht Köln die Klage abgewiesen hatte und auch die Berufung der K vor dem OLG Köln erfolglos geblieben war, verfolgte K ihr Begehren mit der Revision vor dem BGH weiter. Die Revision hatte Erfolg. Der BGH hat entschieden, dass die Speicherung der personenbezogenen Daten der K unzulässig sei, sodass diese nach § 35 II S. 2 Nr. 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) zu löschen seien. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Wie bei R. Schmidt, Grundrechte, 22. Aufl. 2017, Rn. 24 erläutert, ist seit Langem anerkannt, dass die Grundrechte ihre Geltung nicht nur im Verhältnis Bürger/Staat entfalten, sondern auch im Privatrecht. Insofern sind die Grundrechte nicht nur „vertikal“ Abwehr-(und Leistungs-)rechte des Bürgers gegen Eingriffe des Staates, sondern zugleich Ausdruck einer hinter den Abwehr-(und Leistungs-)rechten stehenden objektiven Wertordnung, die mittelbar (und „horizontal“) auch das Verhältnis zwischen Privaten beeinflusst. Sie gelten für alle Bereiche des Rechts als Richtlinie und Impuls und damit auch mittelbar im Verhältnis der Bürger untereinander (allgemeine Ansicht, vgl. etwa BGH NJW 2015, 489, 491; BGH 20.2.2018 – VI ZR 30/17 – jeweils jameda.de; vgl. auch BVerfG NJW 2015, 2485 f. Grundlegend BVerfGE 7, 198, 203 ff. – Lüth). Dieser Effekt wird als „mittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ bezeichnet: Die Grundrechte gelten mittelbar auch im Verhältnis zwischen Privaten und sind rechtstechnisch bei der Auslegung von auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen zu berücksichtigen. Dabei gilt es, die kollidierenden Grundrechte i.S. einer praktischen Konkordanz (Begriff nach Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 317 ff.; später verwendet bspw. auch von BVerfGE 89, 214, 232; 129, 78, 101 f.; 134, 204, 223; BVerfG NJW 2016, 2247, 2250) gegeneinander abzuwägen. Man stelle sich nur den Fall vor, dass ein früheres Mitglied des Exekutivkomitees der FIFA die Qatar Football Association öffentlich als „Krebsgeschwür des Weltfußballs“ bezeichnet (LG Düsseldorf 19.4.2016 – 6 O 226/15). Hier ist offenkundig, dass widerstreitende Interessen (Meinungsäußerungsfreiheit des Äußernden sowie Informationsinteresse der Bevölkerung auf der einen Seite; allgemeines Persönlichkeitsrecht der betroffenen Vereinigung auf der anderen Seite) gegeneinander abgewogen werden müssen. Ähnliches gilt für den Fall, dass ein Tierschutzverein auf seiner Internetseite ein Kreditinstitut auffordert, das Konto eines Interessenverbands der Tierzüchter zu kündigen, da dieser das tierquälerische Verhalten von Pelztierzüchtern („Nerzquälern“) unterstütze (BGH NJW 2016, 1584 f.). Auch hier müssen widerstreitende Interessen (Meinungsäußerungsfreiheit des Tierschutzvereins auf der einen Seite; allgemeines Persönlichkeitsrecht und Berufsfreiheit der betroffenen Pelztierzüchter auf der anderen Seite) gegeneinander abgewogen werden (BGH NJW 2016, 1584, 1585). Nichts anderes gilt für den Fall, dass einer (ehemaligen) Richterin von einer Journalistin öffentlich „obskure Beziehungen zur Verbrecherwelt“ nachgesagt werden. Auch hier sind widerstreitende Interessen (Pressefreiheit der Journalistin sowie Informationsinteresse der Bevölkerung auf der einen Seite; allgemeines Persönlichkeitsrecht der betroffenen Richterin auf der anderen Seite) gegeneinander abzuwägen (vgl. den Fall EGMR NJW 2016, 1373, 1374). Von nicht minder großer Grundrechtsrelevanz sind Bewertungen auf sog. Bewertungsportalen im Internet, die im Fokus dieses Beitrags stehen.
Ausgangspunkt derartiger Streitfälle ist oft ein Zivilprozess, bei dem sich die von der fraglichen Behauptung oder Darstellung betroffene Person um Unterlassung, Widerruf und/oder Schadensersatz wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bzw. der Berufs- und/oder Eigentumsfreiheit bemüht (vgl. etwa BGH MDR 2017, 879, 880 – Berichterstattung über Liebesbeziehung). Auch im Rahmen eines Strafverfahrens
– Anklage wegen Beleidigung – ist eine entsprechende Prüfung der Grundrechtskollision erforderlich (vgl. BVerfG NJW 2016, 2643 f. – „ACAB“ nicht ohne weiteres Beleidigung; BVerfG NJW 2016, 2870 f. – Bezeichnung einer Staatsanwältin als „widerwärtig, boshaft, dümmlich und geisteskrank“). Zwar kann der Klagegegner als Privatperson unmittelbar keine Grundrechte verletzen, weil Private nicht Grundrechts-adressaten sind, jedoch kann eine Privatperson gegen einfachgesetzliche Bestimmungen verstoßen, die auch und gerade dem Grundrechtsschutz zu dienen bestimmt sind. Das Gericht, das über diesen Rechtsverstoß zu entscheiden hat, muss dann im Rahmen der Auslegung der streitentscheidenden einfachgesetzlichen Normen i.d.R. eine Abwägung zwischen den Grundrechten des Klägers einerseits und den Grundrechten des Beklagten andererseits vornehmen. Sofern kein Vergleich geschlossen, sondern vom Gericht ein Urteil gesprochen wird, ergeht dieses zu Lasten mindestens einer Prozesspartei und greift damit in Grundrechte ein. Dieses zivilgerichtliche Urteil ist es dann, das als staatlicher Akt in Grundrechte eingreift und wegen (möglicher) Verletzung von Grundrechten nach Erschöpfung des Rechtswegs vor dem BVerfG im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde
angegriffen werden kann. Das BVerfG prüft sodann, ob das Fachgericht bei der Anwendung und Auslegung des Privatrechts die Bedeutung eines der widerstreitenden Grundrechte verkannt, ob es also spezifisches Verfassungsrecht verletzt hat; es überprüft, ob das Fachgericht eine rechtsfehlerfreie Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechtsgütern vorgenommen hat. (vgl. BVerfG NJW 2016, 3360, 3361; BVerfG NJW 2016, 3362 f.; BVerfG NJW 2015, 1506, 1507 ff.; BVerfG NJW 2014, 764, 765; BVerfG NJW 2012, 3712, 3713; BVerfG NJW 2012, 1500, 1501 f.; BVerfG NJW 2012, 756 f. – allesamt zurückgehend auf BVerfGE 7, 198, 206 ff. – Lüth). Diese Abwägung ist nach der hier vertretenen Auffassung folgendermaßen vorzunehmen: Zunächst ist eine abstrakte, d.h. eine vom zu entscheidenden Fall unabhängige Bewertung der widerstreitenden Rechtsgüter vorzunehmen. Ist z.B. das eine Grundrecht einfacher einzuschränken als das andere (Beispiel: Art. 5 I GG gegenüber Art. 4 I GG), besitzt es bei der Abwägung grundsätzlich ein geringeres Gewicht. Entscheidend ist aber letztlich der konkrete Einzelfall. Es ist zu untersuchen, bei welchem Grundrecht der Eingriff schwerer wiegt. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Peripherie und Kernbereich nützlich: Ist bei dem – abstrakt gesehen – „höherwertigen“ Grundrecht lediglich der Randbereich betroffen, bei dem – abstrakt gesehen – „geringerwertigen“ Grundrecht dagegen in den Kernbereich eingegriffen worden, ist es i.d.R. nicht zu beanstanden, wenn die konkrete Bewertung für den Vorrang des an sich „geringerwertigen“ Grundrechts ausfällt. Im Übrigen sollten folgende, von der Rechtsprechung aufgestellte Grundsätze (freilich unter Beachtung der soeben genannten abstrakten Prinzipien) genügend Hilfestellung für die Bewältigung von Rechtsfällen bieten:
Eine Regelvermutung für den Vorrang eines der widerstreitenden Rechtsgüter besteht nicht (so ausdrücklich nunmehr – aufgrund des Einflusses der Rspr. des EGMR – auch BVerfG NJW 2013, 217, 218; BVerfG NJW 2012, 1500, 1501). Als grobe Richtschnur gilt aber, dass bei Werturteilen die Meinungsäußerungsfreiheit nur dann hinter den allgemeinen Persönlichkeitsschutz zurücktritt, wenn die Äußerung einen Angriff auf den Menschenwürdegehalt darstellt (vgl. BVerfGE 99, 185, 196 f.; 93, 266, 294; 75, 369, 380), von ihr eine Prangerwirkung ausgeht (BVerfG NJW-RR 2008, 200) oder mit ihr eine schwerwiegende Persönlichkeitsbeeinträchtigung verbunden ist. Bei einer von Art. 5 III S. 1 Var. 1 GG geschützten (politischen) Satire oder bei öffentlich geführtem Meinungskampf (etwa in einem Internetforum) unter Beteiligung des Betroffenen ist das BVerfG bei der Annahme einer Prangerwirkung bzw. Persönlichkeitsverletzung indes sehr zurückhaltend. Wer sich der Öffentlichkeit präsentiere, müsse eher scharfe und unsachliche Kritik hinnehmen als jemand, der sich nicht der Öffentlichkeit aussetze (vgl. BVerfG NJW 2012, 3712, 3713 – Bezeichnung eines Rechtsanwalts als „rechtsextrem“; BVerfG NJW 2002, 3767 f.). Auch wenn der Äußernde keine eigennützigen bzw. wirtschaftlichen Ziele verfolgt, sondern die Aussage im Rahmen eines gesellschaftlichen Anliegens (etwa Verbraucherschutz; Umweltschutz) vorgenommen oder mit ihr einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung geleistet hat (vgl. BVerfG NVwZ 2016, 761, 762 f. – Kachelmann), nehmen das BVerfG und der BGH einen grundsätzlichen Vorrang der Meinungsäußerung gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht bzw. der Berufsausübungsfreiheit an (BVerfG NVwZ 2016, 761, 762 f. – Kachelmann; BVerfG NJW-RR 2008, 200 – Junge Union vs. Scientology; BVerfGE 7, 198, 212 – Lüth) 93, 266, 294 – „Soldaten sind Mörder“; BGH NJW 2017, 2029, 2030 ff. – klinikbewertungen.de; BGH NJW 2008, 2110, 2111 – „Gen-Milch“).
Die in einem Internetforum (z.B. www.spickmich.de oder www.meinprof.de) von Schülern bzw. Studenten (anonym oder pseudonym) abgegebenen Bewertungen hinsichtlich ihrer Lehrer bzw. Professoren stellen auf Eigenschaften der Lehrer bzw. Professoren ab, die sich jedenfalls auch im schulischen bzw. universitären Wirkungskreis spiegeln, und sind nach der Rspr. grds. von Art. 5 I GG gedeckt (vgl. OLG Köln ZUM 2008, 869, 870 ff.). Zivilrechtliche Unterlassungs- bzw. Widerrufsklagen gem. §§ 823, 1004 BGB sind grds. unbegründet. Lediglich, wenn die Aussagen eine Schmähung oder eine Anprangerung darstellen oder den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung (d.h. die Intim- oder Vertraulichkeitssphäre – zu den Sphären vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 22. Aufl. 2017, Rn. 279) betreffen, ist eine Verbreitung unzulässig und eine Klage wäre begründet (vgl. dazu auch OLG Dresden K&R 2015, 412, 413 ff.; BGH NJW 2012, 2345 f.; BGH NJW 2012, 148). Dasselbe muss man annehmen für den Fall, dass negative Bewertungen nur deshalb abgegeben werden, um sich am Lehrer wegen schlechter Notenvergabe zu rächen, oder aus allgemeinem Frust heraus.
Die gleichen Maßstäbe gelten auch bei Rechtsanwalts- bzw. Arzt- oder Klinikbewertungen auf Internetbewertungsportalen. Der BGH hat (hinsichtlich Arztbewertungen) entschieden, dass diese in aller Regel lediglich die Sozialsphäre betreffen. Im Bereich der Sozialsphäre müsse sich der Einzelne wegen der Wirkungen, die seine Tätigkeit hier für andere habe, von vornherein auf die Beobachtung seines Verhaltens durch eine breite Öffentlichkeit und auch auf Kritik an seinen Leistungen einstellen (BGH NJW 2015, 489, 493; vgl. auch AG München 11.8.2015 – 161 C 7001/15). Dass Bewertungen zudem anonym (ergänze: oder pseudonym) abgegeben werden können, ändere nichts an dem grundsätzlichen Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit. Denn die Möglichkeit zur anonymen Nutzung sei (wegen § 13 VI S. 1 Telemediengesetz - TMG) dem Internet immanent (BGH NJW 2015, 489, 493 – jameda.de I). Letztlich ist diese Argumentation rechtsmethodisch angreifbar. Zwar ist es richtig, dass § 13 VI S. 1 TMG grds. das Recht auf Anonymität der Internetnutzer gewährt, bei der Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechten ist aber verfassungsrechtlich zu argumentieren. Hinzu kommt, dass die (anonym oder pseudonym abgegebene) Bewertung praktisch dauerhaft im Internet verbleibt, was bei der verfassungsrechtlichen Abwägung ebenfalls mit einfließen muss. Immerhin sieht der BGH in einem späteren Urteil durchaus die Missbrauchsgefahr, die mit der Möglichkeit der anonymen oder pseudonymen Bewertung verbunden ist (BGH NJW 2016, 2106, 2107 f. – Prüfungsaufwand des Providers bei Ärztebewertungen).
Fall
(vgl. BGH NJW 2015, 489 ff. – jameda.de I; BGH 20.2.2018 – VI ZR 30/17 – jameda.de II): Bei P handelt es sich um einen Betreiber eines Internetportals, der u.a. Informationen zu Gesundheitsthemen vermittelt und Ärztinnen und Ärzte auch gegen ihren Willen zumindest mit den Basisdaten (akademischer Grad, Name, Fachrichtung, Praxisanschrift, weitere Kontaktdaten sowie Sprechzeiten und ähnliche praxisbezogene Informationen), soweit diese ihm bekannt sind, im Internetportal darstellt. Daneben sind im Portal Bewertungen abrufbar, die Nutzer in Form eines Notenschemas, aber auch von Freitextkommentaren, abgegeben haben. Ärztinnen und Ärzten bietet P zudem die Möglichkeit, sich zu registrieren und einen kostenpflichtigen „Premiumservice“ zu buchen. Dabei handelt es sich um einen Service, bei dem das Profil – anders als das Basisprofil der nichtzahlenden Ärztinnen und Ärzte – mit einem Foto und zusätzlichen Informationen versehen wird. Weiterhin können Ärztinnen und Ärzte, die den „Premiumservice“ gebucht haben, Werbebanner schalten, die dann auch auf den Profilen nichtzahlender Ärztinnen und Ärzte erscheinen. Dementsprechend werden beim Aufruf des Profils eines nichtzahlenden Arztes als „Anzeige“ gekennzeichnet die Profilbilder unmittelbarer Konkurrenten gleicher Fachrichtung im örtlichen Umfeld mit Entfernungsangaben und Noten eingeblendet. In weiterer Folge dieses Geschäftsmodells blendet P bei Ärztinnen und Ärzten, die sich bei ihr kostenpflichtig registriert und den „Premiumservice“ gebucht haben, keine Konkurrenten auf deren Profil ein.
Variante 1
(BGH NJW 2015, 489 ff. – jameda.de I): Arzt Dr. A wurde in das Arztbewertungsportal von P aufgenommen und dort von medizinischen Laien negativ bewertet. Nachdem A davon erfahren hat, begehrt er von P die Löschung der betreffenden Bewertungen.
Lösung:
Ein Anspruch auf Löschung könnte sich aus § 35 II S. 2 Nr. 1 BDSG (vgl. ab dem 25.5.2018: Art. 17 I d) Datenschutz-Grundverordnung –DSGVO) ergeben. Nach Art. 17 I d) DSGVO sind personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, wenn ihre Verarbeitung unrechtmäßig war. Zulässig und damit rechtmäßig ist die Speicherung von Daten gem. § 29 I S. 1 Nr. 1 BSDG (vgl. ab dem 25.5.2018: Art. 6 I S. 1 f) DSGVO) aber, wenn kein Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Erhebung, Speicherung oder Veränderung der Daten hat (bzw. nach Art. 6 I S. 1 f) DSGVO, wenn nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen). Das Überwiegen des Schutzes personenbezogener Daten wiederum ergibt sich aus einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen, vorliegend zunächst zwischen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG auf Seiten des A und dem Kommunikationsgrundrecht aus Art. 5 I S. 1 GG (hier: Meinungs- und Medienfreiheit) auf Seiten des P und der Meinungsäußerungsfreiheit auf Seiten der Bewerter. Art. 12 I GG kommt sowohl A als auch P zugute.
Nach Auffassung des BGH überwiegen die Interessen des P und der Bewerter. Die Wirkungen von veröffentlichten Bewertungen seien der Sozialsphäre zugeordnet und im Bereich dieser Sphäre müsse der Bewertete Kritik an seinen Leistungen hinnehmen, solange – wie im vorliegenden Fall – mit den Bewertungen keine stigmatisierenden Wirkungen, sozialen Ausgrenzungen oder Prangerwirkungen verbunden seien (BGH NJW 2015, 489, 493. In diese Richtung geht auch OVG Münster K&R 2018, 140 zu einem Fahrerbewertungsportal im Internet.).
Bewertung:
Es ist absolute Tendenz in der Rechtsprechung, dass die Meinungsäußerungsfreiheit (auch, wenn sie anonym oder pseudonym im Internet ausgeübt wird) den Vorrang vor den Interessen des Betroffenen genießt, sofern nur dessen Öffentlichkeits- oder Sozialsphäre bzw. der Randbereich des Persönlichkeitsrechts betroffen sei. Lediglich bei Vorliegen von Schmähkritik, Beleidigung oder Anprangerung gelte etwas anderes. Dem ist mit Blick auf die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für eine Demokratie insoweit zuzustimmen. Auf die interessante Frage, ob aufgrund des Umstands, dass das Internet „nichts vergisst“ und die gegenüber A abgegebenen Bewertungen diesen ggf. daher „sein Leben lang begleiten“, ein anderer Blick auf die Zumutbarkeit der Duldung zu werfen sein könnte, geht der BGH nicht ein. Im BGH-Urteil keine genügende Erwähnung findet auch die große Missbrauchsgefahr. So wurde von Ärzten berichtet, Kunden hätten „gedroht“, sie im Internet „fertigzumachen“, wenn sie nicht die gewünschte Krankschreibung ausstellten oder das gewünschte Medikament verschrieben. Ähnliches Kundenverhalten wurde hinsichtlich Restaurantbewertungen oder Hotelbewertungen gemeldet. Man habe mit schlechter Bewertung gedroht, falls man keinen Rabatt erhalte oder die Kinder nicht kostenlos speisen dürften. Insgesamt steckt also ein hohes Spannungspotential in Internetbewertungsportalen. Immerhin sieht – wie erwähnt – auch der BGH in einem späteren Urteil durchaus die Missbrauchsgefahr, die mit der Möglichkeit der anonymen oder pseudonymen Bewertung verbunden ist (BGH NJW 2016, 2106, 2107 f. – Prüfungsaufwand des Providers bei Ärztebewertungen). Das am 1.10.2017 in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz kann jedenfalls keine Abhilfe schaffen oder nicht zumindest für Eindämmung sorgen, weil Bewertungsportale zur Verbreitung lediglich spezifischer Inhalte bestimmt sind, was wiederum gem. § 1 I S. 3 Netzwerkdurchsetzungsgesetz vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen ist. Immerhin bestehen Auskunftsansprüche gegen den Betreiber gem. § 14 III, IV TMG, um zivilrechtlich gegen den Bewerter vorgehen zu können. Auch kommen Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche gem. § 1004 I BGB analog (sowohl gegen Portalbetreiber als auch gegen Bewerter) in Betracht.
Variante 2
(nach BGH 20.2.2018 – VI ZR 30/17 – jameda.de II): Auch die Dermatologin Dr. B wurde gegen ihren Willen in das Arztbewertungsportal von P aufgenommen. Entsprechend dem „Basiseintrag“ für Nichtzahler erscheinen bei Abruf ihres Profils unter der Rubrik „Hautärzte (Dermatologen) in der Umgebung“ weitere Ärztinnen und Ärzte mit demselben Fachbereich und mit einer Praxis in der Umgebung der Praxis der B. Dargestellt wird neben der Note des jeweiligen anderen Arztes die jeweilige Distanz zwischen dessen Praxis und der Praxis der B. Diese verlangt nunmehr von P die vollständige Löschung ihres Eintrags und ihrer auf der Internetseite von P veröffentlichten Daten. P hält dem entgegen, dass nur „vollständige Arztlisten“ dem Recht der Patienten auf freie Arztwahl gerecht würden. Außerdem sei die Werbung der Premiumkunden klar als solche erkennbar.
Lösung:
Wie bei der Variante 1 könnte sich ein Anspruch auf Löschung aus § 35 II S. 2 Nr. 1 BDSG (vgl. ab dem 25.5.2018: Art. 17 I d) DSGVO) ergeben. Nach Art. 17 I d) DSGVO sind personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, wenn ihre Verarbeitung unrechtmäßig war. Aber auch wie bei der Variante 1 ist die Speicherung von Daten gem. § 29 I S. 1 Nr. 1 BSDG (vgl. ab dem 25.5.2018: Art. 6 I S. 1 f) DSGVO) zulässig, wenn kein Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Erhebung, Speicherung oder Veränderung der Daten hat (bzw. nach Art. 6 I S. 1 f) DSGVO, wenn nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen). Das Überwiegen des Schutzes personenbezogener Daten wiederum ergibt sich aus einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen, vorliegend zwischen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG auf Seiten der B und dem Kommunikationsgrundrecht aus Art. 5 I S. 1 GG auf Seiten des Portalbetreibers und der Bewerter. Art. 12 I GG kommt wiederum sowohl B als auch dem Portalbetreiber zugute.
Nach Auffassung des BGH überwiegen die Interessen der B. Denn P sei nicht lediglich als „neutraler Mittler“ von Kommunikations- und/oder Informationsinhalten aufgetreten. Vielmehr habe P Kommunikation und Information „gelenkt“, indem er bei nichtzahlenden Ärztinnen und Ärzten dem ein Arztprofil aufsuchenden Internetnutzer die „Basisdaten“ nebst Bewertung des betreffenden Arztes angezeigt und ihm mittels eines eingeblendeten Querbalkens Informationen zu örtlich konkurrierenden Ärzten angeboten habe. Auf Profilen von „Premiumkunden“ habe er indes – ohne dies dort den Internetnutzern hinreichend offenzulegen – solche über die örtliche Konkurrenz unterrichtenden werbenden Hinweise nicht zugelassen. In diesem Fall sei P nicht mehr lediglich „neutraler“ Kommunikations- und Informationsmittler und könne sich daher auf das ihm zustehende Grundrecht der Meinungs- und Medienfreiheit (Art. 5 I S. 1 GG, Art. 10 I EMRK) auch nur mit geringerem Gewicht stützen. In einem solchen Fall überwiege der im Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, Art. 8 I EMRK) verankerte Schutz der personenbezogenen Daten der B. Das führe hier zu einem Überwiegen der Grundrechtsposition der B, sodass ihr ein „schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Speicherung“ ihrer Daten gem. § 29 I S. 1 Nr. 1 BSDG (vgl. ab dem 25.5.2018: Art. 6 I S. 1 f) DSGVO) zuzubilligen sei. Das Profil der B sei daher zu löschen.
Bewertung:
Dem Urteil des BGH ist zuzustimmen. Mit der Möglichkeit, dass zahlende „Premiumkunden“ Werbebanner schalten können, die auf den Profilen nichtzahlender Konkurrenten erscheinen, findet eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung statt, die nicht mehr von der Meinungs- und Medienfreiheit (Art. 5 I S. 1 GG, Art. 10 I EMRK) gedeckt ist. Zudem ist P nicht „Sachwalter“ des Rechts der Patientinnen und Patienten auf freie Arztwahl. Dieses Recht steht Patientinnen und Patienten im Verhältnis zur Krankenversicherung und Praxis bzw. Klinik zu. Dessen Sicherung ist nicht Aufgabe von P. Insofern gibt es am Urteil des BGH nichts auszusetzen. Zu kurz kommt aber eine Auseinandersetzung mit Art. 12 I GG. Denn kann sich P mit dem Argument, dass er nicht mehr lediglich „neutraler“ Kommunikations- und Informationsmittler sei, nur noch mit geringerem Gewicht auf das ihm zustehende Grundrecht der Meinungs- und Medienfreiheit (Art. 5 I S. 1 GG, Art. 10 I EMRK) stützen, gerät Art. 12 I GG in den Vordergrund, auch wenn dieses Grundrecht bei einer Abwägung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Berufsfreiheit der B ebenfalls zurücktreten würde.
Weiterführender Hinweis:
Wenn P es daraufhin unterlässt, Anzeigen der „Premiumkunden“ in den Profilen der nichtzahlenden Ärztinnen und Ärzte anzuzeigen, und im Übrigen die Nutzer nunmehr transparent darüber aufklärt, ob es sich bei den Profilen jeweils um solche von „Premiumkunden“ (also von Vertragspartnern des P) oder von anderen Ärztinnen und Ärzten handelt, dürfte er (in Bezug auf andere Fälle) einer Löschungspflicht entgehen und so sein Geschäftsmodell, wenngleich modifiziert, erhalten. Denn der BGH hat das Geschäftsmodell von P nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur die Möglichkeit beanstandet, dass zahlende „Premiumkunden“ Werbebanner schalten können, die auf den Profilen nichtzahlender Konkurrenten erscheinen.
Zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das den Betreibern von sozialen Netzwerken bestimmte Prüf- und Löschungspflichten auferlegt und damit mittelbar auch die Meinungsäußerungsfreiheit betrifft, vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 23. Aufl. 2018, Rn. 804 (erscheint demnächst).
R. Schmidt
(22.2.2018)
1.1.2018: Neuregelung des kaufrechtlichen Nacherfüllungsanspruchs zum 1.1.2018
Im Zuge der Rechtsprechung des EuGH und des BGH zur Aus- und Wiedereinbauverpflichtung des Verkäufers im Rahmen der kaufrechtlichen Nacherfüllung (EuGH NJW 2011, 2269 ff.; BGH NJW 2012, 1073 ff.) hat der Gesetzgeber durch
Gesetz zur Reform
des Bauvertragsrechts, zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung,
zur Stärkung des zivilprozessualen Rechtsschutzes und zum maschinellen
Siegel im Grundbuch- und Schiffsregisterverfahren v. 28.4.2017 (BGBl I 2017, 969) mit Wirkung
zum 1.1.2018 eine umfassende Neuregelung u.a. des kaufrechtlichen Nacherfüllungsanspruchs verabschiedet. Systematisch eingebettet, ergibt sich folgende neue Rechtslage (in Bezug auf den kaufrechtlichen Nacherfüllungsanspruch):
Rechte bei Vorliegen eines Sachmangels
Ist die Sache mangelhaft, gewährt § 437 BGB dem Käufer folgende Rechte, soweit die jeweiligen Voraussetzungen vorliegen und sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt:
- Der Käufer kann nach § 439 BGB Nacherfüllung verlangen.
- Der Käufer kann nach den §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 BGB vom Vertrag zurücktreten oder nach § 441 BGB den Kaufpreis mindern.
- Der Käufer kann nach den §§ 440, 280, 281, 283 und 311a BGB Schadensersatz oder nach § 284 BGB Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen.
1. Systematik der Mängelrechte
Die o.g. Aufzählung darf aber nicht insoweit verstanden werden, als seien die Rechte vom Käufer frei wählbar. Aus §§ 323 Abs. 1 i.V.m. 440 BGB ergibt sich vielmehr, dass der Käufer – jedenfalls im Grundsatz – zunächst dem Verkäufer Gelegenheit geben muss, nachzuerfüllen, bevor er den Kaufpreis mindern, vom Vertrag zurücktreten oder Schadensersatz fordern kann. Die Gewährung der Möglichkeit zur Nacherfüllung ist eine Obliegenheit des Käufers. Erst wenn der Käufer dem Verkäufer (durch Fristsetzung, vgl. §§ 440 bzw. 323 Abs. 1 BGB) die Möglichkeit zur Nacherfüllung gewährt und der Verkäufer die Nacherfüllung verweigert oder wenn die Nacherfüllung fehlschlägt bzw. unzumutbar (vgl. §§ 439 Abs. 4, 440 BGB) bzw. unmöglich (§ 275 BGB) ist, kann der Käufer weitergehende Rechte (Rücktritt, Minderung, Schadensersatz) geltend machen.
Das Recht der Nacherfüllung ist der zentrale Rechtsbehelf des Kaufrechts. Es gilt der Grundsatz: Vorrang der Nacherfüllung vor den anderen Gewährleistungsrechten. Lediglich, wenn weder die Beseitigung des Mangels noch die Lieferung einer (anderen) mangelfreien Sache in Betracht kommen, die Nachbesserung fehlschlägt, der Verkäufer die Nacherfüllung verweigert oder die Mangelbeseitigung für den Verkäufer unverhältnismäßig (vgl. § 439 Abs. 4 BGB) wäre, stehen dem Käufer das Recht der Minderung des Kaufpreises sowie der Rücktritt vom Vertrag und Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu.
2. Recht auf Nacherfüllung
Wie ausgeführt, besteht das Recht auf Nacherfüllung aus zwei Varianten, der Lieferung einer mangelfreien Sache und der Beseitigung des Mangels, §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 BGB. Der Käufer hat ein Wahlrecht (vgl. § 439 Abs. 1 BGB: „...nach seiner Wahl“). Eine Beschränkung des Wahlrechts (etwa durch AGB) ist grds. unzulässig (vgl. § 309 Nr. 8 b) bb) BGB), weil anderenfalls die gesetzgeberische Entscheidung unterlaufen werden würde. Der Käufer kann also grds. frei wählen, ob er die Sache repariert haben möchte oder lieber eine mangelfreie Nachlieferung gegen Tausch seiner (defekten) Sache haben möchte. Hat sich der Käufer für eine Form der Nacherfüllung (Reparatur oder Ersatz) entschieden, kann der Verkäufer nur dann die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung ablehnen, wenn diese unmöglich ist oder nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten zu leisten ist und angesichts der Interessen des Käufers sowie des Wertes der Kaufsache die andere Form der Nacherfüllung dem Käufer zumutbar ist.
Beispiel 1: Verlangt der Käufer einer Waschmaschine aufgrund eines Defekts die Lieferung einer neuen Maschine, kann der Verkäufer dies verweigern, wenn der Fehler etwa durch Ersetzen eines Bauteils behoben werden kann. Hier kann dann der Verkäufer auf Nachbesserung (Reparatur) bestehen.
Beispiel 2: Umgekehrt kann das Nachbesserungsverlangen unzumutbar sein, wenn eine Reparaturwerkstatt fehlt oder die Durchführung in einer externen Werkstatt für den Verkäufer eine wesentlich höhere Belastung darstellen würde. Hier kann dann der Verkäufer auf Nachlieferung (Ersatzlieferung) bestehen.
Bevor aber der Käufer den Verkäufer überhaupt zur Nacherfüllung auffordern kann, muss er ihm die Kaufsache zur Überprüfung der geltend gemachten Mängel am rechten Ort, d.h. am Erfüllungsort der Nacherfüllung, zur Verfügung stellen, damit der Verkäufer die Möglichkeit erhält, die Sache dahingehend zu untersuchen, ob der geltend gemachte Mangel tatsächlich besteht und ob dieser bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen hat (BGH NJW 2017, 2758, 2759 f.). Zudem soll der Verkäufer dadurch in die Lage versetzt werden, Art und Weise der Mangelbeseitigung zu prüfen und das weitere Vorgehen mit dem Käufer abzustimmen (BGH a.a.O.). Dementsprechend ist der Verkäufer grds. nicht verpflichtet, sich auf ein Nacherfüllungsverlangen des Käufers einzulassen, wenn dieser ihm nicht die Gelegenheit zu einer solchen Untersuchung der Kaufsache gegeben hat. Freilich kann der Käufer die Bereitschaft, die Sache zur Prüfung des geltend gemachten Sachmangels zur Verfügung zu stellen, mit seinem Nacherfüllungsverlangen verbinden. Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH befindet sich der Erfüllungsort der Nacherfüllung (und damit der Ort zur Prüfung des geltend gemachten Mangels) – solange die Parteien nichts Abweichendes vereinbaren und keine besonderen Umstände vorliegen – am Wohn- bzw. Geschäftssitz des Schuldners (§ 269 Abs. 1 und 2 BGB), regelmäßig also am Wohn- bzw. Geschäftssitz des Verkäufers (BGH a.a.O.). Erfüllungsort ist der Ort, an dem die geschuldete Leistung (hier: die Nacherfüllung) zu erbringen ist.
a. Lieferung einer mangelfreien Sache
Lieferung einer mangelfreien Sache bedeutet, dass der Verkäufer eine andere, mangelfreie und damit vertragsgemäße Sache liefern muss („Ersatzlieferung“).
aa. Gattungsschuld versus Stückschuld
Bei einer sog. Gattungsschuld kommt die Variante der Nachlieferung einer mangelfreien Sache stets in Betracht. Eine Gattungsschuld liegt vor, wenn die geschuldete Leistung nur nach generellen, also allgemeinen Merkmalen (Typ, Sorte, Gewicht, Farbe, Herkunft, Jahrgang) bestimmt ist. Hier ist Ersatzlieferung (d.h. Lieferung einer mangelfreien Sache) so lange möglich, bis die Gattung erschöpft ist. Ist das Schuldverhältnis auf den Vorrat des Schuldners begrenzt, beschränkt sich das Recht auf Nacherfüllung auf diesen Vorrat.
Beispiel: K kauft im Geschäft des V eine Flasche 2009er Bordeaux. Zuhause nach dem Öffnen der Flasche stellt K fest, dass der Wein korkig ist.
Hier kann K grds. Nacherfüllung in Form einer Ersatzlieferung (Lieferung einer anderen, korkfreien Flasche des 2009er Bordeaux) verlangen, sofern der Wein noch lieferbar ist. Lediglich, wenn dies nicht der Fall oder die Beschaffung für V unzumutbar sein sollte, wird V hinsichtlich der Nacherfüllungspflicht frei (§ 275 Abs. 1 BGB). Das „Freiwerden von der Leistungspflicht“ bedeutet aber nicht, dass V keine Verantwortung übernehmen müsste. Bei Verschulden (vgl. § 276 BGB) ist er gem. § 275 Abs. 4 BGB, der auf §§ 280, 283-285, 311a und 326 BGB verweist, zum Schadensersatz verpflichtet.
Bei einer sog. Stückschuld (Speziesschuld) kommt die Variante der Nachlieferung grds. nicht in Betracht. Eine Stückschuld liegt vor, wenn die geschuldete Sache nach individuellen Merkmalen konkret bestimmt ist. Die Verbindlichkeit des Schuldners bezieht sich i.d.R. nur auf diesen individualisierten Gegenstand. Geht dieser unter, tritt grds. Unmöglichkeit (§ 275 Abs. 1 BGB) ein mit der Folge, dass der Schuldner frei wird von seiner Leistungsverpflichtung. Eine Ersatzlieferung scheidet damit grds. aus (und es kommen sofort die Minderung des Kaufpreises und der Rücktritt in Betracht).
Beispiel: K kauft von V dessen 5 Jahre alten Wagen. Zwei Monate nach der Übergabe ist das Getriebe defekt.
Hier kann K keine Nachlieferung verlangen, weil sich die Verbindlichkeit des V auf diesen konkreten Wagen bezog. V ist von seiner Nachlieferungspflicht befreit, § 275 Abs. 1 BGB. Zur möglichen Nachbesserung (Reparatur, vgl. soeben; zur Minderung des Kaufpreises, zum Rücktritt und zur Schadensersatzpflicht vgl. sogleich.
Abzug neu für alt? Liegt eine Gattungsschuld vor und hat der Käufer das Recht auf Nachlieferung, stellt sich die Frage, ob der Käufer Anspruch auf Lieferung einer neuen Sache aus der Gattung hat oder ob der Verkäufer eine gebrauchte, aber generalüberholte bzw. aufgearbeitete Sache liefern darf. Gegen das Recht auf Lieferung einer Neusache spricht, dass der Käufer in diesem Fall jedenfalls dann zu Unrecht bereichert wäre, wenn er die bisherige Sache bereits ausgiebig genutzt (und verschlissen) hat. Dann erscheint es in der Tat unbillig, wenn der Käufer jetzt zum „Nulltarif“ eine neue Sache erhält. Virulent wird das Problem, wenn es beim Hersteller zwischenzeitlich eine Produktüberarbeitung oder einen Modellwechsel gegeben hat und der Verkäufer nicht mehr über ein Neugerät der bisherigen Generation verfügt. Die Rechtsprechung steht auf dem Standpunkt, dass der Käufer selbst in diesem Fall die Lieferung einer nagelneuen Sache verlangen kann, wenn von Anfang an ein neues Produkt geschuldet war.
Sollte der Verkäufer zur (Nach-)Lieferung einer mangelfreien Ware verpflichtet sein, kann er im Gegenzug jedenfalls die Rückgabe der mangelhaften Sache verlangen (§ 439 Abs. 5 BGB). Daneben hat der Verkäufer einen Anspruch auf Herausgabe der Nutzungen oder Ersatz für die bisherige Nutzung der mangelhaften Sache. Das gilt aber nicht im Fall eines Verbrauchsgüterkaufs (§ 475 Abs. 3 BGB). In diesem Fall hat der Verkäufer weder einen Anspruch auf Herausgabe der Nutzungen noch einen Ersatzanspruch. Der Verbraucher hat also keine „Entschädigung“ für die Nutzung der zurückgegebenen Sache zu leisten.
Beispiel: Verbraucher K kauft beim Händler H ein neues Smartphone mit Standardausstattung (= Gattungskauf). Wegen diverser Mängel verlangt er Nachlieferung, worauf sich H einlässt.
In diesem Fall kann H wegen § 475 Abs. 3 BGB keine Entschädigung für die Nutzung des zurückgegebenen Smartphones verlangen.
Weiterführender Hinweis: Geht es nach erfolgter Rückgabe der Sache um eine Wertersatzpflicht, ist wie folgt zu unterscheiden:
- Zunächst stellt sich die Frage nach dem Nutzungsersatz im Rahmen des kaufrechtlichen Nachlieferungsanspruchs. Auch hier ist wiederum zu unterscheiden:
- Verlangt der Käufer einer mangelhaften Sache Nachlieferung, muss er die mangelhafte Sache zurückgeben (§ 439 Abs. 5 BGB). Daneben hat er Geldersatz in Bezug auf die Nutzungen der mangelhaften Sache zu leisten (Nutzungsersatz bzw. Ersatz für die Gebrauchsvorteile), sofern es sich nicht um einen Verbrauchsgüterkauf handelt.
- Bei einem Verbrauchsgüterkauf ist im Rahmen der Nachlieferung kein Wertersatz hinsichtlich der zurückgegebenen mangelhaften Sache für deren Nutzung zu leisten (vgl. § 475 Abs. 3 BGB
- Von diesen Nutzungsersatzfragen in Bezug auf die zurückgegebene Sache bei einem Nachlieferungsanspruch zu unterscheiden ist die Frage nach dem Wertersatz (Nutzungsersatz) im Rahmen des (gesetzlichen) Rücktrittsrechts und des verbraucherschützenden Widerrufsrechts
- Tritt
der Käufer gem. § 437 Nr. 2 Var. 1 BGB vom Kaufvertrag zurück, greift
nicht nur die Rückgewährpflicht aus § 346 Abs. 1 BGB, sondern auch die
Pflicht, gezogene Nutzungen herauszugeben (§ 346 Abs. 1 BGB –
„Nutzungsersatz“). Können die Nutzungen ihrer Natur nach nicht
herausgegeben werden, ist statt der Herausgabe nach § 346 Abs. 1 BGB
Wertersatz nach § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB zu leisten. Unter diese
Regelung fallen v.a. die Gebrauchsvorteile (so jedenfalls nach BGH NJW
2009, 427, 428), die die Benutzung einer Sache mit sich bringt.
- Handelt
es sich um eine Rückgabe der Sache nach ausgeübtem
verbraucherschützendem Widerrufsrecht (etwa gem. § 312g Abs. 1 BGB
i.V.m. § 355 BGB im Fernabsatz), hat gem. § 357 Abs. 7 Nr. 1 BGB der
Verbraucher Wertersatz für einen Wertverlust zu leisten, der auf einen
Umgang mit der Ware zurückzuführen ist, der zur die Prüfung der
Beschaffenheit, der Eigenschaften und der nicht notwendig war.
bb. Besonderheiten beim Tierkauf
Bei einem Haustier ist wegen der individuellen Eigenschaften (Geschlecht, Farbe des Fells, Aussehen, Charaktereigenschaften etc.) i.d.R. nicht von einer Austauschbarkeit und damit nicht von einem Gattungskauf, sondern von einem Stückkauf auszugehen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Parteien von einer Austauschbarkeit ausdrücklich oder stillschweigend ausgegangen sind, was – wenn überhaupt – nur bei nicht individualisierbaren Kleintieren anzunehmen sein dürfte. In der Regel darf aber von einem Stückkauf ausgegangen werden.
Beispiel: K (Verbraucherin) kauft von einer Züchterin Z einen Mopswelpen. Einige Wochen nach der Übergabe stellt sich heraus, dass der Hund an einem Gendefekt leidet, der sich in epileptischen Anfällen zeigt (Fall nach LG Ingolstadt 31.5.2017 – 33 O 109/15).
Dass in diesem Fall ein Sachmangel besteht, der bereits (da angeboren) zum Zeitpunkt der Übergabe vorlag, steht außer Frage. Eine Nachlieferung kann K nicht verlangen, da es sich um einen Stückkauf (und um eine nicht vertretbare Sache) handelt. Eine Nachbesserung kommt von vornherein nicht in Betracht, da ein Gendefekt nicht behoben werden kann. Es bleiben daher Minderung des Kaufpreises und der Rücktritt. Ggf. besteht auch ein Anspruch auf Schadensersatz (hier: Kosten der tiermedizinischen Versorgung). Das setzt aber Verschulden (Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis in Bezug auf den Gendefekt) auf Seiten der Z voraus.
b. Mangelbeseitigung
Alternativ zur (Nach-)Lieferung einer neuen, mangelfreien Sache kommt eine Mangelbeseitigung in Betracht. Diese ist sowohl bei einer Gattungsschuld als auch bei einer Stückschuld denkbar, da es um die Reparatur geht.
Beispiel bei einer Gattungsschuld: K kauft im Geschäft des V ein neues Notebook „von der Stange“. Nach zwei Wochen ist die Festplatte defekt. - Hier kann K Nacherfüllung in Form von Nachbesserung (Reparatur) verlangen.
Beispiel bei einer Stückschuld: K kauft das gebrauchte Notebook des V. Nach zwei Wochen ist die Festplatte defekt. - Auch hier kann K Nacherfüllung in Form von Nachbesserung (Reparatur) verlangen.
c. Anzahl der Nachbesserungsversuche
Wie bereits erwähnt, kommen nach der gesetzlichen Systematik Folgerechte wie Minderung und Rücktritt erst in Betracht, wenn die Nacherfüllung ausgeschlossen oder gescheitert ist. Das wirft die Frage auf, wie viele Nachbesserungsversuche der Käufer dem Verkäufer gewähren muss, bevor er die genannten Folgerechte geltend machen kann. § 440 S. 2 BGB gibt hierauf keine abschließende Antwort. Die Vorschrift geht lediglich davon aus, dass jedenfalls nach dem 2. Nachbesserungsversuch die Nacherfüllung als gescheitert gilt, wenn sich nicht insbesondere aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen etwas anderes ergibt. Es handelt sich um eine gesetzliche Fiktion: Die Nacherfüllung gilt nach dem 2. erfolglosen Nachbesserungsversuch grds. als gescheitert mit der Folge, dass der Käufer dem Verkäufer keine Frist setzen muss, um den Rücktritt zu erklären oder ggf. Minderungs- oder Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass stets 2 Nachbesserungsversuche zu gewähren wären. Es muss dem Käufer auch möglich sein, weitere Folgerechte (Minderung, Rücktritt) nach dem gescheiterten 1. Nachbesserungsversuch geltend zu machen oder sogar Folgerechte ohne Fristsetzung geltend zu machen, obwohl kein einziger Nachbesserungsversuch gewährt wurde. Es kommt stets auf den Einzelfall an („Art der Sache oder des Mangels oder sonstige Umstände“). So muss der Käufer dem Verkäufer keinen (zweiten) Nachbesserungsversuch einräumen, wenn er ihm eine angemessene Frist zur Nacherfüllung gesetzt hat und der Verkäufer es nicht innerhalb der gesetzten Frist geschafft hat, den Mangel zu beheben. Nach erfolglosem Ablauf der Frist darf der Käufer vom Kaufvertrag zurücktreten oder den Kaufpreis mindern und/oder Schadensersatz verlangen. In der Praxis ist dem Käufer aber zu empfehlen, dem Verkäufer zwei Nachbesserungsversuche einzuräumen, es sei denn, der Verkäufer hat sich beim ersten Nachbesserungsversuch als unzuverlässig erwiesen. In diesem Fall ist es regelmäßig unzumutbar, dem Verkäufer einen nochmaligen Nachbesserungsversuch gewähren zu müssen.
Beispiel: Käufer K kauft beim Gebrauchtwagenhändler V einen 3 Jahre alten Audi Q5. Drei Monate später ergeben sich Probleme bei den Bremsen. K bringt den Wagen zu V mit der Bitte, sich um das Problem zu kümmern. V wechselt lediglich die Bremsflüssigkeit, ignoriert aber die Risse an den Bremsscheiben.
In diesem Fall waren der Nachbesserungsversuch derart untauglich und das Fehlverhalten des V derart eklatant, dass es K unzumutbar ist, V erneut den Wagen anzuvertrauen. Daher ist nach dem gescheiterten 1. Nachbesserungsversuch der Weg frei für die Folgerechte Minderung, Rücktritt, Schadensersatz.
d. Beweislast für das Fehlschlagen der Nachbesserung
Für die Praxis sehr bedeutsam ist auch die Frage nach der Beweislast. Nach der Rechtsprechung trägt der Käufer, der die Kaufsache nach einer Nachbesserung des Verkäufers wieder entgegengenommen hat, die Beweislast für das Fehlschlagen der Nachbesserung. Bleibt nach zweimaliger Nachbesserung ungeklärt, ob das erneute Auftreten des Mangels auf der erfolglosen Nachbesserung des Verkäufers oder auf einer unsachgemäßen Behandlung der Kaufsache nach erneuter Übernahme durch den Käufer beruht, geht auch das zulasten des Käufers (BGH NJW 2009, 1341).
e. Kosten der Nacherfüllung
Gemäß § 439 Abs. 2 BGB hat der Verkäufer die zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten zu tragen. Wie durch die Verwendung des Begriffs „insbesondere“ deutlich wird, ist die Aufzählung nicht abschließend. Dem Grundsatz der Unentgeltlichkeit der Nacherfüllung entsprechend hat der Verkäufer alle zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen zu tragen, d.h. er muss die im Zusammenhang mit der Nacherfüllung stehenden Kosten übernehmen.
Beispiele: Gemäß § 439 Abs. 2 BGB kann der Käufer vom Verkäufer verlangen, dass dieser die Kosten für den Paketdienst übernimmt, der die mangelbehaftete Sache zum Verkäufer transportiert. Und der Käufer eines Gebrauchtwagens kann verlangen, dass der Verkäufer die Kosten für die Überführung des mangelhaften Wagens zum Ort des Verkäufers trägt, jedenfalls sofern Erfüllungsort der Ort des Verkäufers (Wohnsitz; Geschäftssitz) ist (siehe dazu sogleich).
Der Käufer, der den Transport zum Verkäufer übernimmt bzw. übernehmen muss (dazu sogleich), hat in jedem Fall einen Kostenerstattungsanspruch. Nach - nach bisheriger, d.h. bis zum 31.12.2017 geltender Gesetzeslage - Auffassung des BGH kann er aber auch – sofern er Verbraucher und der Verkäufer Unternehmer ist – einen Vorschuss der Transportkosten verlangen (siehe BGH NJW 2017, 2758, 2759 f.). Das entspricht dem Schutzzweck des Unentgeltlichkeitsgebots (die Nacherfüllung hat ja auf Kosten des Verkäufers zu erfolgen). Um das Unentgeltlichkeitsgebot nicht zu gefährden, kann der Käufer, der die Sache zum Verkäufer verbringen muss, grds. schon vorab einen Vorschuss zur Abdeckung dieser Kosten beanspruchen. Denn müsste der Käufer in Vorleistung treten und die Sache zunächst auf seine Kosten zum Verkäufer verbringen, könnte dies ihn von der Geltendmachung seines Nacherfüllungsanspruchs abhalten, weil er allein durch die Vorleistung mitunter finanziell belastet würde und zudem die Rückzahlung (Erstattungsanspruch) einfordern müsste. Denn ist durch die Geltendmachung von Mängelrechten das Vertragsverhältnis zum Verkäufer ohnehin belastet, dürfte der Verkäufer nicht gerade erfreut sein, auch noch die Transportkosten erstatten zu müssen. Dies könnte die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs erschweren. Für Verbrauchsgüterkäufe (Käufer einer beweglichen Sache ist Verbraucher, Verkäufer ist Unternehmer, § 474 Abs. 1 S. 1 BGB) hat der Gesetzgeber mit der seit dem 1.1.2018 geltenden Regelung des § 475 Abs. 6 BGB den Transportkostenvorschuss als Gesetzesrecht erlassen. Danach kann der Verbraucher von dem Unternehmer für Aufwendungen im Zusammenhang mit der Nacherfüllung, die vom Unternehmer zu tragen sind, Vorschuss verlangen.
Der Anspruch auf Transportkostenvorschuss gewinnt noch stärker an Bedeutung, wenn über das Vermögen des Verkäufers die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens droht: Müsste der Käufer die mangelbehaftete Sache dem Verkäufer zunächst auf eigene Kosten zusenden, liefe er Gefahr, auch noch auf diesen Kosten sitzen zu bleiben. Die Übernahme einer solchen Gefahr wäre mit dem Zweck des § 439 Abs. 2 BGB nicht vereinbar.
f. Zur-Verfügung-Stellen der Sache zwecks Prüfung
Es erklärt sich von selbst, dass der Käufer dem Verkäufer die Sache zwecks Prüfung der Mangelbehaftetheit zur Verfügung stellen muss. Denn der Verkäufer muss ja Gelegenheit haben, die behaupteten Mängel zu prüfen und das weitere Vorgehen mit dem Käufer abzustimmen. Die einzige Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob es genügt, wenn der Käufer schlicht anbietet, der Verkäufer könne am Wohnort des Käufers die Sache besichtigen, oder ob der Käufer die Sache zwecks Prüfung zum Wohn- bzw. Geschäftssitz des Verkäufers verbringen muss. Juristisch gesprochen geht es um die Frage nach dem Erfüllungsort der Nacherfüllung. Haben die Parteien diesbezüglich keine Absprache getroffen, wird man regelmäßig den Wohn- bzw. Geschäftssitz des Verkäufers annehmen müssen (§ 269 Abs. 1 und 2 BGB). Das gilt insbesondere, wenn es sich bei dem Verkäufer um einen Neu- oder Gebrauchtwagenhändler mit Werkstattanbindung handelt, weil der Verkäufer so am allerbesten die Prüfung und ggf. sogleich die Mangelbeseitigung vornehmen kann. Handelt es sich um einen Verbrauchsgüterkauf und ist nach dem soeben Gesagten Nacherfüllungsort der Wohn- bzw. Geschäftssitz des Verkäufers, wäre wegen § 476 Abs. 1 BGB eine abweichende Vereinbarung zudem nicht zulässig. Freilich genügt es, wenn der Käufer den Verkäufer auffordert, die Sache abzuholen, bzw. wenn der Käufer nach Erhalt eines Transportkostenvorschusses (s.o.) die Sache zum Erfüllungsort der Nacherfüllung versendet. Die Aufforderung zur Prüfung kann (wie sich aus BGH NJW 2017, 2758, 2759 f. ergibt) auch mit der Aufforderung zur Mangelbeseitigung verbunden werden.
Beispiel: Käuferin K kauft beim 300 km entfernten Gebrauchtwagen-händler V zum Preis von 4.000 € einen 8 Jahre alten Pkw. Kurze Zeit nach der Übergabe treten starke klackernde Geräusche am Motor sowie eine starke Rauchentwicklung auf. K macht gegenüber V den Mangel geltend, erklärt die Bereitschaft, V könne den Wagen jederzeit zwecks Mangelfeststellung prüfen, und verlangt, dass V den Wagen bei K abhole, da dieser nicht fahrbereit sei. Hilfsweise bietet K an, den Wagen zwecks Prüfung (und Reparatur) zu V transportieren zu lassen, wenn dieser einen Transportkostenvorschuss i.H.v. 250 € leiste. Da V jedoch nicht reagiert, fordert K ihn unter Setzung einer Frist zur Mangelbeseitigung auf (Fall nach BGH NJW 2017, 2758).
Hier hat K alles Erforderliche getan: Sie hat gegenüber V die Bereitschaft erklärt, die Sache zwecks Prüfung, ob der geltend gemachte Mangel tatsächlich besteht, zur Verfügung zu stellen. Dass sie diese Bereitschaft mit der Aufforderung zur Mangelbeseitigung verband, ist unschädlich. Denn V müsste ja auch zwecks Prüfung des Mangels und Abstimmung des weiteren Vorgehens (und nicht nur zwecks Reparatur) die Kosten für das Verbringen des Wagens zum Erfüllungsort der Nacherfüllung vorschießen. Stellt sich dann nach Prüfung des Sachverhalts heraus, dass der geltend gemachte Mangel besteht, ist V zur Nacherfüllung (hier: Reparatur) verpflichtet, ohne dass K (erneut) eine Aufforderung zur Mangelbeseitigung aussprechen müsste.
Für die Praxis ist zu empfehlen: Der Käufer sollte den Verkäufer zunächst auf den (möglichen) Mangel hinweisen und diesem Gelegenheit zur Prüfung der Angelegenheit geben. Bietet der Verkäufer dann nicht schon von sich aus die Abholung der Sache an, muss der Käufer dem Verkäufer gegenüber die Bereitschaft erklären, ihm die (vermeintlich) mangelhafte Sache zuzusenden. Dies darf er dann gem. § 475 Abs. 6 BGB auch von der Zahlung eines Transportkostenvorschusses abhängig machen. In Abhängigkeit von dem Verhalten des Verkäufers stellt sich die weitere Rechtslage wie folgt dar:
- Holt der Verkäufer die Sache ab oder leistet zumindest einen Transportkostenvorschuss, damit der Käufer – sofern ihm dies auch aus anderen Gründen zumutbar ist – die Sache zum Erfüllungsort der Nacherfüllung verschicken kann, ist insoweit der Regelung des § 439 Abs. 1 und 2 BGB Genüge getan.
- Weigert sich der Verkäufer, die Sache abzuholen oder einen Transportkostenvorschuss zu leisten, eröffnet dies den Weg des Käufers zum Rücktritt bzw. zur Minderung des Kaufpreises oder gar zum Schadensersatz, da die Weigerung, die Sache abzuholen oder zumindest einen Transportkostenvorschuss zu leisten, der (Nach-)Erfüllungsverweigerung gleichsteht und dies den Weg zu den Folgerechten eröffnet.
Selbstverständlich ist es dem Käufer unbenommen, auf einen Transportkostenvorschuss zu verzichten, mit der Rücksendung der Sache zunächst in Vorleistung zu treten und anschließend einen Erstattungsanspruch geltend zu machen. Um dem nachträglichen Einwand des Verkäufers zu entgehen, die vom Käufer aufgewendeten Transportkosten seien überhöht gewesen, zeigt der BGH dem Käufer die Möglichkeit auf, den Verkäufer vorab zu informieren, welche Art des Transports er beabsichtige und welche Kosten hierdurch voraussichtlich entstünden. Biete der Verkäufer keine günstigere Alternative an, könne dieser dem Ersatzanspruch des Käufers später nicht entgegenhalten, die aufgewendeten Kosten seien nicht erforderlich gewesen (BGH NJW 2011, 2278 ff.).
g. Ort der Nacherfüllung
Wie bereits angesprochen, kann sich – unabhängig von der Kostentragung bzgl. des Verbringens der Kaufsache zum Nacherfüllungsort – die Frage stellen, an welchem Ort die Nacherfüllung geschuldet ist. Dies kann der Wohnort/Geschäftssitz des Käufers oder der Wohnort/ Geschäftssitz des Verkäufers sein. Letztlich geht es um die Frage, ob der Käufer vom Verkäufer verlangen kann, dieser habe die mangelbehaftete Sache beim Käufer abzuholen, oder ob der Käufer die Sache zum Zwecke der Nacherfüllung zum Verkäufer zu schaffen hat.
Beispiel: Verbraucher K kauft beim Autohändler V einen Neuwagen. Drei Wochen nach der Übergabe treten an der Elektronik einige Mängel auf. K fordert daher V unter Setzung einer Frist zur Abholung des Wagens zum Zwecke der Mangelbeseitigung auf. V ist der Meinung, K müsse den Wagen zu V bringen, und verweigert die Abholung. Nach fruchtlosem Fristablauf tritt K vom Kaufvertrag zurück und verlangt Rückzahlung des Kaufpreises nebst Zinsen (Zug um Zug gegen Rückgabe des Wagens) und Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten.
Das hier aufgeworfene Kernproblem betrifft die Frage, an welchem Ort der Verkäufer die Nacherfüllung vorzunehmen hat. Es geht um den sog. Erfüllungsort bzw. Leistungsort bei der kaufrechtlichen Nacherfüllung.
- Ist bei der kaufrechtlichen Nacherfüllung der Erfüllungsort bzw. Leistungsort am Wohnsitz des Käufers, konnte K zu Recht von V verlangen, den Wagen zum Zwecke der Mangelbeseitigung abzuholen. Dann wäre auch der Rücktritt zulässig gewesen, weil die Frist zur Nacherfüllung fruchtlos verstrichen war (vgl. §§ 440 S. 1 und 323 Abs. 2 Nr. 1, 2 BGB). Zudem hätte K dann auch die Kosten der Rechtsverfolgung ersetzt verlangen können.
- Darf der Verkäufer die Nacherfüllung an seinem Ort vornehmen, konnte V zu Recht von K verlangen, den Wagen zum Zwecke der Mangelbeseitigung vorbeizubringen. Dann wäre der Rücktritt unzulässig gewesen, weil K keine ordnungsgemäße Gelegenheit zur Nacherfüllung eingeräumt hätte. K hätte dann auch nicht die Kosten der Rechtsverfolgung ersetzt verlangen können.
Nach Auffassung des BGH ist der Erfüllungsort der Nacherfüllung im Kaufrecht nach der allgemeinen Regelung über den Erfüllungsort in § 269 Abs. 1 BGB zu ermitteln (BGH NJW 2011, 2278 ff.; NJW 2017, 2758, 2759 f.). Danach ist in erster Linie die von den Parteien getroffene Vereinbarung entscheidend. Fehlen vertragliche Abreden über den Erfüllungsort, ist auf die jeweiligen Umstände, insbesondere die Natur des Schuldverhältnisses, abzustellen (§ 269 Abs. 1 BGB). Lassen sich auch hieraus keine abschließenden Erkenntnisse gewinnen, ist der Erfüllungsort letztlich an dem Ort anzusiedeln, an welchem der Verkäufer zum Zeitpunkt der Entstehung des Schuldverhältnisses seinen Wohnsitz oder seine gewerbliche Niederlassung (§ 269 Abs. 2 BGB) hatte.
Vorliegend fehlt es an einer diesbezüglichen Parteiabsprache. Eine solche wäre auch gar nicht zulässig, weil von der gesetzlichen Regelung (zu der ja auch § 439 Abs. 2 BGB gehört) abweichende Vereinbarungen zulasten von Verbrauchern gem. § 476 Abs. 1 BGB nicht getroffen werden dürfen. Demnach ist der Erfüllungsort der Geschäftssitz des V, wenn sich nicht aus den Umständen, insbesondere aus der Natur des Schuldverhältnisses, etwas anderes ergibt (§ 269 Abs. 1 BGB). Zu den beim Fehlen vertraglicher Vereinbarungen maßgebenden Umständen zählen die Ortsgebundenheit und Art der vorzunehmenden Leistung, die Verkehrssitte, örtliche Gepflogenheiten und Handelsbräuche, speziell im Kaufrecht aber auch das Ausmaß der Unannehmlichkeiten, welche die Durchführung des Transports oder dessen Organisation für den Käufer mit sich bringt. Diese Auslegung des § 439 Abs. 2 BGB fußt auf einer Richtlinie des EU-Rechts (EU-Verbrauchsgüterkaufrichtlinie), wonach die Nacherfüllung ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher erfolgen muss.
Im vorliegenden Fall könnte man daher meinen, dass die Aufforderung des K, V solle den Wagen zwecks Nacherfüllung abholen, genügte, da der Transport eines (mitunter nicht fahrbereiten) Wagens zum Verkäufer eine erhebliche Unannehmlichkeit für den Verbraucher darstellt.
Andererseits ist es nicht unüblich, dass Kunden ihre Reklamationen generell am Sitz des Verkäufers unter Vorlage der mangelbehafteten Sache vorbringen, wobei das freilich nicht für den Fernabsatz („Internetkauf“ mit Versand der Ware an den Wohnort des Käufers) gilt. Beim Fahrzeugkauf vom Händler besteht die Besonderheit, dass Nachbesserungsarbeiten i.d.R. technisch aufwändige Diagnose- oder Reparaturarbeiten des Verkäufers erfordern, die wegen der dort vorhandenen materiellen oder personellen Möglichkeiten sinnvoll nur an dessen Betriebsort vorgenommen werden können (so ausdrücklich der BGH a.a.O.).
Daher stellt der Transport des mangelbehafteten Kfz an den Firmensitz des Verkäufers für den Käufer jedenfalls dann keine erhebliche Unannehmlichkeit dar, wenn der Sitz des Verkäufers nicht so weit vom Wohnort des Käufers entfernt ist, dass diesem ein Transport oder wenigstens dessen Organisation nicht zumutbar ist (BGH a.a.O.).
Ob auch für K eine Transportpflicht bestand oder zumindest dessen Organisation zu erheblichen Unannehmlichkeiten geführt hätte, hängt also maßgeblich von der Entfernung zum Betriebsort des V ab bzw. von der Möglichkeit, den Transport zu organisieren. War es also K zumindest möglich, ohne größere Umstände den Transport des Wagens zu V zu organisieren (etwa durch Beauftragung eines Speditionsunternehmens, zumal K ein Transportkostenvorschuss zustand), genügte die schlichte Aufforderung gegenüber V, dieser solle den Wagen bei K abholen, nicht.
Da K lediglich den V aufgefordert hat, den Wagen zum Zweck der Nacherfüllung abzuholen, war er nicht zum Rücktritt vom Kaufvertrag berechtigt.
h. Aus- und Einbaukosten im Rahmen der Nacherfüllung
Geht es um die Nachbesserung einer Sache, die der Käufer an ihrem Bestimmungsort auf- oder eingebaut oder an eine andere Sache angebracht hat, stellt sich die Frage, ob der Verkäufer die Kosten für den Ausbau und Abtransport der mangelbehafteten Sache und ebenfalls die Kosten für den Einbau der fehlerfreien Ersatzsache (bzw. der reparierten Originalsache) übernehmen muss. Nach bisheriger (d.h. bis zum 31.12.2017 geltender) Systematik des Gewährleistungsrechts der §§ 434 ff. BGB gehörten der Ausbau der mangelhaften Kaufsache und der Einbau der als Ersatz gelieferten oder reparierten Sache jedenfalls dann nicht zu der vom Verkäufer geschuldeten Nacherfüllung, wenn dies unverhältnismäßig i.S.d. § 439 Abs. 3 S. 3 Halbs. 2 BGB a.F. war. Somit war er auch nicht zur diesbezüglichen Kostenübernahme verpflichtet. Solche „Folgekosten“ wurden nach der Gesetzessystematik dem Verkäufer vielmehr nur dann aufgebürdet, wenn er über einen Schadensersatzanspruch verschuldensabhängig haften muss.
Beispiel: K kaufte im Fliesengeschäft des V Bodenfliesen für seine Gewerberäume. Er ließ sie sodann von einem Werkunternehmer verlegen. Kurze Zeit später wiesen die Bodenfliesen Kratzer und Verfärbungen auf. Es stellte sich heraus, dass die Bodenfliesen nicht für Gewerberäume geeignet sind. V stellte dies auch gar nicht in Abrede, sondern räumte ein, dass ein Lagermitarbeiter aus Versehen falsche Fliesen ausgeliefert habe.
Ein Kaufvertrag und ein Sachmangel liegen vor. Die Fliesen wiesen nicht die vereinbarten bzw. vertraglich vorausgesetzten Eigenschaften auf. K hat daher jedenfalls einen Anspruch auf Nachlieferung vereinbarungsgemäßer Fliesen. Dies könnte jedoch den Interessen des K nicht genügen. Denn das eigentliche Problem bereitet die Frage, ob K die Entfernung der mangelhaften Fliesen und das Verlegen der neuen Fliesen selbst übernehmen muss (bzw. die Kosten dafür zu tragen hat) oder ob er dies von V verlangen kann. §§ 437 Nr. 1, 439 BGB in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung regelten dies nicht, sodass K lediglich die Nachlieferung verlangen konnte und die Austauschkosten insoweit selbst zu tragen hatte. Der Verkäufer konnte die Nacherfüllung komplett verweigern, wenn diese mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden ist (siehe § 439 Abs. 3 S. 3 Halbs. 2 BGB a.F.), was in den sog. Flieseneinbaufällen regelmäßig der Fall sein dürfte. Die Kosten für das Entfernen der mangelhaften Fliesen und das Verlegen der nachgelieferten Fliesen konnten jedoch als Schadensersatz gem. §§ 437 Nr. 3, 281, 280 BGB geltend gemacht werden. Das gem. § 280 Abs. 1 BGB erforderliche Vertretenmüssen (Verschulden i.S.d. § 276 BGB) ergab sich aus dem Umstand, dass der Lagermitarbeiter die Fliesen verwechselt hatte, was dem V gem. § 278 BGB zugerechnet wurde.
Hätte ein Verschulden aber nicht vorgelegen (etwa, weil die Fliesen nicht verwechselt worden wären, sondern weil es sich um einen für V nicht erkennbaren Fabrikationsfehler gehandelt hätte), hätte K der Schadensersatzanspruch nicht zugestanden. Und wegen der bis zum 31.12.2017 geltenden Gesetzeslage hätte er die Aus- und Einbaukosten auch nicht im Rahmen eines (verschuldensunabhängigen) Nacherfüllungsanspruchs geltend machen können.
Ging es um einen Verbrauchsgüterkauf, also um einen Kauf, bei dem ein Verbraucher von einem Unternehmer eine bewegliche Sache kauft (siehe § 474 Abs. 1 S. 1 BGB), hat der BGH entschieden, dass der Verkäufer sehr wohl die Kosten für den Ausbau und Abtransport der mangelbehafteten Sache und ebenfalls die Kosten für den Einbau der fehlerfreien Ersatzsache (bzw. der reparierten Originalsache) übernehmen muss (BGH NJW 2012, 1073 ff.). Der Hintergrund für diese von der Systematik der §§ 437, 439 BGB abweichende Rechtsprechung liegt in einer zuvor vom EuGH (NJW 2011, 2269 ff.) vorgenommenen Auslegung der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie der EU (RL 1999/44 EG). Diese geht in Art. 3 Abs. 3 von der grundsätzlichen Unentgeltlichkeit der Nacherfüllung aus. Grundsätzlich soll der Verbraucher nicht mit Kosten belastet werden, die bei ordnungsgemäßer Erfüllung nicht angefallen wären. Müsste der Verbraucher also die Kosten für den Ausbau einer mangelhaften Sache und den Einbau der reparierten Sache bzw. gelieferten mangelfreien Ersatzsache tragen, hätte er Kosten, die bei ordnungsgemäßer Erfüllung nicht angefallen wären. Er wäre also im Fall der Mangelhaftigkeit der Sache belastet. Das möchte Art. 3 Abs. 3 der RL 1999/44/EG im Grundsatz verhindern. Allerdings sieht Art. 3 Abs. 3 S. 1 der RL zum Schutz des Unternehmers auch vor, dass der Verbraucher eine unentgeltliche Nachbesserung oder Ersatzlieferung nur verlangen kann, sofern dies für den Unternehmer nicht unmöglich oder unverhältnismäßig ist.
Gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 der RL gilt eine Nacherfüllung als unverhältnismäßig, wenn sie beim Verkäufer Kosten verursachen würde, die
- angesichts des Werts, den das Verbrauchsgut ohne die Vertragswidrigkeit hätte,
- unter Berücksichtigung der Bedeutung der Vertragswidrigkeit und
- nach Erwägung der Frage, ob auf die alternative Abhilfemöglichkeit ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher zurückgegriffen werden könnte,
verglichen mit der alternativen Abhilfemöglichkeit unzumutbar wären.
Der EuGH hat entschieden, dass die Nachlieferung einer mangelfreien Sache auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache erfasse. Art. 3 Abs. 3 der RL schließe jedoch nicht aus, dass der Anspruch des Verbrauchers auf Erstattung der Kosten für den Ausbau des mangelhaften Verbrauchsguts und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts in einem solchen Fall auf die Übernahme eines angemessenen Betrags durch den Verkäufer beschränkt wird (EuGH NJW 2011, 2269, 2274; siehe auch BGH NJW 2012, 1073, 1075).
In Umsetzung dieses EuGH-Urteils hat das denn auch der BGH hinsichtlich § 439 Abs. 1 Var. 2 BGB entschieden. In richtlinienkonformer Auslegung erfasse die Nacherfüllungsvariante „Lieferung einer mangelfreien Sache“ auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache. Der BGH erkennt aber auch, dass dies für den Verkäufer unverhältnismäßig sein kann. Er hat daher – entgegen dem Wortlaut des § 439 BGB, aber in Übereinstimmung mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 der RL – eine Beschränkung der Kostenübernahme vorgenommen. Der Verkäufer habe das Recht, den Käufer bezüglich des Ausbaus der mangelhaften Kaufsache und des Einbaus der als Ersatz gelieferten Kaufsache auf die Kostenerstattung im Höhe eines angemessenen Betrags zu verweisen. Bei der Bemessung dieses Betrags seien insbesondere der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand und die Bedeutung des Mangels zu berücksichtigen. Zugleich sei zu gewährleisten, dass durch die Beschränkung auf eine Kostenbeteiligung des Verkäufers das Recht des Käufers auf Erstattung der Aus- und Einbaukosten nicht ausgehöhlt werde. Folge daraus ist:
- Der Unternehmer ist grds. verpflichtet, den Aus- und Einbau selbst vorzunehmen, auch wenn dies mit hohen Kosten verbunden wäre.
- Erst, wenn sich der Verkäufer (wegen Unzumutbarkeit der mit der Nacherfüllung verbundenen Kosten) weigert, muss er sowohl die Kosten für den Ausbau und Abtransport der mangelhaften Sache als auch die Kosten für den Einbau der fehlerfreien Ersatzsache (bzw. der reparierten Originalsache) übernehmen (BGH NJW 2012, 1073 ff.), jedoch nur in angemessener Höhe. Darüber, was im Einzelfall „angemessen“ ist, besteht Unklarheit. Ein entscheidendes Gericht wird sich gem. Art. 3 Abs. 3 S. 2 der RL v.a. an Art und Schwere des Mangels im Vergleich zum Wert der mangelfreien Sache unter Berücksichtigung der Bedeutung der Vertragswidrigkeit orientieren.
Beispiel: Wäre im obigen Fliesenfall K also ein Verbraucher gewesen, hätte er nach der Systematik der §§ 439 ff. BGB ebenfalls keinen Aufwendungsersatzanspruch gehabt, dies allerdings hätte Art. 3 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie nicht entsprochen. In Abweichung zum Wortlaut des § 439 BGB war K daher ein Aufwendungsersatzanspruch zu gewähren, der wegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 der RL jedoch auf einen für V angemessenen Betrag zu reduzieren war.
Mit Wirkung zum 1.1.2018 hat der Gesetzgeber die ausgeführte EuGH- und BGH-Rechtsprechung in Gesetzesrecht überführt und einen „erweiterten Nacherfüllungsanspruch“ eingeführt. Gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB n.F. (der aufgrund seiner Stellung im allgemeinen Kaufrecht übrigens nicht auf Verbrauchsgüterkaufverträge begrenzt ist, sondern für alle Kaufverträge gilt) ist der Verkäufer im Rahmen der Nacherfüllung verpflichtet, dem Käufer die erforderlichen Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften und den Einbau oder das Anbringen der nachgebesserten oder gelieferten mangelfreien Sache zu ersetzen, wenn der Käufer die mangelhafte Sache gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache eingebaut oder an eine andere Sache angebracht hat. Es geht also um einen Aufwendungsersatzanspruch, der der Systematik des Nacherfüllungsanspruchs folgend kein Verschulden des Verkäufers hinsichtlich des Mangels voraussetzt.
Beispiel: K kauft beim Ersatzteilehändler V einen generalüberholten Motor für sein gewerblich genutztes Auto. Den Motor lässt er von einer Werkstatt ordnungsgemäß einbauen. Drei Wochen später weist der Motor einen kapitalen Schaden auf. K fordert V unter Setzung einer Frist zur Mangelbeseitigung auf. V ist der Meinung, K müsse den Motor wieder ausbauen (lassen) und zu ihm bringen, damit er ihn repariere.
Bei einem Austauschmotor handelt es sich um eine Sache, die gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache (hier: in das Auto) eingebaut wird. Dass K den Motor nur deshalb kaufte, um diesen in sein Auto einzubauen, steht außer Zweifel. Daher muss gem. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB V die Kosten für den Ausbau des Motors und dessen Versand zu V übernehmen. Ihm bleibt aber die Einwendung des § 439 Abs. 4 S. 1 BGB, wonach er die Nacherfüllung (und damit auch die Übernahme der Kosten für den Ausbau des defekten Motors und den Einbau des reparierten Motors bzw. eines mangelfreien Motors) verweigern kann, wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist. In diesem Fall blieben K „nur“ das Minderungsrecht und das Rücktrittsrecht. Lediglich bei Verschulden des V hätte K auch einen Anspruch auf Schadensersatz.
Die Verpflichtung des Verkäufers zum Kostenersatz für Aus- und Wiedereinbau im Rahmen des Aufwendungsersatzanspruchs besteht gemäß der auf den ersten Blick nicht klaren Formulierung in § 439 Abs. 3 S. 2 BGB aber nur dann, wenn der Käufer die sich später als mangelhaft herausstellende Sache „gutgläubig“ in eine andere Sache eingebaut hat, d.h. er also den Mangel weder kannte noch grob fahrlässig nicht kannte. Anders formuliert: Wegen der Bezugnahme in § 439 Abs. 3 S. 2 BGB auf § 442 Abs. 1 BGB ist die Verpflichtung des Verkäufers zum Kostenersatz für Aus- und Wiedereinbau im Rahmen des Aufwendungsersatzanspruchs ausgeschlossen, wenn der Käufer den Mangel kannte oder grob fahrlässig nicht kannte.
Beispiel: K kauft beim Ersatzteilehändler V neue Bremsscheiben für sein gewerblich genutztes Auto. Die Bremsscheiben lässt er von einer Werkstatt ordnungsgemäß einbauen, obwohl diese bezweifelt, dass die Bremsscheiben über eine Zulassung für das Fahrzeug verfügen, und dies K auch so mitgeteilt hatte. Bei der Hauptuntersuchung drei Wochen später weist der Prüfingenieur K auf diesen Mangel hin und verweigert die Erteilung der Prüfplakette.
In diesem Fall ist muss V nicht gem. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB V die Kosten für den Ausbau der falschen (und damit mangelhaften) Bremsscheiben sowie für den Einbau richtiger Bremsscheiben übernehmen, da K aufgrund der von der Werkstatt geäußerten Zweifel an der Zulassung der Bremsscheiben grob fahrlässig gehandelt hat.
Im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufs
gilt ergänzend bzw. abweichend die Regelung des § 475 Abs. 4 S. 2 BGB. Sind die Kosten für den Ausbau der mangelhaften Sache und den Einbau der reparierten bzw. nachgelieferten mangelfreien Sache unverhältnismäßig, kann der Unternehmer den Aufwendungsersatz auf einen angemessenen Betrag beschränken. Bei der Bemessung dieses Betrags sind gem. § 475 Abs. 4 S. 3 BGB insbesondere der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand und die Bedeutung des Mangels zu berücksichtigen. Das entspricht der im Lichte des Art. 3 Abs. 3 S. 2 der RL ergangenen Rechtsprechung des BGH.
Beispiel: Verbraucher K kauft beim Ersatzteilehändler V einen generalüberholten Motor für sein Auto. Den Motor lässt er von einer Werkstatt ordnungsgemäß einbauen. Drei Wochen später weist der Motor einen kapitalen Schaden auf. K fordert V unter Setzung einer Frist zur Mangelbeseitigung auf. V ist der Meinung, K müsse den Motor wieder ausbauen (lassen) und zu ihm bringen, damit er ihn repariere.
Da es sich bei einem Austauschmotor um eine Sache handelt, die gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache (hier: in das Auto) eingebaut wird, und K den Motor nur deshalb kaufte, um diesen in sein Auto einzubauen, muss gem. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB V die Kosten für den Ausbau des Motors und dessen Versand zu V übernehmen. Sollte dies den V unverhältnismäßig belasten, kann er die Einwendung des § 475 Abs. 4 S. 2 BGB geltend machen und den Aufwendungsersatz auf einen angemessenen Betrag beschränken, der sich nach der Art und der Schwere des Mangels im Vergleich zur mangelfreien Sache unter Berücksichtigung der Bedeutung der Vertragswidrigkeit bemisst.
Beschränkt der unternehmerische Verkäufer den ihm gegenüber bestehenden Aufwendungsersatzanspruch auf einen angemessenen Betrag, greift gem. § 475 Abs. 5 BGB die Regelung des § 440 BGB. Der Käufer kann also - ohne eine Frist setzen (oder eine angemessene Zeit abwarten) zu müssen - vom Kaufvertrag zurücktreten.
Immerhin kann gem. § 445a BGB der auf diese Weise in Anspruch genommene Verkäufer einer neu hergestellten Sache die ihm im Verhältnis zu seinem Käufer zu erstattenden Aufwendungen von seinem Lieferanten ersetzt verlangen (sog. Rückgriff, dazu unten), ohne dass es einer Fristsetzung bedarf.
Fazit:
Bei einem Kauf, der kein Verbrauchsgüterkauf ist, kann der Verkäufer die Kostenübernahme bzgl. des Ausbaus der defekten Sache und des Einbaus der reparierten bzw. nachgelieferten Ersatzsache wegen Unverhältnismäßigkeit gänzlich verweigern. Demgegenüber reduzieren sich beim Verbrauchsgüterkauf auf Einwendung des Verkäufers hin die Kosten für den Ausbau der mangelhaften Sache und den Einbau der reparierten bzw. nachgelieferten mangelfreien Sache immerhin auf einen „angemessenen“ Betrag, wenn die volle Inanspruchnahme des Verkäufers diesen unangemessen belastete. Das folgt aus der Gesetzessystematik, die die Beschränkung des Aufwendungsersatzes nur in § 475 Abs. 4 S. 2 BGB enthält, nicht aber in § 439 Abs. 3 und 4 BGB. Macht der unternehmerische Verkäufer von seinem Beschränkungsrecht nach § 475 Abs. 4 S. 2 BGB Gebrauch, kann gem. § 475 Abs. 5 BGB i.V.m. § 440 S. 1 BGB der Verbraucher – ohne eine Frist setzen (oder eine angemessene Zeit abwarten) zu müssen – vom Kaufvertrag zurücktreten, nach § 441 BGB den Kaufpreis mindern oder nach §§ 280, 281 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen.
i. Aufwendungen zur Klärung einer unklaren Mängelursache
Nach herrschender Rechtsansicht sind auch Aufwendungen zur Klärung einer unklaren Mängelursache erfasst, weil das damit verbundene Kostenrisiko grundsätzlich dem Verkäufer zugewiesen ist. Aus diesem Grund sind auch die Kosten eines Sachverständigengutachtens, das zur Ermittlung des Mangels in Auftrag gegeben wurde, nach der Rechtsprechung (BGH NJW 2014, 2351) Aufwendungen i.S.d. § 439 Abs. 2 BGB und daher zu ersetzen, ohne dass es auf ein Verschulden des Verkäufers für den Mangel ankäme, wie das der Fall wäre, wenn man die Sachverständigenkosten als Schadensersatzposition ansähe.
j. Kein Ausschluss des Rechts auf Nacherfüllung
Schließlich darf das Recht auf Nacherfüllung nicht ausgeschlossen sein. Der Ausschluss kann sich aus dem Gesetz oder aufgrund von Parteivereinbarung ergeben. Ausschlussgründe können sein:
- Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB
Da eine unmögliche Leistung nicht erbracht werden kann, wäre es sinnlos, dem Käufer einen durchsetzbaren Anspruch auf Nacherfüllung zuzusprechen. Folgerichtig hat der Gesetzgeber in § 275 Abs. 1 BGB, der auch auf die Nacherfüllung i.S.v. § 439 BGB anwendbar ist, formuliert, dass der Schuldner von seiner Leistungspflicht frei wird, soweit diese für ihn oder für jedermann unmöglich ist. Beschränkt sich die Unmöglichkeit auf eine Art der Nacherfüllung, also entweder auf die Nachlieferung oder auf die Nachbesserung, ist der Nacherfüllungsanspruch nur insoweit und in Bezug auf diesen Teil ausgeschlossen („soweit“ in § 275 Abs. 1 BGB). Der Anspruch des Käufers beschränkt sich dann auf die noch mögliche Art der Nacherfüllung. Ist diese für den Verkäufer ebenfalls unmöglich, wird er nach § 275 Abs. 1 BGB von seiner Nacherfüllungspflicht gänzlich frei.
- Unzumutbarkeit nach § 439 Abs. 4 BGB („unverhältnismäßig“).
Nach § 439 Abs. 4 BGB kann der Verkäufer die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung verweigern, wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten realisierbar ist. Anhaltspunkte sind das Verschulden bzw. Vertretenmüssen. Die Kappungsgrenze liegt wohl bei 130% des Kaufpreises.
Beispiel: Käufer K kauft im Geschäft des V ein neues Smartphone zum Preis von 350,- €. Zwei Monate nach der Übergabe ist das Display defekt.
Sollte die Reparatur des Smartphones nicht mehr als 130% vom Kaufpreis betragen, darf und muss V die Reparatur durchführen, sofern diese von K verlangt wird. Sollten die Kosten der Reparatur darüberliegen, darf V das Nacherfüllungsrecht des K auf Nachlieferung beschränken.
- Kenntnis des Käufers vom Mangel (Vorsatz; aber auch grob fahrlässige Unkenntnis, es sei denn, Verkäufer war arglistig), § 442 Abs. 1 BGB.
Kannte der Käufer bei Vertragsschluss den Mangel, sind seine Rechte wegen eines Mangels (und damit auch sein Recht auf Nacherfüllung) ausgeschlossen (§ 442 Abs. 1 S. 1 BGB). Kenntnis setzt positives Wissen bezüglich des Mangels voraus. Der Kenntnis gleichgesetzt ist grob fahrlässige Unkenntnis vom Mangel. In diesem Fall kann der Käufer Rechte wegen des Mangels nur geltend machen, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat (§ 442 Abs. 1 S. 2 BGB).
Beispiel: Verkäufer V inseriert seinen 3 Jahre alten VW Beetle 1.2 TSI in einer Internetverkaufsbörse zu einem Preis von 12.000,- €. Interessent K nimmt zu V Kontakt auf und erklärt sofort, dass er den Wagen für 11.500,- € nehme, wenn V den Wagen zu K liefere. V ist irritiert und schlägt K vor, er solle doch zunächst einmal vorbeikommen und den Wagen zur Probe fahren. K erwidert jedoch, dass dies nicht nötig sei. Daraufhin nimmt V das Angebot des K an. Zwei Monate nach der Übergabe meldet sich K bei V und macht Sachmängelrechte geltend wegen eines angeblichen Motorschadens.
Hier kannte K bei Vertragsschluss zwar nicht den (eventuellen) Mangel, es liegt aber in jedem Fall grob fahrlässige Unkenntnis vom (eventuellen) Mangel vor. Denn beim Kauf eines Kraftfahrzeugs soll dieses besichtigt und bei Gestattung durch den Verkäufer auch zur Probe gefahren werden. V hat eine vorherige Probefahrt sogar ausdrücklich angeboten. Dass V den (angeblichen) Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit des Wagens übernommen hat (vgl. § 442 Abs. 1 S. 2 BGB), ist nicht ersichtlich. Es lag daher allein in der Risikosphäre des K, den Wagen „blind“ zu kaufen.
- Vertraglicher Ausschluss der Sachmängelhaftung (soweit zulässig, vgl. §§ 444 und 476 BGB und AGB-Recht; vgl. auch § 377 Abs. 1 HGB)
Nach Möglichkeit wird der Verkäufer versuchen, Sachmängelrechte auszuschließen. Das Gesetz gestattet den vertraglichen Ausschluss der Gewährleistung jedoch nur in bestimmten Fällen und unter bestimmten Voraussetzungen.
3. Rückgriff des Verkäufers gegen den Lieferanten
Wird ein Letztverkäufer von seinem Käufer wegen eines Sachmangels in Anspruch genommen, stellt sich für ihn regelmäßig die Frage, ob er seinen Lieferanten in Regress nehmen kann. Wäre eine Regressnahme ausgeschlossen, träfe dies den Letztverkäufer mitunter existenzgefährdend. Daher hat der Gesetzgeber in § 445a Abs. 1 BGB geregelt, dass der Verkäufer beim Verkauf einer neu hergestellten Sache von seinem Lieferanten Ersatz der Aufwendungen verlangen kann, die er im Verhältnis zu seinem Käufer nach § 439 Abs. 2 und 3 BGB sowie nach § 475 Abs. 4 und 6 BGB zu tragen hatte. Voraussetzung ist, dass der vom Käufer geltend gemachte Mangel bereits beim Übergang der Gefahr vom Lieferanten auf den Verkäufer (also regelmäßig zum Zeitpunkt der Übergabe nach § 446 BGB oder beim Versendungskauf gem. § 447 BGB zum Zeitpunkt der Übergabe an die Transportperson) vorhanden war. Die Beweislast hierfür trägt der Verkäufer. Ist also der Mangel erst später beim Verkäufer entstanden oder gelingt dem Verkäufer der Beweis, dass der Mangel bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vom Lieferanten auf ihn vorhanden war, nicht, berechtigt dies den Verkäufer nicht zur Regressnahme.
Beispiel: V verkaufte an K einen Neuwagen für dessen Gewerbebetrieb. Aufgrund werksseitig manipulierter Motorsteuerungssoftware musste V nacherfüllen.
Hier kann V von seinem Lieferanten die Kosten, die er für die Nacherfüllung aufbringen musste, gem. § 445a Abs. 1 BGB erstattet verlangen. Dass die manipulierte Motorsteuerungssoftware bereits zum Zeitpunkt der Lieferung des Fahrzeugs an V (und damit zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs) installiert war, dürfte außer Frage sein.
Handelt es sich beim letzten Vertrag um einen Verbrauchsgüterkauf, gilt die Beweislastumkehr nach § 477 BGB auch für Ansprüche des Lieferanten und der übrigen Käufer in der Lieferkette, wenn die Schuldner Unternehmer sind (§ 478 Abs. 3 BGB i.V.m. § 478 Abs. 1 BGB).
Bei gebrauchten Sachen gelten die vorgenannten Ausführungen zum Regress nicht. In diesem Fall bleiben nur die allgemeinen Mängelrechte.
R. Schmidt
(2.1.2018)