Aktuelles 2022

Beiträge 2022


 Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

an dieser Stelle möchte ich aktuelle Entwicklungen in Form von Gesetzesnovellen und Urteilsanmerkungen aufzeigen und gleichzeitig Inhalte meiner Bücher aktualisieren. Für das Jahr 2022 werden bislang folgende Themen behandelt (Thema bitte durch Anklicken auswählen):
 
21.12.2022: Akzessorietätslockerung bei Garantenstellung aus Ingerenz beim Mord durch Unterlassen

BGH, Beschl. v. 24.3.2021 – 4 StR 416/20 (NStZ 2022, 220)

Mit Beschluss vom 24.3.2021 hat der 4. Strafsenat des BGH entschieden, dass die Garantenstellung aus Ingerenz (die Bezeichnung Ingerenz entstammt dem lateinischen Verb ingerere = sich einmischen; wer also durch Einmischung eine Gefahr schafft, ist zur Erfolgsabwendung verpflichtet) ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne von § 28 I StGB sei. Diese auf den ersten Blick unverfängliche Aussage hat auf den zweiten Blick unmittelbare Auswirkungen: Zum einen klärt sie (für die Praxis) die umstrittene Frage, ob die Ingerenzpflicht ein täter- oder tatbezogenes Merkmal ist, und zum anderen bestätigt sie die Rechtsprechung des BGH (außer der des 5. Strafsenats in dessen Beschl. v. 10.1.2006 – 5 StR 341/05 – NJW 2006, 1008 ff.), beim Mord handele es sich gegenüber dem Totschlag um ein eigenständiges Delikt (und nicht um eine Qualifikation). Denn § 28 I StGB enthält eine obligatorische Strafmilderung für den Teilnehmer, wenn bei ihm „besondere persönliche Merkmale“, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, fehlen. Bei der Verdeckungsabsicht handelt es sich nach dem BGH um ein strafbarkeitsbegründendes Merkmal, da der BGH dieses dem § 28 I StGB zuordnet. Das impliziert, dass es sich bei § 211 StGB um einen eigenständigen Tatbestand und nicht um eine Qualifikation zu § 212 StGB handelt

Dem Beschluss lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde (leicht abgewandelt, um die Probleme zu fokussieren): Nach einem gemeinsamen Kneipenbesuch fuhren A und B mit ihren Fahrzeugen nachts hintereinander in Richtung Wohnort. Beide fuhren unter Alkoholeinfluss und waren nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis. Der vorausfahrende A übersah an einer Kreuzung den von rechts kommenden, vorfahrtsberechtigten Fahrradfahrer F und erfasste ihn mit seinem Fahrzeug. F erlitt durch den Zusammenstoß u.a. einen Abriss der Hauptschlagader, was innerhalb weniger Minuten zu seinem Tod führte. A hielt sein Fahrzeug an, stieg aus und begab sich zur Unfallstelle. Dort sah er F regungslos am Straßenrand liegen. Er hielt es für möglich, dass F noch lebte und gerettet werden konnte. Zwar ging er davon aus, dass von F keine Entdeckungsgefahr drohte; er befürchtete aber, beim Veranlassen von Rettungsmaßnahmen wegen der fehlenden Fahrerlaubnis und des Fahrens unter Alkoholeinfluss strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Daher entschloss er sich, keine Rettungsmaßnahmen einzuleiten und zu flüchten. Ein Versterben des Unfallopfers infolge unterlassener Rettungsmaßnahmen nahm er billigend in Kauf. Da sich aber der Wagen nicht mehr starten ließ, gelang es A zunächst nicht, den Unfallort mit seinem Wagen zu verlassen.

B sah, als er die Unfallstelle passierte, dass F schwer verletzt und regungslos am Straßenrand lag. Auch sah er, dass A den Wagen nicht starten konnte, sodass er diesem „Pannenhilfe“ gab. Sodann setzte er – wie A – die Fahrt fort, weil es ihm besser erschien, die Unfallstelle wegen seiner fehlenden Fahrerlaubnis und des Fahrens unter Alkoholeinfluss schnellstmöglich zu verlassen.

Da das LG die mögliche Strafrahmenverschiebung nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB nicht in Betracht gezogen hatte, bei Beachtung jedoch bei der Strafbemessung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, hob der BGH das Urteil des LG in Bezug auf den Strafausspruch auf. Ob die Entscheidung des BGH überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.


A. Einführung

I. Rechtliche Grundlagen

1. Limitierte Akzessorietät der Teilnehmerstrafbarkeit

Im Ausgangspunkt gilt, dass sich die Strafe für den Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe, siehe § 28 I StGB) grundsätzlich (unter Berücksichtigung der obligatorischen Strafmilderung für den Gehilfen, § 27 II S. 2 i.V.m. § 49 I StGB) nach der für den Täter geltenden Strafandrohung richtet. Weiterhin folgt aus §§ 26 und 27 StGB, dass eine lediglich tatbestandliche und rechtswidrige Haupttat vorliegen muss. Auf die Schuld des Haupttäters kommt es nicht an (Limitierung der Teilnahmeakzessorietät auf Tatbestand und Rechtswidrigkeit der Haupttat). § 28 StGB enthält eine zusätzliche Akzessorietätslockerung. Diese Vorschrift bezieht sich auf Tatbestände, die strafbegründende und strafmodifizierende besondere persönliche Merkmale enthalten. Mit ihr können die jeweiligen persönlichen Merkmale von Mittätern und Teilnehmern besonders berücksichtigt und strafrechtlich noch unabhängiger von den anderen Beteiligten gewürdigt werden.


2. Besondere persönliche Merkmale

Von zentraler Bedeutung ist somit die Kenntnis der besonderen persönlichen Merkmale. Das sind nach dem BGH solche i.S.d. § 14 I StGB, also besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (so ausdrücklich BGH NStZ 2022, 220: „Eine Milderung nach § 28 Abs. 1 StGB ist zu gewähren, wenn besondere persönliche Merkmale (§ 14 Abs. 1 StGB) beim Teilnehmer fehlen, welche die Strafbarkeit des Täters begründen“; streng genommen ist die Auffassung des BGH aber ungenau, da § 14 I StGB von „welche die Strafbarkeit des Täters begründen“ spricht, bei § 28 StGB dies aber lediglich auf Abs. 1 zutrifft, nicht auf Abs. 2, der von besonderen persönlichen Merkmalen spricht, die die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, also modifizieren, nicht begründen). Mit der Terminologie des § 28 StGB sind das somit täterbezogene Merkmale, worunter nach dem BGH Merkmale zu verstehen sind, die im Schwergewicht die Persönlichkeit des Täters kennzeichnen (BGH NStZ 2022, 220, 221 mit Verweis u.a. auf BGHSt 39, 326, 328; 41, 1 f.; 58, 115, 117 f.; 63, 282 ff.). Diese sind wiederum von den tatbezogenen Merkmalen abzugrenzen, d.h. von solchen Merkmalen, die nur der sachlichen Charakterisierung der Tat (der Rechtsgutverletzung) dienen, für die der Anwendungsbereich des § 28 StGB konsequenterweise nicht eröffnet ist und bei denen dementsprechend eine Akzessorietätslockerung nicht stattfinden kann. Das zeigt, welche Bedeutung die Einordnung eines Tatbestandsmerkmals entweder als täterbezogen oder als tatbezogen im konkreten Fall für die Strafbarkeit des Beteiligten haben kann. Allgemeingültige Abgrenzungskriterien bestehen nicht. Der BGH stellt – wie aufgezeigt – darauf ab, ob das betreffende Merkmal im Schwergewicht die Tat oder die Persönlichkeit des Täters kennzeichnet. Umstände, die eine besondere Gefährlichkeit des Täterverhaltens anzeigten oder die Ausführungsart des Delikts beschrieben, seien i.d.R. tatbezogen. Gehe es um Merkmale, die die Persönlichkeit des Täters mit seinen Absichten und Motiven kennzeichnen (was auch bei strafrechtlichen Sonderpflichten anzunehmen sei), seien diese Merkmale täterbezogen (BGH NStZ 2022, 220, 221 mit Verweis auf BGHSt 41, 1, 4 f.; 58, 115, 117 f.; 63, 282 ff.).

Mithin lässt sich sagen, dass besondere persönliche Merkmale i.S.d. § 28 StGB jedenfalls solche täterbezogenen Merkmale sind, die eine besondere Pflichtenstellung höchstpersönlicher Art umschreiben. Das betrifft insbesondere die Stellung des Täters als Erzieher in den §§ 174 und 180 I S. 2 StGB, als Amtsträger in den §§ 331 ff. StGB, als Garant (nach dem BGH jedenfalls bei Ingerenz, dazu sogleich) in den unechten Unterlassungsdelikten, als Bandenmitglied in den §§ 244 I Nr. 2, 250 I Nr. 2 StGB (str.) oder als derjenige, dem die Sache im Bereich der verun­treuenden Unterschlagung (§ 246 II StGB) anvertraut war. Auch die Motiv- und Absichtsmerkmale beim Mord (§ 211 II StGB 1. und 3. Gruppe) gehören dazu (siehe auch BGH NStZ 2022, 220, 221).

Ordnet man also die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB dem § 28 StGB zu, stellt sich die im Folgenden zu beantwortende Frage, ob es sich bei diesen Mordmerkmalen um strafbegründende (dann ist § 28 I StGB anwendbar) oder um strafmodifizierende (dann ist § 28 II StGB anwendbar) Merkmale handelt.


3. Der Regelungsgehalt des § 28 I StGB

§ 28 I StGB enthält eine obligatorische Strafmilderung (mit Verweis auf § 49 I StGB) für den Teilnehmer (und nur für diesen, nicht also für den Mittäter!), wenn bei ihm „besondere persönliche Merkmale“, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, fehlen. § 28 I StGB stellt aufgrund der Formulierung „die Strafe ist zu mildern“ eine Strafzumessungsregel (Strafrahmenverschiebung; hier: nach unten) dar und ist somit im Deliktsaufbau immer erst nach der Schuld zu prüfen. Strafbegründend ist ein besonderes persönliches Merkmal, wenn der gesetzliche Tatbestand, der dieses Merkmal beschreibt, ein eigenständiges Delikt darstellt, dieser die Strafbarkeit also begründet, nicht lediglich modifiziert, wie das der Fall wäre, wenn es sich bei dem betreffenden Tatbestand um eine Qualifikation oder um eine Privilegierung eines Grundtatbestands handelte (in einem solchen Fall wäre nicht § 28 I StGB, sondern § 28 II StGB anwendbar). Als strafbegründend sind zunächst folgende besondere persönliche Merkmale anerkannt: die Amtsträgereigenschaft bei den eigentlichen (echten) Amtsdelikten wie §§ 331, 332, 343-345 und 348 StGB, die Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit, soweit sie für die Strafbarkeit konstitutiv sind (z.B. in § 180a I StGB), das Treueverhältnis und die Vermögensbetreuungspflicht im Bereich der Untreue (§ 266 StGB), das Schutzverhältnis nach § 225 StGB, die Berufseigenschaften in den §§ 203, 278 StGB und die Stellung als Geschäftsführer z.B. bei § 82 I Nr. 1, 3 GmbHG.

Auch die Garantenpflicht aus Ingerenz, also diejenige Garantenpflicht, die den Täter aufgrund seines pflichtwidrigen Vorverhaltens, das die nahe Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht hat (BGH NStZ 2022, 220, 222 m.w.N.), zur Erfolgsabwendung verpflichtet, ist ein dem Regelungsbereich des § 28 I StGB unterfallendes täterbezogenes Merkmal – jedenfalls nach dem BGH (BGH NStZ 2022, 220, 222; damit schloss sich der BGH den sogleich genannten Literaturstimmen an) und einem Teil der Literatur (so etwa Sch/Sch-Heine/Weißer, § 28 Rn 19; NK-Puppe, § 28 Rn 72; SK-Hoyer, § 28 Rn 35; Baumann/Weber-Eisele, AT, § 26 Rn 151; Wessels/Beulke/Satzger, AT Rn 558/773; Grunst, NStZ 1998, 548, 551; Hinderer, JA 2009, 25, 28. Vertreter der Gegenauffassung – keine Anwendung des § 28 I StGB auf Garantenstellungen, da tatbezogenes Merkmal – sind etwa MüKo-Freund, § 13 Rn 261 ff.; Lackner/Kühl-Kühl, § 28 Rn 6; Jescheck/Weigend, AT, § 61 VII 4 a; Herzberg, ZStW 88 (1976), 68, 109; Ranft, JZ 1995, 1186, 1187). Fehlt es beim Teilnehmer, ist für diesen nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB die Strafe zu mildern. Handelt es sich bei dem ingerenzpflichtigen Teilnehmer um einen Gehilfen (und nicht um einen Anstifter), wäre sogar eine doppelte Strafmilderung (einmal nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB und einmal nach § 27 II S. 2 i.V.m. § 49 I StGB) die Folge, die vom BGH aber ausgeschlossen wird (BGH NStZ 2022, 220, 223 („nur einmal zu mildern“).


4. Der Regelungsgehalt des § 28 II StGB

Gegenüber der Regelung des § 28 I StGB gelten nach § 28 II StGB besondere persönliche Merkmale, welche die Strafe „schärfen, mildern oder ausschließen“ (modifizieren), nur für den Beteiligten (Täter oder Teilnehmer!), bei dem sie vorliegen. Damit werden zwei Unterschiede zu der Regelung des § 28 I StGB deutlich:
  • § 28 I StGB gilt nur für den Teilnehmer und wirkt auch nur strafmildernd.
  • § 28 II StGB gilt dagegen für Täter und Teilnehmer und wirkt sowohl strafmildernd als auch strafschärfend.
Strafmodifizierend ist ein besonderes persönliches Merkmal, wenn der gesetzliche Tatbe­stand, der dieses Merkmal beschreibt, eine unselbstständige Abwandlung zu einem Grundtatbestand darstellt, dieser die Strafbarkeit also lediglich modifiziert und nicht begründet, wie das der Fall wäre, wenn es sich bei dem betreffenden Tatbestand um einen selbstständigen Tatbestand handelte (in einem solchen Fall wäre nicht § 28 II StGB, sondern § 28 I StGB anwendbar). Beispiele von unselbstständigen Abwandlungen sind: Die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), die schwere Körperverletzung (§ 226 StGB), die Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) und die Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) haben die (einfache) Körperverletzung (§ 223 StGB) zum Grundtatbestand. Gleiches gilt hinsichtlich des Diebstahls mit Waffen und des Bandendiebstahls (§ 244 StGB) sowie des schweren Bandendiebstahls (§ 244a StGB) im Verhältnis zum (einfachen) Diebstahl (§ 242 StGB).

Nach ganz h.M. führt § 28 II StGB zu einer Verschiebung des Tatbestands, aus dem der jeweilige Beteiligte verurteilt wird, d.h. zu einer Veränderung des Schuldspruchs und nicht (wie bei § 28 I StGB) nur des Strafrahmens.


5. § 28 I oder II StGB bei Tötungsdelikten?

Von besonderer Bedeutung (auch für den vorliegend zu besprechenden Fall) ist die Anwendung des § 28 StGB auf Tötungsdelikte, weil sich dann zusätzlich das Problem des Verhältnisses von § 211 StGB zu § 212 StGB stellt. Betrachtet man den Mordtatbestand als gegenüber dem Totschlag qualifizierend, greift für die täterbezogenen Mordmerkmale (das sind die der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB) § 28 II StGB. Sieht man den Mordtatbestand indes als eigenständigen Tatbestand an, sind die Mordmerkmale strafbegründend. Die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB unterfallen dann dem Regelungsbereich des § 28 I StGB. Die Mordmerkmale der 2. Gruppe des § 211 II StGB stehen niemals in Verbindung zu § 28 StGB, da sie tatbezogene (und keine besonderen persönlichen) Merkmale darstellen. Diese unterfallen ausschließlich den allgemeinen Teilnahmeregeln der §§ 26 und 27 StGB. Ob nun bei den täterbezogenen und damit „besonderen persönlichen Merkmalen“ i.S.d. § 28 StGB dessen Abs. 1 oder Abs. 2 Anwendung findet, hängt wiederum entscheidend davon ab, ob es sich bei den täterbezogenen Mordmerkmalen um strafbegründende (dann § 28 I StGB) oder um strafschärfende (dann § 28 II StGB) besondere persönliche Merkmale handelt.
  • Strafschärfend wären die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe, wenn es sich bei § 211 StGB um eine Qualifikation des § 212 StGB handelte. Folge wäre eine Anwendbarkeit des § 28 II StGB; es läge eine Tatbestandsverschiebung vor, was bedeutete, dass die Strafmodifizierung für den Beteiligten gelten würde, bei dem das besondere persönliche Merkmal vorläge.
  • Handelte es sich bei § 211 StGB hingegen um ein eigenständiges Delikt (delictum sui generis), wären die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe konsequenterweise strafbegründend. Das führte zur Anwendbarkeit des § 28 I StGB, wenn der Teilnehmer die täterbezogenen Mordmerkmale des Haupttäters zwar kennt, selbst aber nicht erfüllt. Rechtsfolge wäre eine Verschiebung des Strafrahmens, was bedeutet, dass der Teilnehmer trotz fehlenden Mordmerkmals wegen Teilnahme am Mord schuldig zu sprechen, seine Strafe jedoch gem. §§ 28 I, 49 I StGB zu mildern wäre.
Der BGH vertritt seit jeher die zuerst genannte Auffassung (vgl. nur BGHSt 1, 235, 238; 1, 368, 371; 22, 375, 377; BGH NJW 1998, 619, 620; BGH NStZ-RR 2002, 139; BGH NJW 2002, 3559, 3560; BGH NJW 2005, 996, 997; auch BGH NStZ 2022, 220, 221 ff. geht in diese Richtung). Lediglich der 5. Strafsenat des BGH hat dieses Ver­ständnis vom Verhältnis von Mord und Totschlag in Frage gestellt. In seiner Entscheidung vom 10.1.2006 (NJW 2006, 1008 ff.) hält er der bisherigen Rspr. des BGH zum Verhältnis von Mord und Totschlag gewichtige Argumente entgegen. Sie führe zu schwer überbrückbaren Wertungswiders­prüchen und unausgewogenen Ergebnissen, wider­spreche der sonst üblichen Systematik und sei unnötig kompliziert. Der Mord stelle sich als ein Tötungsunrecht i.S.v. § 212 StGB dar, zu dem (in den Varianten der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB) lediglich besonders schwer­wiegende persönliche Umstände beim Täter hinzu­träten. Ein solches Verhältnis entspreche nach der üblichen Systematik demjenigen zwischen Grunddelikt und Qualifikation. Dies werde besonders deutlich, wenn es um die Bewertung des Tatbeitrags von Teilnehmern gehe. Im zu entscheidenden Fall konnte der 5. Strafsenat die Frage, ob es sich bei den täterbezogenen Mordmerkmalen um strafschärfende besondere persönliche Merkmale i.S.v. § 28 II StGB und nicht um strafbegründende i.S.v. § 28 I StGB handelt, letztlich aber offenlassen, weil das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe beim Haupttäter nicht vom Vorsatz des Teilnehmers umfasst war. Daher war der Teilnehmer so oder so „nur“ wegen Beihilfe zum Totschlag strafbar. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass der 5. Strafsenat die Bereitschaft erkennen lässt, mit der gefestigten Rspr. aller Strafsenate des BGH zur Selbstständigkeit von Mord und Totschlag zu brechen und sich der (ganz herrschenden) Lehrmeinung vom Stufen­verhältnis der Tötungstatbestände anzuschließen.

Der 4. Strafsenat hat in der vorliegend zu besprechenden Entscheidung zwar Bezug auf den 5. Straf­senat genommen, jedoch darauf hingewiesen, dass dieser ausdrücklich offengelassen habe, ob und inwieweit die aus den Garantenstellungen der unechten Unterlassungsdelikte fließenden Pflichten besondere persönliche Merkmale sind (BGH NStZ 2022, 220, 221). Indem der 4. Strafsenat je­doch das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht dem Regelungsbereich des § 28 I StGB unterstellt, gibt er eindeutig zu verstehen, dass er an der Eigenständigkeit des § 211 StGB festhält. Denn die Zuordnung der Verdeckungsabsicht zu § 28 I StGB ist nur möglich, wenn man das Mord­merkmal als strafbegründend ansieht, was die Eigenständigkeit des § 211 StGB im Verhältnis zu § 212 StGB impliziert. In der Literatur wird formuliert, dass „die Rspr. bisher mit der ihr eigenen Beharrlichkeit (…) die Ansicht der Lehre … ignoriert“ (BeckOK-Eschelbach, § 211 Rn 6.2; zitiert von Hinderer, NStZ 2022, 223, 224). Das ist so nicht korrekt. Die Recht­sprechung ignoriert die Lehre nicht (weil sie sie durchaus anführt), sondern sie folgt ihr schlicht nicht.


B. Prüfung des Falls

I. Strafbarkeit des A

A hat sich tateinheitlich (natürliche Handlungseinheit) wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG), Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c I Nr. 1a i.V.m. III StGB), unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 I Nr. 2 StGB) und versuchten Mordes in Verdeckungsabsicht durch Unterlassen (§§ 211 I, II Var. 9, 13 I, 22 StGB – die Garantenstellung ergibt sich aus Ingerenz) strafbar gemacht. Der ebenfalls verwirklichte Tatbestand der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) tritt subsidiär hinter § 315c I Nr. 1a StGB zurück. Die versuchte Aussetzung mit Todesfolge (§§ 221 I Nr. 2, III, 22, 23 I, 12 I StGB) tritt im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter dem Verdeckungsmord zurück.
 

II. Strafbarkeit des B

B hat sich wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort (§§ 142 I Nr. 2, 27 I StGB) und Beihilfe zum versuchten Mord in Verdeckungsabsicht durch Unterlassen (§§ 211 I, II Var. 9, 13 I, 22, 27 I StGB) strafbar gemacht. Fraglich ist allein, ob B hinsichtlich des Mordmerkmals der Verdeckung einer anderen Straftat neben der Strafmilderung gem. § 27 II S. 2 i.V.m. § 49 I StGB auch die Strafrahmenverschiebung nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB zugutekommt. Denn § 28 I StGB enthält eine obligatorische Strafmilderung für den Teilnehmer, wenn bei ihm „besondere persönliche Merkmale“, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, fehlen.

Betrachtet man (mit der h.L.) den Mordtatbestand als gegenüber dem Totschlag qualifizierend, greift für die täterbezogenen Mordmerkmale (das sind die der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB) § 28 II StGB. Sieht man (mit dem BGH) den Mordtatbestand indes als eigenständigen Tatbestand an, sind die Mordmerkmale strafbegründend. Die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB unterfallen dann dem Regelungsbereich des § 28 I StGB.

Bei der Verdeckungsabsicht handelt es sich nach dem BGH um ein strafbarkeitsbegründendes Merkmal, da der BGH dieses dem § 28 I StGB zuordnet. Das impliziert freilich, dass es sich bei § 211 StGB um einen eigenständigen Tatbestand und nicht um eine Qualifikation zu § 212 StGB handelt. Da das LG die mögliche Strafrahmenverschiebung nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB nicht in Betracht gezogen hatte, bei Beachtung jedoch bei der Strafbemessung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, hob der BGH das Urteil des LG in Bezug auf den Strafausspruch auf.


C. Bewertung

Zunächst wird durch die besprochene Entscheidung deutlich, dass sich der 5. Strafsenat der h.L. angeschlossen hat, wonach die Garantenpflicht aus Ingerenz, also diejenige Garantenpflicht, die den Täter aufgrund seines pflichtwidrigen Vorverhaltens, das die nahe Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht hat (BGH NStZ 2022, 220, 222 m.w.N.), zur Erfolgsabwendung verpflichtet, ein dem Regelungsbereich des § 28 I StGB unterfallendes täterbezogenes Merkmal ist. Fehlt es beim Teilnehmer, ist für diesen nach § 28 I i.V.m. § 49 I StGB die Strafe zu mildern. Weiterhin folgt aus der Entscheidung, dass der 4. Strafsenat an der Eigenständigkeit des § 211 StGB festhält. Denn die Zuordnung der Verdeckungsabsicht zu § 28 I StGB ist nur möglich, wenn man das Mordmerkmal als strafbegründend ansieht, was die Eigenständigkeit des § 211 StGB im Verhältnis zu § 212 StGB impliziert.


Rolf Schmidt (21.12.2022)



23.11.2022: Zur Frage nach der wiederholten Zueignung bei der Unterschlagung

BGH, Beschl. v. 13.01.2022 – 1 StR 292/21

Mit Beschluss vom 13.01.2022 hat der 1. Strafsenat des BGH entschieden, dass ein Täter, der sich eine fremde Sache bereits durch eine strafbare Handlung zugeeignet hat, sich diese in einem späteren Zeitpunkt nicht noch einmal im Sinne von § 246 I StGB zueignen könne, ohne vorher seine Scheineigentümerposition wieder aufgegeben zu haben.  

Dem Beschluss lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde (leicht abgewandelt, um die Probleme zu fokussieren): Zur Sicherung eines Darlehens sicherungsübereignete (§§ 929, 930 BGB) T an die Bank A seinen Maserati 450 S aus dem Jahre 1956. In der Sicherungsabrede wurde vereinbart, dass T den Wagen „sorgfältig und sachgemäß für A“ verwahrt. Den Fahrzeugbrief forderte A nicht ein. Kurze Zeit später übereignete T unter wahrheitswidriger Zusicherung, der Wagen sei frei von Rechten Dritter, diesen an B, um auch ein von B erhaltenes Darlehen (Höhe: 4,5 Mio. €) zu sichern. T übergab den Wagen nebst Fahrzeugbrief (heute: Zulassungsbescheinigung II) an B. Dieser hatte keinen Grund, an den Angaben des T zu zweifeln, gerade weil der Fahrzeugbrief vorgelegt wurde.  Ein paar Tage später brachte T den Wagen mit Zustimmung des B in die Werkstatt des W zum Service. Gegenüber W trat er als Eigentümer auf und schloss mit ihm einen Werkvertrag im eigenen Namen. Noch während sich der Wagen bei W befand, verkaufte T den Wagen – ohne B (und A) darüber zu informieren – zum Preis von 6,2 Mio. € an C. Zur Erfüllung seiner kaufvertraglichen Pflichten einigte sich T mit C über den Eigentumsübergang und trat sämtliche Ansprüche aus dem Werkvertrag an diesen ab, und zwar aufschiebend bedingt durch die vollständige Bezahlung des Kaufpreises. C leistete kurz darauf eine Anzahlung i.H.v. 3,1 Mio. € an T. Indes ließ T den reparierten Wagen zu B verbringen und offenbarte anschließend C, dass das Fahrzeug im Eigentum des B stehe. Daraufhin löste C, der am Kaufvertrag festhielt, den Wagen durch Rückzahlung des Darlehens (4,5 Mio. €) nebst Zinsen aus.

Das LG Stuttgart hatte T wegen veruntreuender Unterschlagung schuldig gesprochen. Der BGH hat die Revision des T verworfen. Ob die Entscheidung des BGH überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

A. Einführung

I. Rechtliche Grundlagen

Die Unterschlagung (§ 246 StGB) ist wie der Diebstahl (§ 242 StGB) ein Eigentumsdelikt. Im Mittelpunkt der Unterschlagung steht die Zueignung einer fremden beweglichen Sache. Ein Vergleich mit § 242 StGB ergibt, dass der Tatbestand des Diebstahls die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in Zueignungsabsicht voraussetzt, wohingegen der Tatbestand der Unterschlagung die Zueignung als objektives Tatbestandsmerkmal charakterisiert. Während beim Diebstahl die Zueignung also lediglich beabsichtigt sein muss, muss der Täter einer Unterschlagung sich die Sache tatsächlich zueignen. Zueignung ist gegeben, wenn der Täter die Sache wenigstens vorübergehend der eigenen Vermögenssphäre (oder der eines Dritten) einverleibt (Aneignungskomponente) und sie der Verfügungsgewalt des Berechtigten dauerhaft entzieht (Enteignungskomponente).

Daraus folgt, dass jeder vollendete Diebstahl (das Gleiche gilt auch für alle anderen Zueignungsdelikte), bei dem der Täter die Sache sich oder einem Dritten tatsächlich zugeeignet hat, gleichzeitig eine Unterschlagung darstellt. Der Gesetzgeber hat daher dem § 246 StGB den Charakter eines Auffangtatbestands beigemessen, „der alle Formen rechtswidriger Zueignung fremder beweglicher Sachen umfasst, die nicht einen mit schwererer Strafe bedrohten eigenständigen Straftatbestand verwirklichen“ (formelle Subsidiarität).

Eigenständige Bedeutung hat der Unterschlagungstatbestand jedenfalls bei rechtsgeschäftlichen Handlungen wie dem Verkauf und der Veräußerung fremder Sachen unter Anmaßung der Eigentümerrechte, wobei u.U. schon das Angebot oder der Auftrag zum Verkauf der (individualisierten) Sache genügt. Aber auch bei der sog. Fundunterschlagung, also bei einer Handlung, bei der der Täter eine Sache findet und diese behält (statt sie abzugeben), ist § 246 I StGB ohne weiteres denkbar.  

Hierin wird zugleich die verfassungsrechtliche Problematik deutlich: Da § 246 StGB in der seit 1998 geltenden Fassung keinen Gewahrsam des Täters an der Sache voraussetzt, sind hinsichtlich der objektiv zu verwirklichenden Zueignung theoretisch auch Tathandlungen erfasst, die zu einem Zeitpunkt erfolgen, in dem der Täter keinen Gewahrsam mehr hat oder einen solchen niemals hatte. Ob die hier geschaffene tatbestandliche Weite gegen den Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 II GG verstößt oder mit Hilfe einer restriktiven Auslegung des Begriffs „Zueignung“ kompensiert werden kann, soll im Folgenden geklärt werden.

Um dem verfassungsrechtlichen Postulat einer engen Auslegung des Zueignungsbegriffs nachzukommen, wird verlangt, dass der Täter eine „nicht völlig untergeord­nete Herrschaftsbeziehung“ (Sch/Sch-Bosch, StGB, § 246 Rn. 10 f.) bzw. eine „Nähebeziehung“ (Fischer, StGB, § 246 Rn. 10a) zur Sache hat, in deren Rahmen er die Sache dann sich (oder einem Dritten) zueignet. Ob eine solche „Herrschaftsbeziehung“ bzw. „Nähebeziehung“ in einer bloßen Besitzdienerschaft i.S.v. § 855 BGB liegen kann, erscheint zweifelhaft, da ein Besitzdiener nur ebenjene untergeordnete Herrschaftsbeziehung (aber immer eine „Nähebeziehung“) zur Sache hat. Denn Besitzdiener ist gem. § 855 BGB, wer die Sachherrschaft lediglich für einen anderen ausübt und dabei weisungsabhängig, d.h. bei der Herrschaftsbeziehung zur Sache dem Besitzer untergeordnet ist (BGH NJW 2020, 3711, 3713 mit Verweis auf BGH NJW-RR 2017, 818; BGHZ 199, 227). Allenfalls die genannte „Nähebeziehung“ könnte man unter die Besitzdienereigenschaft subsumieren. Forderte man aber eine mittelbare Besitzereigenschaft (§ 868 BGB), also eine Besitzart, bei der jemand eine Sache als Nießbraucher, Pfandgläubiger, Pächter, Mieter, Verwahrer oder in einem ähnlichen Ver­hältnis besitzt, vermöge dessen er einem anderen gegenüber auf Zeit zum Besitz berechtigt oder verpflichtet ist (Wortlaut § 868 BGB), nivellierte man den Unterschied zur veruntreuenden Unterschlagung gem. § 246 II StGB, die da­durch gekennzeichnet ist, dass der Täter eine Sache unterschlägt, die er vom Eigentümer oder von einem Dritten mit der Verpflichtung erlangt hat, sie zu einem bestimmten Zweck zu verwenden, aufzubewahren oder auch nur zurückzugeben (BGHSt 9, 90, 91; 16, 280, 282; BGH NStZ-RR 2014, 13; Fischer, StGB, § 246 Rn. 16). Für den Grundtatbestand bliebe, wenn man das Erfordernis einer mittelbaren Besitzereigenschaft zugrunde legte, dann nur ein geringer Anwendungsbereich. Diese Folge wäre zwar dem Erfordernis einer engen Auslegung ge­schuldet, sie würde aber den Geschädigteninteressen nicht gerecht. Von daher erscheint es im Ergebnis verfassungsrechtlich gerechtfertigt, beim Grundtatbestand des § 246 I StGB eine „Nähebeziehung“ zu verlangen, aber auch ausreichen zu lassen. Eine solche „Nähebeziehung“ ist bei einer Besitzmittlereigenschaft des Täters anzunehmen. Ein Besitzmittler ist demnach tauglicher Täter des § 246 I StGB. Das Gleiche muss gelten, wenn der Täter eine rein faktische Nähebeziehung zur Sache hat, etwa als Finder, der sich entschließt, die gefundene Sache zu behalten. Die Problematik kann aber dahinstehen, wenn – wie überwiegend – der Täter mittelbarer Besitzer (§ 868 BGB) ist und sich die Sache zueignet, etwa als Pächter, Mieter, Verwahrer oder in einem ähnlichen Verhältnis zum Berechtigten, vermöge dessen er diesem gegenüber zum Besitz berechtigt oder verpflichtet ist. Das kann bei T angenommen werden. Er hatte im Verhältnis zu A die vertragliche Verpflichtung, den Wagen „sorgfältig und sachgemäß“ zu verwahren. Darin ist nicht lediglich eine Besitzdienerschaft zu sehen, sondern eine Besitzmittlung. Und auch im Verhältnis zu B war T Besitzmittler.

Der Besitzmittler ist also tauglicher Täter einer Unterschlagung, etwa, wenn er die Sache, die sich bei ihm befindet, unter Anmaßung einer Eigentümerstellung oder Verfügungsbefugnis auf einen Dritten überträgt. In diesem Übertragungsakt ist die Zueignung zu sehen: In dem Veräußerungsangebot, konkret in der dinglichen Einigung mit dem Dritten zur Eigentumsübertragung (§ 929 S. 1 BGB), besteht die Zueignung. Ist der Dritte dann auch gutgläubig (§ 932 BGB), d.h. geht von der Eigentümereigenschaft des Veräußerers aus oder zumindest von dessen Ermächtigung (§ 185 BGB), erwirbt dieser das Eigentum der Sache.

Der gute Glaube ist – für alle Tatbestände einheitlich – in § 932 II BGB legal­definiert. Danach scheidet ein Gutglaubenserwerb aus, wenn dem Erwerber bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört. Aufgrund der negativen Formulierung in § 932 I BGB („…wird Eigentümer, … es sei denn…“) geht das Gesetz in der Regel davon aus, dass der Erwerber gutgläubig ist. Die Beweislast für die Bösgläubigkeit liegt damit beim (vorherigen) Eigentümer. Eine Be­weislastregelung enthält zudem § 1006 I S. 1 BGB, wonach widerleglich vermutet wird, dass der Besitzer (hier: der Veräußerer) auch Eigentümer der Sache ist, was auch bei der Frage nach der Gutgläubigkeit des Erwerbers Berücksichtigung finden kann. Bei gestohlenen oder sonst abhandengekommenen Sachen ist wegen § 935 I BGB ein gutgläubiger Erwerb aber ausgeschlossen (es sei denn, es liegt wiederum eine Gegen-Gegenausnahme nach § 935 II BGB vor).

Beim Gebrauchtwagenkauf stellt die gesetzliche Eigentumsvermutung in § 1006 I S. 1 BGB (Besitz des Veräußerers am Wagen als Rechtsscheinträger) nach der Rechtsprechung aber nur ein sehr schwaches Indiz für einen guten Glauben i.S.d. § 932 II BGB dar. Denn es gehört regelmäßig zu den Mindesterfordernissen für den gutgläubigen Erwerb eines Gebrauchtwagens, dass sich der Er­werber die Zulassungsbescheinigung (ZB) II (früher: Kfz-Brief) vorlegen lässt, um die Berechtigung des Veräußerers zu prüfen (st. Rspr., vgl. etwa BGH NJW 2013, 1946, 1947; BGH NJW 2020, 3711, 3714). Zwar verbrieft die ZB II nicht das Eigentum am Kfz, sondern ist eine öffentliche Urkunde über die Einzelbetriebserlaubnis des Fahrzeugs, gleichwohl ist aber anhand der Eintragungen die Möglichkeit gegeben, bei dem eingetragenen Berechtigten die Übereignungsbefugnis des Veräußerers nachzuprüfen (BGH NJW 2013, 1946, 1947; siehe auch BGH NJW 2020, 3711, 3714). Vor diesem Hintergrund wird eine grobe Fahrlässigkeit z.B. angenommen, wenn jemand (von privat) einen Gebrauchtwagen kauft und vom Veräußerer keine – oder eine auf einen fremden Namen lautende – ZB II ausgehändigt bekommt und keine weiteren Nachforschungen anstellt (BGH NJW 1975, 735, 736; NJW 2006, 2226, 2227; NJW 2006, 3488; NJW 2013, 1946, 1947).


II. Problem der wiederholten Zueignung bei der Unterschlagung  

Nach einer Unterschlagung kommt es häufig zu Verwertungshandlungen wie beispielsweise zum Veräußern oder Zerstören einer bereits früher unterschlagenen Sache. Ebenso ist es denkbar, dass ein Täter nach einer bereits erfolgten Zueignung durch Diebstahl (vgl. auch Raub, Erpressung, Betrug und Untreue) Verwertungshandlungen begeht, sich die Sache also erneut zueignet. Damit stellt sich die Frage nach der rechtlichen Behandlung einer wiederholten Zueignung („Zueignung nach der Zueignung“). Nach Auffassung des BGH (BGHSt 14, 38, 46 f.; 16, 280, 281 f.; BGH NStZ 2022, 611, 612) kann sich ein Täter, der sich die Sache bereits zugeeignet hat, diese nicht noch einmal zueignen, ohne vorher seine Scheineigentümerposition wieder aufgegeben zu haben (keine wiederholte Selbstzueignung). In diesem Fall sei schon der Tatbestand des § 246 I nicht anwendbar, denn diese Vorschrift setze tatbestandlich voraus, dass sich der Täter die fremde Sache nicht bereits durch eine strafbare Handlung zugeeignet hat (sog. Tatbestandslösung). Die Gegenstimmen sehen bei jeder Verwertungshandlung bezüglich der zugeeigneten Sache eine erneute tatbestandliche Zueignung, lassen diese aber auf der Konkurrenzebene zurücktreten (sog. Konkurrenzlösung, vertreten etwa von BeckOK-Wittig, StGB, § 246 Rn. 8; Sch/Sch-Bosch, StGB, § 246 Rn. 19; Wessels/Hillenkamp/Schuhr, StrafR BT 2, Rn. 341 ff.; Eckstein, JA 2001, 25, 30). Kein Fall der wiederholten Zueignung liegt aber vor, wenn die spätere Zueignung nicht die erste Zueignung wiederholt, sondern sich als neue Zueignung darstellt. Ob das im zu besprechenden Fall anzunehmen ist, muss anhand einer Prüfung festgestellt werden.


B. Prüfung des Falls

Durch das beschriebene Verhalten könnte T sich u.a. wegen veruntreuender Unterschlagung gem. § 246 I, II StGB zum Nachteil des B strafbar gemacht haben. Dazu müsste er eine ihm anvertraute fremde bewegliche Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zugeeignet haben.

Zunächst müsste es sich bei dem Maserati um eine für T fremde Sache gehandelt haben. Zu klären ist diesbezüglich daher die Eigentumslage. Mit der Sicherungsübereignung an A verlor T gem. §§ 929, 930 BGB das Eigentum am Wagen. Sodann erwarb B gutgläubig gem. §§ 929 S. 1, 932 BGB das Eigentum an dem Wagen. Die Gutgläubigkeit war trotz § 932 II BGB anzunehmen, weil der BGH – in Ermangelung entgegenstehender Anhaltspunkte – die Vorlage des Fahrzeugbriefs als starkes Indiz für die Eigentümereigenschaft ansieht.

Schließlich könnte T das Eigentum am Maserati gem. §§ 929 S. 1, 931, 934 Var. 1 BGB an C übertragen haben. Gemäß § 934 Var. 1 BGB wird, wenn eine nach § 931 BGB veräußerte Sache nicht dem Veräußerer gehört, der Erwerber mit der Abtretung des Anspruchs Eigentümer der Sache, wenn der Veräußerer mittelbarer Besitzer der Sache ist, es sei denn, dass er zur Zeit der Abtretung oder des Besitzerwerbs nicht in gutem Glauben ist. Diese auf den ersten Blick recht kompliziert erscheinende Regelung setzt zunächst voraus, dass der Grundtatbestand der §§ 929 S. 1, 931 BGB – in Gestalt eines Verkehrs­geschäfts – erfüllt ist. Dazu müssen wiederum die Einigung i.S.d. § 929 BGB und eine wirksame Abtretung des Herausgabeanspruchs nach § 931 BGB vorliegen. Weiterhin darf keine Berechtigung des Veräußerers bestehen. All dies ist vorliegend gegeben: T und C haben sich über den Eigentumsübergang geeinigt; T trat den gegen W bestehenden Herausgabeanspruch an C ab; eine Berechtigung des T fehlte.

§ 934 Var. 1 BGB verlangt weiter, dass der Veräußerer mittelbarer Besitzer (§ 868 BGB) ist. Dass der Erwerber dabei nur den mittelbaren Besitz erhält (vgl. § 870 BGB), ist unschädlich. Denn dadurch, dass sich der Veräußerer seines mittelbaren Besitzes durch die Abtretung entäußert, ist die den Rechtsschein begründende und für den Gutglaubenserwerb erforderliche Besitzlage gegeben. T war mittelbarer Besitzer. Er mittelte den Besitz des B, weil er lediglich befugt war, den Wagen in die Werkstatt zu verbringen. T eignete sich den Wagen als jemand zu, der zum Berechtigten in einem Verhältnis stand, vermöge dessen er diesem gegenüber zum Besitz berechtigt oder verpflichtet war.

Schließlich verlangt § 934 BGB auf Seiten des Erwerbers Gutgläubigkeit. Damit ist Gutgläubigkeit i.S.d. § 932 II BGB gemeint. Ob das bei C wegen Nichtvorlage eines Eigentumsdokuments oder zumindest des Fahrzeugbriefs angenommen werden kann, ist fraglich und müsste auf den ersten Blick wohl verneint werden. Möglicherweise kann dies jedoch in Bezug auf den Unterschlagungstatbestand dahinstehen. Der BGH hat hierzu entschieden, der Tatbestand der Unterschlagung setze nicht voraus, dass die Handlung des Täters das Eigentum des Sicherungsnehmers rechtlich beseitigt oder beeinträchtigt; die Übereignung müsse daher nicht wirksam sein (BGH NStZ 2022, 611, 612 m.w.N.).

Womöglich scheidet der Unterschlagungstatbestand jedoch aus, wenn T bereits durch die Veräußerung an B eine Unterschlagung zulasten der A verwirklicht hat. Denn wie der BGH ausführt, kann sich ein Täter, der sich eine fremde Sache bereits durch eine strafbare Handlung zugeeignet hat, diese in einem späteren Zeitpunkt nicht noch einmal i.S.v. § 246 I StGB zueignen, außer, er hatte zwischenzeitlich seine Scheineigentümerposition aufgegeben (BGH NStZ 2022, 611, 612 m.w.N.).

T beging bereits mit der Veräußerung an B eine (veruntreuende) Unterschlagung zulasten der A. Denn durch das Veräußerungsangebot an B eignete sich T den Wagen zu (er gerierte sich bei der Veräußerung an B als Eigentümer, der zur Übereignung befugt war) und durch die Gutgläubigkeit des B verlor A ihr Sicherungseigentum. Durch die wirksame Übereignung an B und die Übertragung des unmittelbaren Besitzes an diesen hat T nach Auffassung des BGH aber seine angemaßte Verfügungsmacht aufgegeben (BGH NStZ 2022, 611, 612). Daher stelle die Veräußerung an C keine wiederholte Zueignung dar, sondern eine neue, weshalb sich die Frage nach der wiederholten Zueignung nicht stelle. Das überzeugt. Denn durch die mit der wirksamen Übereignung an B und der Übertragung des unmittelbaren Besitzes einhergehende Aufgabe der angemaßten Verfügungsmacht verlor T seine Scheineigentümereigenschaft. Eine nach Aufgabe der angemaßten Verfügungsmacht erfolgte weitere Zueignung kann daher keine wiederholte Zueignung sein, sondern nur eine neue.  

Ergebnis: Die durch die Veräußerung an C verwirklichte Unterschlagung zum Nachteil des B ist also nicht deswegen tatbestandlich ausgeschlossen, weil T bereits eine Unterschlagung zum Nachteil der A begangen hatte. T hat den Tatbestand der veruntreuenden Unterschlagung verwirklicht.

Sollte man einen Betrug zulasten des C annehmen (was dessen Gutgläubigkeit voraussetzt), träfe er tatbestandlich mit der Unterschlagung zusammen, was die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis eröffnete. Da die veruntreuende Unterschlagung eine niedrigere Strafandrohung vorsieht als der Betrug im besonders schweren Fall (hier: § 263 I, III S. 2 Nr. 2 StGB: Vermögensverlust großen Ausmaßes), griffe die Subsidiaritätsanordnung. Dann wäre T ausschließlich nach § 263 I, III S. 2 Nr. 2 StGB strafbar. Sollte Betrug zu verneinen sein (weil C bösgläubig gewesen sein könnte), griffe nur die veruntreuende Unterschlagung.

C. Bewertung

Im Ergebnis („Unterschlagung zum Nachteil des B nicht deswegen tatbestandlich ausgeschlossen, weil T bereits eine Unterschlagung zum Nachteil der A begangen hatte“) ist der Entscheidung des BGH beizupflichten. Aus rechtsmethodischer Sicht wäre wünschenswert gewesen, wenn der BGH dezidierter, d.h. systematisch und damit nachvollziehbarer die Eigentumslage geprüft hätte, gerade bei Bestehen eines Mehrpersonenverhältnisses. Auch die Prüfung des Umstands, dass § 934 Var. 1 BGB auf Seiten des Veräußerers eine mittelbare Besitzereigenschaft (§ 868 BGB) verlangt mit der Folge, dass der Erwerber nur den mittelbaren Besitz erhalten kann (vgl. § 870 BGB), hätte durchaus zum Verständnis beigetragen.
    

Rolf Schmidt (23.11.2022)



11.09.2022: Löschungsanspruch in Bezug auf Internetbewertungen (hier: Hotelbewertungen)

BGH, Urt. v. 09.08.2022 – VI ZR 1244/20

Mit Urteil vom 09.08.2022 hat der VI. Senat des BGH entschieden, dass die Rüge eines auf einem Internetbewertungsportal Bewerteten (hier: ein Hotel- und Ferienparkbetreiber), der Bewertung liege kein Gästekontakt zugrunde, grundsätzlich ausreiche, um Prüfpflichten des Bewertungsportals auszulösen (und ggf. die Pflicht zur Löschung begründe).

Dem Urteil lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde (leicht abgewandelt, um die Probleme zu fokussieren): P betreibt ein Reiseportal im Internet. Nutzer des Portals können u.a. Hotels buchen und, wenn sie mit einer E-Mail-Adresse bei P registriert sind, Hotels anhand eines Notenschemas mit bis zu sechs Sonnensymbolen in verschiedenen Kategorien (Hotel, Zimmer, Service, Lage, Gastronomie, Sport & Unterhaltung) und im Rahmen von Freitexten bewerten. Die Bewertungen werden unter dem vom Nutzer angegebenen Namen veröffentlicht und können Angaben enthalten zur Altersgruppe des Nutzers, zum Reisezeitraum, zur Reisedauer und dazu, ob die Reise allein, als Paar, mit Freunden oder als Familie und mit wie vielen Kindern durchgeführt wurde. Für bis zu zehn veröffentlichte deutschsprachige Hotelbewertungen pro Monat erhalten die Nutzer Flugmeilen als Prämie. Die Nutzungsrichtlinien der P sehen vor, dass eine Leistung nur bewertet werden darf, wenn sie auch in Anspruch genommen wurde. Eine Überprüfung der tatsächlichen Inanspruchnahme durch Bewerter findet indes nicht statt.
H ist Betreiberin eines Hotel- und Ferienparks. Ihre Leistungen wurde von N, einer Nutzerin des Portals, unter verschiedenen Accounts und unter Verwendung von verschiedenen Pseudonymen wie „Sandra“, „Nadine“, „Elisabeth“, „Sven“, „Mari“, „Karri“, „Franzi“, „Anja“ und „Jana“ negativ bewertet und mit Bildmaterial versehen. Da H die wahre Identität der N nicht bekannt ist, verlangt H von P die Unterlassung der Veröffentlichung der Bewertungen der N. Diese sei noch nicht einmal Gast der Freizeitanlage gewesen und könne schon daher die Leistungen nicht bewerten.

Der BGH hat der Revision der H stattgegeben. Ob die Entscheidung des BGH überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.


A. Einführung

Dass ein Hotel- und Freizeitparkbetreiber vom guten Ruf lebt, ist unbestritten. Gerade negative Bewertungen können den guten Ruf schädigen und ggf. sogar die Existenz gefährden. Erfolgt die negative Bewertung im Internet, sind aufgrund der damit verbundenen Breitenwirkung und Dauerhaftigkeit der Äußerungen Imageschäden und Umsatzeinbußen besonders groß. Grundrechtlich sind bei einer negativen Bewertung das Unternehmenspersönlichkeitsrecht, das auf nationaler Ebene seine Grundlage über Art. 19 Abs. 3 GG in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG findet, das Berufsgrundrecht aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG sowie ggf. das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG betroffen. Auf der anderen Seite steht die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG der Bewertenden, aber auch diejenige des Portalbetreibers. Letzterer kann zusätzlich Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG für sich in Anspruch nehmen, da er das Portal nicht altruistisch betreibt. Für die interessierte Öffentlichkeit ist die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 2 GG zu nennen. Diese mitunter widerstreitenden Verfassungsgüter sind in ein Verhältnis praktischer Konkordanz (Begriff nach Hesse) zu bringen. Es ist eine umfassende Güterabwägung vorzunehmen. Zu beachten ist aber, dass bewusst unwahren Tatsachenbehauptungen der Schutz aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG nicht zugutekommt. Sie sind bereits vom Schutzbereich auszunehmen. Bei Schmähkritik, also bei Äußerungen, bei denen nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung, Verunglimpfung bzw. gravierende Ehrverletzung der Person im Vordergrund stehen (siehe dazu aus jüngerer Zeit BVerfG NZA 2020, 1704, 1705; BVerfG NJW 2020, 2622, 2624 – jeweils mit Verweis u.a. auf BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16; 93, 266, 294), nimmt das BVerfG zwar überwiegend eine Eröffnung des Schutzbereichs an, begegnet dem Unwertgehalt der Schmähung aber jedenfalls bei der Rechtfertigung des Eingriffs (vgl. etwa BVerfG NJW 2021, 301, 302; BVerfG 17.3.2021 – 2 BvR 194/20 Rn. 44; BVerfG NJW 2020, 2622, 2623 ff.; BVerfG NJW 2013, 3021, 3022; BVerfGE 93, 266, 293 f.).

Davon abgesehen, treten zu den genannten Grundrechten möglicherweise überlagernd oder zumindest flankierend Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) bzw. Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinzu, was die Prüfung nicht gerade vereinfacht. Und auch bei der Frage nach dem vom BGH geprüften Unterlassungsanspruch, dessen gesetzliche Grundlage als Einfallstor für die umfassende Güterabwägung anzusehen ist, stellt sich ein Anwendbarkeitsproblem, da es auch um Beseitigung (datenschutzrechtlich: Löschung; Sperrung) geht und hierfür das Unionsrecht mit Art. 17 Abs. 1 lit d) der Verordnung (EU) 2016/679 (Datenschutz-Grundverordnung – DSGVO) eine Regelung zur Verfügung stellt, die eine analoge Anwendung des § 1004 Abs. 1 BGB überflüssig machen könnte.

Ein Löschungsanspruch steht in der BGH-Entscheidung indes nicht in Rede, dort geht es ausschließlich um Unterlassung. Aus dem Sachverhalt geht aber nicht hervor, dass P die Bewertungen der N bereits gelöscht hat. In der Praxis treten in solchen Fällen der Löschungs- bzw. Beseitigungsanspruch neben den Unterlassungsanspruch. Danach wäre der Löschungsanspruch aus Art. 17 Abs. 1 lit d) DSGVO denkbar und der Unterlassungsanspruch jedenfalls aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog. Ob Art. 17 Abs. 1 lit d) DSGVO auch einen Unterlassungsanspruch gewährt, ist angesichts seines Wortlauts (es geht dort ausschließlich um Löschung) zweifelhaft; an der Zweifelhaftigkeit ändert sich auch dadurch nichts, dass der BGH in seinem Urteil v. 12.10.2021 – VI ZR 488/19 (Ärztebewertungsportal) der Auffassung ist, Art. 17 Abs. 1 DSGVO umfasse auch einen Unterlassungsanspruch (Rn. 10 und 22 ff. der Entscheidung).     

Das führt insgesamt zur Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise. Und auch die Erarbeitung eines nachvollziehbaren Prüfungsaufbaus stellt eine Herausforderung dar, da er hohe Anforderungen an die Systemkenntnis stellt.
 

B. Prüfung des Falls

I. Determination des Prüfungsmaßstabs; anwendbares Recht

Im Folgenden gilt es, den gegen den Portalbetreiber gerichteten (von der Revision jedoch nicht erfassten) Löschungsanspruch sowie den (vom BGH ausschließlich geprüften) Unterlassungsanspruch zu prüfen. Davon ausgehend, dass deutsches Recht anwendbar ist (P hat seinen Sitz in der Schweiz, die Parteien wählten in der Revisionsinstanz aber deutsches Recht, Art. 42 S. 1 EGBGB), kommt als Anspruchsgrundlage in Bezug auf den Unterlassungsanspruch jedenfalls § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog in Betracht. Da jedoch das Unternehmenspersönlichkeitsrecht als Teilbereich des Persönlichkeitsrechts auch der DSGVO unterfällt, ist fraglich, ob der Sachverhalt in Bezug auf einen Löschungsanspruch nicht vorrangig am Maßstab der Art. 5-7 DSGVO i.V.m. Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta (GRC) geprüft werden müsste. Dann böte Art. 17 Abs. 1 lit d) DSGVO die Rechtsgrundlage für einen Löschungsanspruch (und womöglich Unterlassungsanspruch). Denn das Unionsrecht genießt Anwendungsvorrang (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. – Melloni; zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts und dessen Begründung siehe R. Schmidt, Grundrechte, 26. Aufl. 2021, Rn. 9).
  • Determiniert das Unionsrecht den Sachverhalt vollständig, werden nationale Maßnahmen am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Zu den unionsrechtlich vollständig determinierenden Regelungen wird man etwa die betreffenden Regelungen der DSGVO zählen müssen (dann wären Prüfungsmaßstab von nationalen Maßnahmen die betreffenden Bestimmungen der DSGVO und letztlich Art. 7 und 8 GRC).
  • Geht es aber um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Als Anwendungsfelder seien diejenigen Vorschriften der DSGVO genannt, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, wie z.B. Art. 85 Abs. 2 DSGVO („Medienprivileg“) oder Art. 88 DSGVO in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz.
Eine Bereichsausnahme nach Art. 2 Abs. 2 DSGVO ist nicht ersichtlich. Lit. a) greift nicht; der BGH sieht die Rom-II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 864/2007) und die Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt als anwendbar an (Rn. 17 und 22), was den Anwendungsgereich des Unionsrechts impliziert. Datenverarbeitung durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten (lit c) liegt ebenfalls nicht vor; der Portalbetreiber ist eine juristische Person und handelt zudem gewerblich.

Möglicherweise genießt H aber nicht den Schutz der DSGVO, weil davon ausgegangen werden muss, bei H handele es sich um eine juristische Person, womit es an der Personenbezogenheit der Daten fehlen könnte. Allerdings hat der EuGH auch Daten über juristische Personen dem Schutz der Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta unterstellt, sofern die dahinterstehenden natürlichen Personen identifizierbar sind (siehe EuGH, Urt. v. 9.10.2010 – C-92, 93/09, EuZW 2010, 939, 941 ff., insb. 944; siehe auch Guckelberger, EuZW 2010, 946, 947, die ausführt: „Hinsichtlich der juristischen Personen hat der EuGH klargestellt, dass bei ihnen die Verletzung des Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten ein niedrigeres Gewicht als bei natürlichen Personen hat […].“). Daraus folgt aber auch, dass bei juristischen Personen die DSGVO gilt, wenn die dahinterstehenden natürlichen Personen identifizierbar sind und (mittelbar) deren personenbezogene Daten erhoben bzw. verarbeitet werden. Werden also in einem Internetbewertungsportal Aussagen getroffen, die formal zwar lediglich auf eine juristische Person bezogen sind, die jedoch aufgrund der Identifizierbarkeit der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen als personenbezogene Daten einer natürlichen Person anzusehen sind, ist die Anwendbarkeit der DSGVO jedenfalls nicht wegen Art. 4 Nr. 1 DSGVO ausgeschlossen. Da jedoch weder der BGH noch die Vorinstanzen die DSGVO auch nur mit einer Silbe erwähnen, muss davon ausgegangen werden, dass der BGH und die Vorinstanzen annehmen, es lägen keine personenbezogenen Daten vor. Das aber überzeugt nicht.

Geht man daher richtigerweise von der Anwendbarkeit der DSGVO aus, könnte bei der Bestimmung des Determinationsgrads im vorliegenden Zusammenhang das Medienprivileg nach Art. 85 Abs. 2 DSGVO einschlägig sein. Dem Medienprivileg liegt zwar grundsätzlich ein sehr weiter Begriff des Journalismus zugrunde (siehe Erwägungsgrund 153 der DSGVO), jedoch ginge es zu weit, Bewertungen im Internet und damit auch die Bereitstellung einer Plattform als journalistische Tätigkeit anzusehen (siehe auch BGH, Urt. v. 12.10.2021 – VI ZR 488/19 Rn. 19 – Ärztebewertungsportal –, wo es heißt, dass eine journalistische Tätigkeit i.S. dieser Vorschrift ein Mindestmaß an inhaltlicher Bearbeitung erfordere, das in bloßen Bewertungsportalen nicht erreicht werde), zumal sich selbst nach Auffassung des den vorliegenden Fall entscheidenden BGH der Portalbetreiber die Bewertungen nicht zu eigen macht (Rn. 24) und daher auch bei ihm keine journalistische Tätigkeit angenommen werden kann.

Aber auch außerhalb des Medienprivilegs wird man die DSGVO vorliegend als nicht abschließend determinierend ansehen müssen. Denn der Datenschutz stellt lediglich einen Teilaspekt der Thematik dar. H begehrt die Löschung der Daten, um u.a. seinen unternehmerischen Ruf und seine berufliche Tätigkeit zu schützen, was mit den genannten gegenläufigen Interessen (insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit) abzuwägen ist. Diese Aspekte gehen über den Datenschutz als solchen hinaus und sind unionsrechtlich nicht (abschließend) geregelt. Primärer Prüfungsmaßstab sind daher die Grundrechte des Grundgesetzes, freilich in unionsrechtskonformer Auslegung.

Freilich bleibt davon die Frage nach der Anwendung des Art. 17 Abs. 1 DSGVO als Rechtsgrundlage für einen Löschungs-/Beseitigungsanspruch bzw. Unterlassungsanspruch unberührt. Aus den rezipierten Ausführungen des BGH im Urt. v. 12.10.2021 – VI ZR 488/19 Rn. 19 ff. wird man schlussfolgern müssen, dass der BGH die Anwendbarkeit des Art. 17 Abs. 1 DSGVO verneinen würde, wenn das Medienprivileg griffe (anders kann man die Ausführungen der BGH nicht verstehen). Dann käme der BGH zur Prüfung eines Löschungs-/Beseitigungsanspruchs sowie eines Unterlassungsanspruchs nach § 1004 Abs. 1 BGB analog.

Da aber das Medienprivileg (auch nach dem BGH) nicht greift, gelangt nach BGH, Urt. v. 12.10.2021 – VI ZR 488/19 Art. 17 Abs. 1 DSGVO zur Anwendung. Ganz selbstverständlich wendet der VI. Senat Art. 17 Abs. 1 DSGVO auch auf Unterlassungsansprüche an. Demgegenüber erwähnt derselbe Senat im Urt. v. 09.08.2022 – VI ZR 1244/20 – wo es ebenfalls um Unterlassung der Verbreitung von Internetbewertungen ging – Art. 17 Abs. 1 DSGVO noch nicht einmal, sondern prüft den Unterlassungsanspruch ausschließlich nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog. Ein nachvollziehbarer Grund für die unterschiedliche Vorgehensweise kann allenfalls darin gesehen werden, dass der BGH im Urt. v. 09.08.2022 – VI ZR 1244/20 – davon ausgeht, es lägen keine personenbezogenen Daten vor. Das aber überzeugt – wie aufgezeigt – nicht, da die hinter der Hotel- und Freizeitanlange stehende natürliche Person(en) identifizierbar ist bzw. sind. Richtigerweise ist von einer Personenbezogenheit der Daten auszugehen und es ist wie folgt zu differenzieren:
  • Art. 17 Abs. 1 DSGVO regelt jedenfalls Beseitigungsansprüche (Löschungsansprüche) gegenüber dem Verantwortlichen (d.h. im Fall von Internetbewertungen gegenüber dem Portalbetreiber). Für die Anwendbarkeit des Art. 17 Abs. 1 DSGVO spielt es keine Rolle, ob die DSGVO die Materie vollständig determiniert. Vorliegend entscheidet allein die Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung (siehe Art. 6 Abs. 1 DSGVO). Auf § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB analog kann es daher nicht mehr ankommen, da insoweit allein schon die für eine analoge Anwendung erforderliche Regelungslücke fehlt.
  • Geht es nicht um Beseitigung bzw. Löschung, sondern um Unterlassung, greift nach BGH, Urt. v. 12.10.2021 – VI ZR 488/19 ebenfalls Art. 17 Abs. 1 DSGVO. Das ist mit dem Wortlaut der Norm, die ausschließlich von Löschung spricht, schwerlich vereinbar. Richtig insoweit BGH, Urt. v. 09.08.2022 – VI ZR 1244/20, der auf § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog abstellt.

II. Anspruch auf Löschung gem. Art. 17 Abs. 1 lit d) DSGVO

Art. 17 Abs. 1 DSGVO gewährt unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen das grundsätzliche Recht auf unverzügliche Löschung der bei der betroffenen Person erhobenen personenbezogenen Daten. Im vorliegenden Zusammenhang kommt die unrechtmäßige Datenverarbeitung nach lit d) in Betracht. Ob eine Datenverarbeitung unrechtmäßig ist, beurteilt sich insbesondere nach Art. 6 DSGVO. Nach Art. 6 UAbs. 1 lit f) DSGVO ist die Datenerhebung nur rechtmäßig, wenn die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen. Mithin ist eine Abwägung zwischen den grundrechtlich geschützten Interessen des Bewerteten und denjenigen des Bewerters und des Portalbetreibers vorzunehmen. Fraglich ist aber, ob damit nur Grundrechte und Grundfreiheiten des EU-Primärrechts gemeint sind (davon geht Heberlein, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, Art. 6 Rn. 28 aus) oder ob zur Abwägung und damit zur Beurteilung der Rechtswidrigkeit auch Grundrechte des Grundgesetzes herangezogen werden können (davon geht BGH 12.10.2021 – VI ZR 488/19 Rn. 36 aus, wo insofern auch Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen werden).

Freilich kommt es darauf nicht an, wenn es lediglich um Unterlassung geht und man Art. 17 DSGVO für diesen Fall richtigerweise für nicht anwendbar erachtet. Dann sind Unterlassungsansprüche nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog zu prüfen. Auch im vorliegend besprochenen Urteil v. 09.08.2022 – VI ZR 1244/20 prüft der BGH allein § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog.


III. Anspruch auf Unterlassung gem. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog

An sich kompensiert ein Entschädigungsanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB für erlittene Rechtseinbußen wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die Vorschrift schützt aber nicht vor weiterer Rechtsverletzung. Das Gesetz gewährt daher, um weiteren Schadenseintritt zu verhindern, in verschiedenen Fällen einen Unterlassungsanspruch gegen drohendes gefährdendes Verhalten. Derart geschützt sind etwa der Name (§ 12 S. 2 BGB), der Besitz (§ 862 Abs. 1 S. 2 BGB), das Eigentum (§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB) und andere Rechte. Da auch ein Bedürfnis besteht, den Schutz, welchen die Unterlassungsklage bietet, auch auf die gesetzlich nicht geregelten Fälle (etwa drohende Gesundheits-, Ehr- oder Persönlichkeitsverletzung) zu erstrecken, ist ein Unterlassungsanspruch daher auch dann zu gewähren, wenn eine rechtswidrige Verletzung eines beliebigen durch §§ 823 ff. BGB geschützten Rechts, Rechtsguts oder rechtlichen Interesses droht (etwa des allgemeinen Persönlichkeitsrechts). § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB ist in diesen Fällen analog anzuwenden. Dann kann der Rechtsinhaber, sofern eine künftige Beeinträchtigung seines Rechts zu befürchten ist, analog § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB auf Unterlassung klagen (negatorische Klage, vgl. dazu OLG Dresden K&R 2015, 412, 413 ff.; BGH NJW 2012, 2345 f.; NJW 2012, 148; BGH NJW 2021, 1311, 1316 f.).

Ein Unterlassungsanspruch besteht aber nicht, wenn der Betroffene zur Duldung verpflichtet ist. Durch diese Negativformulierung wird festgelegt, dass ein Anspruch unter den Voraussetzungen des Abs. 1 in der Regel gegeben ist und der Beeinträchtigende eine etwaige Duldungspflicht im Bestreitensfall beweisen muss. Diesbezüglich hat der BGH zunächst die Berufungsinstanz bestätigt, wonach P lediglich mittelbarer Störer sei, weil er sich die Bewertungen nicht zu eigen gemacht, sondern sie nur veröffentlicht habe. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass P eine Prämie für bis zu zehn Bewertungen pro Monat ausgelobt hat. Als mittelbarer Störer treffe ihn nur eine eingeschränkte Verantwortlichkeit für abgegebene Bewertungen. So sei ein Hostprovider zur Vermeidung einer Haftung als mittelbarer Störer grundsätzlich nicht verpflichtet, die von den Nutzern in das Netz gestellten Beiträge vor der Veröffentlichung auf eventuelle Rechtsverletzungen zu überprüfen. Der Hostprovider sei aber verantwortlich, sobald er Kenntnis von der Rechtsverletzung erlange. Weise ein Betroffener den Hostprovider auf eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts – hier des Unternehmenspersönlichkeitsrechts – durch den Nutzer seines Angebots hin, könne der Hostprovider verpflichtet sein, künftig derartige Störungen zu verhindern. Ob das der Fall sei, hänge vom Gewicht der angezeigten Rechtsverletzung sowie den Erkenntnismöglichkeiten des Providers ab. Zu berücksichtigen seien aber auch Funktion und Aufgabenstellung des vom Provider betriebenen Dienstes sowie die Eigenverantwortung des für die persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigende Aussage unmittelbar verantwortlichen – ggf. zulässigerweise anonym oder unter einem Pseudonym auftretenden – Nutzers. Hinzu komme, dass Bewertungsportale eine von der Rechtsordnung gebilligte und gesellschaftlich erwünschte Funktion erfüllten. Der vom Hostprovider zu erbringende Prüfungsaufwand dürfe daher den Betrieb seines Portals weder wirtschaftlich gefährden noch unverhältnismäßig erschweren. Andererseits dürfe nicht außer Betracht bleiben, dass der Betrieb eines Portals mit Bewertungsmöglichkeit im Vergleich zu anderen Portalen, insbesondere Nachrichtenportalen, schon von vornherein ein gesteigertes Risiko für Persönlichkeitsrechtsverletzungen mit sich bringe. Es bestehe stets die Gefahr, dass das Portal auch für nicht unerhebliche persönlichkeitsrechtsverletzende Äußerungen missbraucht wird. Der Portalbetreiber müsse deshalb von Anfang an mit entsprechenden Beanstandungen rechnen, zumal Bewertungen anonym bzw. pseudonym erfolgten, was die Missbrauchsgefahr noch erhöhe und es dem Betroffenen zudem erheblich erschwere, unmittelbar gegen den Portalnutzer vorzugehen. Der Hostprovider habe im Fall eines konkreten Hinweises auf eine Rechtsverletzung die Beanstandung an den Bewerter zur Stellungnahme weiterzuleiten. Bleibe eine Stellungnahme innerhalb einer nach den Umständen angemessenen Frist aus, sei von der Berechtigung der Beanstandung auszugehen und der beanstandete Eintrag zu löschen (Rn. 30 f.). Das überzeugt. Zwar kann ein Hostprovider die Haftungsbeschränkung des § 10 S. 1 TMG für sich beanspruchen, das gilt nach dem BGH aber nicht für Unterlassungsansprüche, die ihre Grundlage – wie vorliegend – „in einer vorangegangenen Rechtsverletzung“ haben (Rn. 21).

So weit, so gut. Jedoch steht damit noch die Frage aus, unter welchen Voraussetzungen der Betroffene zur Duldung verpflichtet ist. Duldungspflichten können etwa aus einem Vertrag, einer Einwilligung oder aus dem Gesetz resultieren. Aber auch bei Überwiegen der grundrechtlich geschützten Interessen des Bewerters in einem Bewertungsportal besteht für den Bewerteten eine Duldungspflicht. Mithin ist eine Abwägung zwischen den grundrechtlich geschützten Interessen des Bewerteten und denjenigen des Bewerters und des Portalbetreibers vorzunehmen.
  • Auf Seiten des H steht (über Art. 19 Abs. 3 GG) das nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Unternehmenspersönlichkeitsrecht. Hinzu treten das Berufsgrundrecht aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG sowie ggf. das Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG.
  • N könnte sich mit ihren Bewertungen auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG und Art. 10 EMRK stützen, jedenfalls, sofern sie keine unwahren Tatsachenbehauptungen und keine Schmähkritik geäußert hat.
  • Hinzu tritt das Informationsinteresse der anderen Nutzer aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 2 GG und Art. 10 EMRK .
  • Auf Seiten des Portalbetreibers steht die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG (flankiert von Art. 8 Abs. 1 EMRK). Er könnte sich zudem auf bestimmte Kommunikationsgrundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 10 EMRK berufen.
In einer juristischen Ausarbeitung müssten die genannten Grundrechte des GG und Gewährleistungen der EMRK an dieser Stelle untereinander und gegeneinander abgewägt werden.


C. Bewertung

Im Ergebnis („Unterlassungsanspruch begründet“) ist der Entscheidung des BGH beizupflichten. Aus rechtsmethodischer Sicht gibt sie aber Anlass zur Kritik. So unterlässt der BGH die Prüfung, ob der Sachverhalt unter den Anwendungsbereich der DSGVO fällt und die Güterabwägung daher im Lichte (auch) der Grundrechtecharta der Union zu erfolgen hat. Unionsrechtsbezug prüft der Senat – anders als in seinem Urteil v. 09.08.2022 (VI ZR 1244/20), wo es ebenfalls um Unterlassung der Verbreitung von Internetbewertungen ging – nicht, sondern prüft den Unterlassungsanspruch ausschließlich nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog (statt nach Art. 17 Abs. 1 DSGVO). Offenbar geht der BGH im vorliegend besprochenen Urteil davon aus, es lägen keine personenbezogenen Daten vor. Das aber überzeugt – wie aufgezeigt – nicht, da die hinter der Hotel- und Freizeitanlange stehende(n) natürliche(n) Person(en) identifizierbar ist/sind. Richtigerweise ist von einer Personenbezogenheit der Daten auszugehen. Hinsichtlich der dem Portalbetreiber zustehenden Grundrechte übergeht der BGH zudem das Berufsgrundrecht (Rn. 35), was methodisch ebenfalls zu beanstanden ist.

Die erforderliche Grundrechtsabwägung fällt in der BGH-Entscheidung denkbar kurz aus. Das konnte sie von der Warte des Gerichts aus auch. Denn wie der BGH völlig zu Recht ausführt, reicht die (substantiierte) Rüge des Bewerteten, der Bewertung liege kein Gästekontakt zugrunde, womit ihr die Grundlage fehle, grundsätzlich aus, um Prüfpflichten des Bewertungsportals auszulösen (Rn. 37). Unterlässt der Portalbetreiber in einem solchem Fall die Prüfung, liegt allein darin ein Rechtsverstoß, der zur Verletzung der Grundrechte des Bewerteten führt (siehe Rn. 38).


Rolf Schmidt (11.09.2022)



27.08.2022: Pflicht zum Nachweis einer Masern-Schutzimpfung von Kindern, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, ist verfassungsgemäß

BVerfG, Beschl. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 u.a.

Mit Beschluss vom 21.7.2022 hat der 1. Senat des BVerfG entschieden, dass die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung von Kindern, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden (sollen), verfassungsgemäß ist.

Dem Beschluss lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: § 20 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) verlangt für Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung i.S.v. § 33 Nr. 1-3 IfSG (etwa Kindertageseinrichtung oder erlaubnispflichtige Kindertagespflege) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern. Sofern ein Impfschutz pflichtig ist, gilt dieser auch, wenn ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, d.h. Impfstoffe, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten (§ 20 Abs. 8 S. 3 IfSG). § 20 Abs. 9 S. 1 Nr. 1 IfSG verlangt bei Betreuung in Kindertageseinrichtungen oder der Kindertagespflege einen im Gesetz konkretisierten Nachweis über die Impfung oder die Masernimmunität. Auf Anforderung ist gem. § 20 Abs. 12 S. 1 Nr. 1 IfSG der Nachweis dem Gesundheitsamt vorzulegen, das bei ausbleibender Vorlage das Betreten bestimmter Gemeinschaftseinrichtungen untersagen kann. Für die betreffenden Kinder auferlegt § 20 Abs. 13 S. 1 IfSG den sorgeberechtigten Eltern, die Nachweis- und Vorlagepflicht zu erfüllen. Wird für Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres kein derartiger Nachweis vorgelegt, dürfen sie nicht in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden (§ 20 Abs. 9 S. 6 IfSG).

Die Beschwerdeführer (nicht gegen Masern geimpfte und über keine Immunität verfügende Kinder, bei denen keine medizinische Kontraindikation zu einer Masernschutzimpfung besteht, die sie vom Nachweis einer Impfung befreien würde, sowie sorgeberechtigte Eltern) machen verschiedene Grundrechtsverletzungen geltend. So sei das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG) der beschwerdeführenden Kinder verletzt. Auch werde in unverhältnismäßiger Weise in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) eingegriffen.

Ob die Entscheidung des BVerfG überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.


A. Einführung

Um es vorab klarzustellen: Es gibt (anders als in der (auch juristischen) Berichterstattung oft genannt) keine Impfpflicht, weder in Bezug auf COVID-19 noch in Bezug auf Masern. Es geht um die Pflicht für bestimmte Personen zur Erbringung eines Impfnachweises, damit bestimmte Einrichtungen (etwa Kindertagesstätten) aufgesucht werden können. Das mag zwar faktisch von den Betroffenen als Impfpflicht gesehen werden, ist es aber juristisch nicht. Gegenstand der Prüfung ist also die Verfassungsmäßigkeit des Nachweises einer Schutzimpfung, um bestimmte Einrichtungen aufsuchen zu können. Virulent wird dabei das Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten der Beschwerdeführer, die der Staat zu wahren hat, und der staatlichen Schutzpflicht, die vorliegend darin besteht, andere Menschen, insbesondere vulnerable Menschen (hier wiederum insbesondere Säuglinge und Personen, bei denen bei einer Impfung Kontraindikationen bestehen), vor Infektionen zu schützen. Bereits an dieser Stelle ist zu betonen, dass das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs-, Gestaltungs- und Prognosespielraum bei der Gesundheitsvorsorge und der Bekämpfung von Pandemien zuspricht. Das hat Auswirkungen auf die Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter und die verfassungsgerichtliche Überprüfung: Ergreift der Staat Maßnahmen zur Erfüllung seiner staatlichen Schutzpflicht und verfolgt ein nachvollziehbares Konzept zur Pandemiebekämpfung, treten Individualgrundrechte von Impfverweigerern tendenziell hinter die Grundrechte der zu schützenden Menschen und der Gemeinschaftsgüter jedenfalls dann zurück, wenn aufgrund von belastbarem Tatsachenmaterial die Vorteile einer Schutzimpfung deren Nachteile überwiegen, zumal die Gefahr von (schweren) Impfschäden denkbar gering ist.       


B. Prüfung des Falls

Im Folgenden gilt es, die gesetzlichen Vorschriften über die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen am Maßstab der betroffenen Grundrechte zu prüfen. Bemerkenswert ist der vom BVerfG gewählte Prüfungsaufbau. Statt strikt nach Grundrechten zu gliedern und die betroffenen Grundrechte nacheinander jeweils komplett durchzuprüfen (Schutzbereich, Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung), prüft das Gericht zunächst den Schutzbereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und den Eingriff in dieses Grundrecht (Rn. 66-76), um sodann den Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG zu prüfen und den diesbezüglichen staatlichen Eingriff festzustellen (Rn. 77-82). Ab Rn. 83 prüft das BVerfG dann die verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Bezug auf beide Grundrechte. Diese Vorgehensweise ist elegant; sie hat den Charme einer systematischen Geschlossenheit, müssen unterschiedliche Prüfungspunkte ja nicht mehrfach (also bei jedem Grundrecht) separat behandelt werden. Im Rahmen der juristischen Ausbildung (und v.a. im Rahmen von Prüfungsarbeiten) ist der vom BVerfG gewählte Aufbau gleichwohl nicht zu empfehlen. Zum einen entspricht er nicht den schulmäßigen Aufbauregeln und zum anderen birgt er die Gefahr einer nicht hinreichend nach Prüfungsmaßstäben differenzierten Prüfung in sich. Daher werden im Folgenden die für die juristische Ausbildung anerkannten Aufbauregeln befolgt. Vom BVerfG nicht geprüft wurde die gesetzliche Regelung am Maßstab des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das erstaunt (jedenfalls auf den ersten Blick). Denn die Entscheidung eines Menschen (hier: der Kinder, vertreten durch ihre Eltern), sich nicht impfen zu lassen, ist gerade Ausdruck der Persönlichkeit. Wenn man jedoch bedenkt, dass das Grundgesetz die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zwischen Eltern und Staat aufteilt und sie nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in erster Linie den Eltern zugeweist (so BVerfG Rn. 79), wird deutlich, dass vom BVerfG die Aspekte des Persönlichkeitsrechts im Rahmen der Prüfung am Maßstab des Elternrechts abgearbeitet wurden. Einer separaten Prüfung bedurfte es insoweit also nicht.

I. Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG)

1. Eröffnung des Schutzbereichs

Relativ kurz (da eindeutig) stellt das BVerfG fest, dass das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers schützt (BVerfG Rn. 78 mit Verweis auf BVerfG 1 BvR 2649/21 Rn. 111). Träger dieses Rechts sei „jeder“, mithin auch ein Kleinkind (BVerfG Rn. 78 mit Verweis zum Recht auf Leben BVerfGE 115, 118, 139).

2. Eingriff in den Schutzbereich

Beschwerdegegenstand sind die Vorschriften des § 20 Abs. 8 S. 1-3, Abs. 9 S. 1 und 6, Abs. 12 S. 1 und 3, Abs. 13 S. 1 IfSG über die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen. In diesen Vorschriften über die Nachweispflicht und das Betreuungsverbot im Fall des nicht vorgelegten Nachweises könnte ein Eingriff zu sehen sein.

Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff immer dann vor, wenn ein Rechtsakt final und unmittelbar freiheitsverkürzend in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift – sog. enger Eingriffsbegriff, der auf die Imperativität des staatlichen Handelns abstellt (vgl. nur BVerfG NVwZ 2018, 1224; BVerfGE 105, 252 ff. und 279 ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1-19 Rn 51a; siehe auch BVerwG NJW 2018, 716, 719). Da es für den belasteten Menschen aber keinen Unterschied macht, ob er durch eine zielgerichtete, also unmittelbar wirkende, oder lediglich faktisch-mittelbar wirkende Maßnahme in seinen Grundrechten beeinträchtigt wird, ist anerkannt, dass auch bei faktischen oder mittelbaren Maßnahmen grds. Eingriffsqualität anzunehmen ist, solange sie nur in ihrer Wirkung einem unmittelbaren staatlichen Eingriff entsprechen (sog. weiter Eingriffsbegriff – vgl. nur BVerfGE 105, 252, 273 Osho; 110, 177, 191; BVerfG NVwZ 2018, 1224 f.; BVerwG NJW 2018, 716, 720; BVerfG NJW 2019, 827, 828 ff.; BVerfG NJW 2020, 905, 908).

Im vorliegenden Fall spricht das BVerfG von einem in die körperliche Unversehrtheit der Kinder „zielgerichtet mittelbar“ eingreifenden Akt (BVerfG Rn. 80). Damit scheint das Gericht also einen neuen Eingriffsbegriff kreiert zu haben, der zwischen dem final-unmittelbaren und dem faktisch-mittelbaren Eingriffsakt einzuordnen sein könnte. Das Gericht führt aus: „Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen“ (BVerfG Rn. 81). Das BVerfG erkennt also den nicht unerheblichen Druck, der auf die Eltern ausgeübt wird, möchten diese nicht auf die frühkindliche Betreuung verzichten. Werde eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, gehe von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, komme in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gleich (BVerfG Rn. 81).

Der Eingriffsbegriff „zielgerichtet mittelbar“ ist demnach also wie folgt zu verstehen: „Zielgerichtet“ ist der verfolgte Zweck, nämlich die Bekämpfung von Masern mittels Schutzimpfung, die einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. „Mittelbar“ ist der Weg, nämlich die Bekämpfung von Masern über die Verwehrung des Zugangs zu Betreuungseinrichtungen, sollten sich die Eltern weigern, ihre Kinder impfen zu lassen.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
    
a. Rechtsgrundlage für die „zielgerichtet mittelbar“ wirkende Maßnahme

(Staatliche) Eingriffe sind nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie den von der Verfassung geforderten formellen und materiellen Anforderungen genügen (allg. Auffassung spätestens seit BVerfGE 6, 32, 41).

b. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Norm

In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken. Der Bund hat gem. Art. 74 I Nr. 19 GG die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten beim Menschen. Das BVerfG führt aus: „Die Masernerkrankung ist eine Infektionskrankheit, die durch das Masernvirus hervorgerufen wird und damit eine übertragbare Krankheit, die auch einen gewissen Grad an Schwere der Erkrankung mit sich bringt und sogar zum Tode führen kann“ (BVerfG Rn. 86).

Auch die fehlende Zustimmung des Bundesrates führt nicht zur Verfassungswidrigkeit. Zwar bedürfen gem. Art. 104a Abs. 4 GG Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit oder nach Art. 104a Abs. 3 S. 2 GG im Auftrag des Bundes ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. Jedoch sind laut BVerfG bloße Änderungen bereits bestehender Geld-, Sach- oder Dienstleistungsgesetze nach Art. 104a Abs. 4 GG nicht zustimmungspflichtig, wenn hierdurch keine Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründet, sondern im Gegenteil Leistungen nach einem bestehenden zustimmungspflichtigen Gesetz gestrichen oder gemindert werden (Rn. 89). Da es sich somit lediglich um ein sog. Einspruchsgesetz handelt, war die fehlende Zustimmung des Bundesrates unschädlich.

Das Zitiergebot gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ist gewahrt; die Ermächtigung zum Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist in § 20 Abs. 14 IfSG genannt.

c. Materielle Verfassungsmäßigkeit der Norm

Die Vorschriften des § 20 Abs. 8 S. 1-3, Abs. 9 S. 1 und 6, Abs. 12 S. 1 und 3, Abs. 13 S. 1 IfSG über die Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen müssten auch materiell verfassungsgemäß sein. So fordert zunächst Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ein Gesetz, das den Grundrechtseingriff zulässt (Gesetzesvorbehalt). Ein solches Gesetz könnte § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG darstellen. Die Vorschrift ist jedoch relativ weit formuliert. Die Beschwerdeführer rügen, dass die Norm auch gelte, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stünden, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten. Folgte man dem, stünde die Vorschrift in der Tat außerhalb der Ermächtigung und verstieße gegen den Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Das BVerfG ist dem jedoch entgegengetreten. § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG könne verfassungskonform so ausgelegt werden, dass die daraus resultierende Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gelte, wenn es sich dabei um solche handele, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthielten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Mit diesem Verständnis würden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthalte der Wortlaut von § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürften. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen werde jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt (BVerfG Rn. 99). Damit ist zugleich der Bestimmtheitsgrundsatz gewahrt.

Um verhältnismäßig zu sein, müsste das Gesetz einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein (allg. Auffassung).

Legitimer Zweck: Legitim ist der Zweck, wenn er auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet ist bzw. wenn ein öffentliches Interesse verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist (BVerfGE 124, 300, 331). Die in § 20 Abs. 8, 9 und 12 IfSG festgelegten Pflichten verfolgen ebenso wie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 S. 6 IfSG) den Zweck, vulnerable Personen (insbesondere Säuglinge und Personen, bei denen bei einer Impfung Kontraindikationen bestehen) vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung zu schützen (BVerfG Rn. 106). Dem gleichen Zweck dient die Übertragung der Erfüllung der Nachweispflicht von Kindern auf ihre Eltern in § 20 Abs. 13 S. 1 IfSG (BVerfG Rn. 103). Die Annahme des Gesetzgebers, von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz und auch keine Immunität gegen Masern aufweisen, könnten Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehen, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Masernerkrankung zu schützen vermögen, beruhe auf zuverlässigen Grundlagen und halte auch der strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grundrechtseingriffe engen Einschätzungsspielraums habe der Gesetzgeber in Einklang mit dem Verfassungsrecht von einer Gefahrenlage durch eine Masernerkrankung für verletzliche Personen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können, ausgehen können (BVerfG Rn. 106-111). Mithin ist der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck legitim.

Geeignetheit der Maßnahme: Darüber hinaus müssten die gesetzliche Pflicht zum Nachweis einer Masernschutzimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen geeignet sein. Das ist der Fall, wenn mit der gesetzlichen Regelung das angestrebte Ziel erreicht bzw. gefördert werden kann (vgl. nur BVerfGE 81, 156, 192; 96, 10, 21; 115, 276, 308; 126, 112, 144; 134, 204, 226; 141, 82, 100; 148, 40, 56 f.; BVerfG NVwZ 2017, 1111, 1123; BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f.; BVerfG NJW 2019, 827, 830; BVerfG NJW 2020, 905, 913; BVerfGE 156, 63, 140). Maßgeblich ist allein, dass die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht. Auf Fragen nach der Effektivität oder geeigneteren Mitteln kommt es (noch) nicht an. Nur, wenn die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck in keiner Weise fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt, ist sie nicht mehr geeignet und damit verfassungswidrig (BVerfG Rn. 113; BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung; BVerfGE 158, 282, 336 – Vollverzinsung; 67, 157, 173 – Überwachung des Brief- und Telefonverkehrs).

Auch bei der Frage nach der Geeignetheit räumt das BVerfG dem Gesetzgeber einen Beurteilungs- und Prognosespielraum ein (vgl. nur BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f. – Befristung von Arbeitsverträgen m.w.N.), „der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen“ (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung). Dabei sei der Umfang des Beurteilungs- und Prognosespielraums nicht starr, sondern hänge „einzelfallbezogen etwa von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab“ (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung). Somit wird deutlich: Solange zuverlässige Grundlagen (gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse; Ergebnisse quantitativer und qualitativer empirischer Forschungen) bestehen, auf denen die gesetzgeberischen Entscheidungen beruhen, ist die Geeignetheit nur bei evidenter Untauglichkeit der gesetzlichen Regelung zu verneinen (insoweit besteht eine Parallele zum sog. Beurteilungsspielraum, der in bestimmten Fällen auch der Exekutive eingeräumt worden ist – vgl. R. Schmidt, AllgVerwR, Rn. 283 ff.). Das gilt selbst bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen. Zwar dürfen nach der Rechtsprechung des BVerfG tatsächliche Unsicherheiten auf der Tatsachenbasis grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen. Erfolge aber der Eingriff zum Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und sei es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, sei die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung – mit Verweis auf BVerfGE 153, 182, 272 f. – geschäftsmäßige Förderung des Suizids). Lägen der gesetzlichen Regelung prognostische Entscheidungen zugrunde, komme es darauf an, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon habe ausgehen dürfen, dass die Maßnahme zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet, ob seine Prognose also sachgerecht und vertretbar gewesen sei. Erweise sich eine Prognose nachträglich als unrichtig, stelle dies jedenfalls die ursprüngliche Eignung des Gesetzes nicht infrage. Die Eignung setze also nicht voraus, dass es zweifelsfreie empirische Nachweise der Wirkung oder Wirksamkeit der Maßnahmen gebe (BVerfG NJW 2022, 1999, 2010 – COVID-19-Schutzimpfung – mit Verweis auf BVerfGE 156, 63, 140 – elektronische Aufenthaltsüberwachung).

Sodann überträgt das BVerfG diese Grundsätze auf den Fall: Die auf Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen bezogene Nachweispflicht sei ebenso wie das bei ausbleibendem Nachweis geltende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 S. 6 IfSG) im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die mit dem Masernschutzgesetz verfolgten Zwecke zu erreichen. Die Regelungen könnten sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen, als auch dazu, diese in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder in denen solche vulnerablen Personen zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben (BVerfG Rn. 114). Die Geeignetheit ist damit gegeben.

Erforderlichkeit der Maßnahme: Erforderlich ist die gesetzliche Regelung, wenn kein gleich wirksames, aber für den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht (BVerfG NJW 2018, 2109, 2112 mit Verweis auf BVerfGE 113, 167, 259; 135, 90, 118; vgl. auch BVerfGE 30, 292, 316; 63, 88, 115; 77, 84, 109; 90, 145, 172; 100, 313, 375; 116, 202, 225; 145, 20, 80; BVerfG NJW 2019, 827, 830). Dabei betont das BVerfG (in ständiger Rechtsprechung), dass dem Gesetzgeber grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zustehe. Das BVerfG sei dann auf eine Vertretbarkeitskontrolle bezüglich der Eignungseinschätzung beschränkt (BVerfG Rn. 121 mit Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u.a. –, Rn. 185 und Beschl. v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 –, Rn. 187). Jedenfalls wäre eine allgemeine Masernimpfpflicht keine mildere Alternativmaßnahme.

In seiner Feststellung führt das BVerfG aus, es sei unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschätzungsspielraums nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung gestanden hätten (BVerfG Rn. 116). Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Gewährleistung des angestrebten Individual- und Gemeinschaftsschutzes als nicht sicher gleich wirksam angesehen habe. Er habe sich bei seiner Entscheidung auf hinreichend tragfähige Grundlagen stützen können (BVerfG Rn. 122). Insbesondere die Annahme des Gesetzgebers, ohne die in den angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen würde die Impfquote weiter stagnieren und gleichzeitig könne die Anzahl der Masernausbrüche in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege steigen, beruhe auf tragfähigen Grundlagen und sei nicht zu beanstanden.

Die Pflicht, bei Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot seien zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfassungsrechtlichen Sinne daher erforderlich (BVerfG Rn. 116).

Angemessenheit der Maßnahme: Schließlich müssten die beanstandeten Regelungen angemessen sein. Der mit ihnen verfolgte Zweck dürfte also in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs stehen (Zumutbarkeit der Regelung; Verhältnismäßigkeit i.e.S. – BVerfG Rn. 130; vgl. auch bspw. BVerfG NJW 2020, 2699, 2707; BVerfG NJW 2019, 1432, 1433; BVerfG NJW 2019, 827, 830). Mithin muss eine Abwägung stattfinden zwischen der Intensität des Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Rechtsgut und der Wertigkeit des verfolgten Zwecks der gesetzlichen Regelung.

Das BVerfG räumt zwar ein, dass die angegriffenen Vorschriften zielgerichtet mittelbar in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der Kinder eingriffen. Allerdings sei dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend (BVerfG Rn. 143). Demgegenüber sei die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhten das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich. Wenn also der Staat den Schutz einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können, als vorrangig erachte, gerade weil die erforderliche hohe Impfquote nicht durch freiwillige Entscheidung der Eltern zu erwarten sei, sei dies von dem dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungsspielraum gedeckt. Auf den Punkt gebracht formuliert das BVerfG, dass bei einer Impfung nahezu immer nur milde Symptome und Nebenwirkungen aufträten und dass ein echter Impfschaden extrem unwahrscheinlich sei. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, sei dagegen deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Die hohe Übertragungsfähigkeit, die hohe Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis) zu erleiden, sprächen für das Überwiegen der staatlichen Schutzpflicht (BVerfG Rn. 149).

Mithin seien die angegriffenen gesetzlichen Vorschriften mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG vereinbar.


II. Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

1. Eröffnung des Schutzbereichs

Weiterhin sind die gesetzlichen Regelungen am Maßstab des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zu prüfen. Diese Verfassungsbestimmung garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern sollen grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden dürfen, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (BVerfG Rn. 67 mit Verweis auf BVerfGE 107, 104, 117; 121, 69, 92). Damit wird zugleich deutlich, dass das Elternrecht nicht die Selbstbestimmung der Eltern beschreibt, sondern das Recht zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt (BVerfG Rn. 67 mit Verweis auf BVerfGE 121, 69, 92). Dementsprechend müssen Eltern ihr Verhalten am Wohl ihres Kindes ausrichten (BVerfG Rn. 67 mit Verweis auf BVerfGE 103, 89, 107; 121, 69, 92; 133, 59, 77 f.). Innerhalb dieses Rahmens, d.h. der Ausrichtung am Kindeswohl, ist das Elternrecht umfassend gewährt und erstreckt sich auf sämtliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes (BVerfG Rn. 68 mit Verweis auf BVerfGE 107, 104, 120). Das Elternrecht umfasst die Sorge für das körperliche Wohl des Kindes, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen einschließlich Schutzimpfungen fällt (BVerfG Rn. 69). Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes handelt es sich, wie das BVerfG ausführt, bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts (BVerfG Rn. 69). Die Entscheidung, das Kind (etwa gegen Masern) impfen zu lassen, ist daher ebenso vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG erfasst wie die Entscheidung, eine Impfung abzulehnen.

2. Eingriff in den Schutzbereich

Da durch die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes Eltern gezwungen werden, in die Schutzimpfung ihres Kindes einzuwilligen, wenn sie das Betreuungsangebot in der jeweiligen Gemeinschaftseinrichtung wahrnehmen möchten, wirken die genannten Vorschriften auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts ein (BVerfG Rn. 74). Dies kommt, wie das BVerfG ausführt, in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde (BVerfG Rn. 75).     

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs

Die beanstandeten Regelungen müssten auch den Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gerecht werden. Zunächst müsste Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG einschränkbar sein. Anders als Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG steht Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG aber unter keinem geschriebenen Schrankenvorbehalt. Zwar enthält Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG eine grundrechtsimmanente Schranke („staatliches Wächteramt“). Diese ist im vorliegenden Zusammenhang aber nicht einschlägig, da es nicht um Kindeserziehung geht, sondern um die Verwehrung des Zugangs zu Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen für den Fall der Impfverweigerung. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist somit im vorliegenden Zusammenhang vorbehaltlos gewährleistet. Aber auch vorbehaltlos gewährte Grundrechte sind (außer Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) einschränkbar. Eingriffe können verfassungsimmanent, d.h. durch kollidieren­de höherwertige Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang aus­gestattete Rechte im Rahmen der Verhältnismäßigkeit legiti­miert werden. Das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG gilt nicht, weil dessen Zweck nur bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt greift.

Materiell kann auf die Prüfung zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG verwiesen werden, zumal das BVerfG diesbezüglich eine verzahnte Prüfung vorgenommen hat und seine Argumente zur Rechtfertigung beider Grundrechtseingriffe gelten.

C. Bewertung

Die Entscheidung des BVerfG überzeugt. Der Gesetzgeber durfte aufgrund einer gesicherten Erkenntnislage davon ausgehen, dass die erforderliche Impfquote nicht durch Freiwilligkeit erreicht wird. Er durfte – wie das BVerfG zu Recht ausführt – weiterhin annehmen, dass andere, gleich wirksame, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel nicht zur Verfügung standen. Die vom Gesetzgeber erlassenen Bestimmungen tragen nicht nur dazu bei, die Impfquote in der Bevölkerung zu erhöhen, sondern insbesondere auch, sie in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen auch vulnerable Personen betreut werden. Die mit einer Impfung verbundenen Grundrechtseingriffe sind in ihrer Intensität vergleichsweise gering; demgegenüber besteht ein hohes Risiko einer Infektion und ein hohes Risiko von gravierenden, mitunter erst viele Jahre später eintretenden Spätfolgen einer Maserninfektion, insbesondere einer tödlich verlaufenden subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (d.h. einer Entzündung des Gehirns). Macht der Staat daher von seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht Gebrauch und schützt Kleinkinder vor einer Infektion in einer Gemeinschaftseinrichtung (und letztlich vor der Unvernunft der Eltern), ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bemerkenswert ist, dass das BVerfG dem Gesetzgeber auf allen Ebenen der Verhältnismäßigkeit einen (weiten) Einschätzungs- und Prognosespielraum zuspricht. Dieser beziehe sich u.a. darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. Er reiche umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist. Diene die Maßnahme dem Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und sei es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, sei die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt (BVerfG Rn. 117). Auch dies ist zu begrüßen. Denn die Entscheidung des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der bei Gesetzeserlass im Rahmen von Anhörungen auf eine Vielzahl von Gutachten und Sachverständigen, ggf. auch auf Expertengremien zurückgreift und darauf basierend eine Prognoseentscheidung treffen muss, sollte nur dann verfassungsgerichtlich aufgehoben werden, wenn sie evident fehlerhaft und unvertretbar ist.

Der Entscheidung des BVerfG wird man präjudizierende Wirkung bei der SARS-CoV-2-Bekämpfung beimessen können. Denn (auch) bei einer solchen Impfung geht es um die Verhinderung einer COVID-19-Infek­tion, die zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zum Tod führen kann. Der dem Gesetzgeber zugesprochene weite Einschätzungs-, Gestaltungs- und Prognosespielraum bei der Gesundheitsvorsorge und der Bekämpfung von Pandemien mit der Folge des nur begrenzten verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs besteht auch bei der COVID-19-Bekämpfung (BVerfG NJW 2022, 1999, 2008 – „Einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“), zumal das BVerfG (auch) diesbezüglich formuliert, dass schwerwiegende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen, die über die durch die Verabreichung des Impfstoffs induzierte Immunantwort hinausgehen, „ganz überwiegend nicht eintreten“ (BVerfG NJW 2022, 1999, 2018).     


Rolf Schmidt (27.08.2022)



02.07.2022: Tätowierungsverbot gegenüber Beamten

BVerfG 18.5.2022 – 2 BvR 1667/20

Mit Beschluss vom 18.5.2022 hat der 2. Senat des BVerfG entschieden, dass die bundesverwaltungsgerichtlich bestätigte Versagung der Genehmigung des sichtbaren Tätowierens des Unterarms den Beschwerdeführer (ein bayerischer Polizeivollzugsbeamter) in seinem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG (i.V.m. Art. 20 III GG) verletzt.

Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer (im Folgenden: P) ist Polizeioberkommissar im Dienst des Landes Bayern. Er beantragte die Genehmigung einer Tätowierung mit einem verzierten Schriftzug – „aloha“ – (15x6 cm) auf dem Unterarm im sog. sichtbaren Bereich. Der Dienstherr versagte die Genehmigung. Zur Begründung verwies er auf eine Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zum Erscheinungsbild der Bayerischen Polizei, wonach im Dienst – ausgenommen Dienstsport – Tätowierungen nicht sichtbar sein dürften. Nachdem P erfolglos den Instanzenzug (zuletzt: BVerwG, Urt. v. 14.5.2020 –  2 C 13.19, BVerwGE 160, 370) beschritten hatte, erhob er Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG.

Ob die Entscheidung des BVerfG überzeugt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.


A. Einführung

Das Beamtenrecht ist geprägt durch die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ (Art. 33 V GG). Darunter versteht das BVerfG den „Kernbestand von Strukturprinzipien, die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren, Tradition bildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind“ (BVerfGE 8, 322, 343). Darunter fallen nach allgemeiner Verfassungsinterpretation das Lebenszeitprinzip, die besondere Treuepflicht des Beamten zu seinem Dienstherrn (Art. 33 IV GG) und die Fürsorgeverpflichtung des Staates (insb. das Alimentationsprinzip, siehe dazu BVerfGE 119, 247, 263 ff.).

Gerade die Treuepflicht des Beamten, die mit der Fürsorgepflicht des Staates und des Dienstherrn korreliert (zur Korrelation dieser beiden Prinzipien siehe BVerfGE 3, 58, 157; 8, 322, 356; 119, 247, 264), gebietet eine Zurückhaltung des Beamten bei politischen Äußerungen („Mäßigungspflicht“; Neutralitätsgebot, siehe etwa § 62 I S. 2 BBG, § 35 I S. 2 BeamtStG – beamtenrechtliche Folgepflicht). Aber auch Beschränkungen bei der Tätowierung sind Ausdruck der Treuepflicht und des Neutralitätsgebots. Das Neutralitätsgebot soll den Besonderheiten der institutionellen Funktionsfähigkeit des Staates Rechnung tragen. Eine neutrale und unvoreingenommene Amtsführung sichert das Vertrauen in die Verwaltung und liegt daher im besonderen öffentlichen Interesse.

Andererseits sind Beamte ebenso Grundrechtsträger wie alle anderen natürlichen Personen. Zu Recht hat das BVerfG in seiner Strafgefangenenentscheidung (BVerfGE 33, 1 ff.; vgl. auch BVerfGE 41, 251 ff.) dem Standpunkt, dass die Grundrechte und der Gesetzesvorbehalt im „Sonderstatusverhältnis“ nicht zur Geltung kämen, eine Absage erteilt und dies im Urteil bezüglich des Jugendstrafvollzugs ausdrücklich bestätigt (BVerfGE 116, 69 ff. – vgl. dazu R. Schmidt, Grundrechte, 26. Aufl. 2021, Rn. 319). Und in seinem Beschluss zum Kopftuchverbot gegenüber einer Rechtsreferendarin hat das BVerfG ohne weiteres for­muliert, dass die Grundrechtsberechtigung durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt werde (BVerfG NJW 2020, 1049, 1051). Schließlich geht das BVerfG in seinem Beschluss hinsichtlich des Anhaltens des Briefes eines Strafgefangenen wegen abfälliger Äußerungen ganz selbstverständlich von der Grundrechtsgeltung im Strafgefangenenverhältnis aus (BVerfG 17.3.2021 – 2 BvR 194/20 – nur tw. abgedruckt in NStZ 2021, 439 – mit Bespr. v. Muckel, JA 2021, 523).

Sind damit auch in den Staatsapparat eingegliederte Personen (Beamte, Richter, Soldaten, Schüler etc.) Träger von Grundrechten und greift der Staat in die (Grund-)Rechtssphäre einer dieser Personen ein, bedarf er dazu einer gesetzlichen Rechtsgrundlage, die zudem alle wesentlichen Voraussetzungen für die Grundrechtsverkürzung enthält. Zu nennen sind insb. die Beachtung der Wesentlichkeitsrechtsprechung, des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

So erscheint fraglich, ob in persönliche Rechte des Beamten eingreifende „dienstliche“ Maßnahmen (etwa ein Tätowierungsverbot) auf bestimmte beamtenrechtliche Pflichten (etwa die Pflicht zur politischen Mäßigung und Zurückhaltung) oder Blankettvorschriften (etwa § 62 I S. 2 BBG, § 35 I S. 2 BeamtStG – beamtenrechtliche Folgepflicht) gestützt werden. Diese Pflichten bzw. Blankettvorschriften können nicht ohne weiteres als Rechtsgrundlagen für belastende Maßnahmen herangezogen werden. Andererseits sind die an das Treueverhältnis des Beamten zu seinem Dienstherrn anknüpfenden und den Besonderheiten der institutionellen Funktionsfähigkeit des Staates Rechnung tragenden Art. 33 IV und V GG zu berücksichtigen. Eingriffe in die (Grund-)Rechtssphäre der Beamten sind also stets auch vor diesem Hintergrund zu beurteilen. Im Ergebnis geht es also um die Frage, wie detailliert die gesetzliche Eingriffsermächtigung formuliert sein muss; zudem ist nach dem Maßstab bei der Rechtfertigung von (Grund-)Rechtseingriffen zu fragen. Hier kann die bereits angesprochene institutionelle Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen als verfassungsimmanente Schranke der Grundrechtsausübung wirken.


B. Prüfung des Falls

I. Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG

Durch die verwaltungsgerichtlich bestätigte Versagung der Tätowierungsgenehmigung könnte P in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (APR) aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG verletzt sein. Dieses von der Rechtsprechung im Rahmen einer Verfassungsinterpretation aus einer Gesamtschau aus Art. 2 I GG (allgemeine Handlungsfreiheit) und Art. 1 I GG (Menschenwürde) entwickelte Grundrecht fußt auf der Überlegung, dass dem Einzelnen ein verfassungsrechtlich verankertes Recht auf Achtung und Entfaltung seiner Persönlichkeit zustehen muss, das über das reine Abwehrrecht des Art. 2 I GG hinausgeht (siehe etwa BGHZ 13, 334, 337 ff.; 30, 7, 12 ff.; BVerfGE 35, 202, 220 ff.; aus jüngerer Zeit vgl. etwa BVerfG NVwZ 2018, 877, 878; BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 Rn. 80 – insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 2020, 53 ff.; BVerfG NJW 2020, 1049, 1056; BVerwG NVwZ 2020, 247 ff.). Durch die Inbezugnahme auf Art. 1 I GG wird der Schutz aus Art. 2 I GG also verstärkt. Art. 2 I GG allein wird der Bedeutung des APR nicht gerecht.

Sachlich wird durch das APR u.a. die persönliche Identität geschützt, wozu insbesondere das Selbstbestimmungsrecht über die Darstellung des persönlichen Lebens- und Charakterbildes gehört. Der Einzelne soll selbst darüber befinden dürfen, wie er sich gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit darstellen will und was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll (BVerfG NJW 2020, 1049, 1056). Auch die Freiheit, das äußere Erscheinungsbild selbst zu bestimmen, ist Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG (wie hier etwa Lang, in: BeckOK, GG, Art. 2 Rn. 42).

Demzufolge könnte der vorliegende Sachverhalt tatsächlich am Maßstab des APR zu messen sein. Auch das BVerwG führt aus, dass die Freiheit, sich an Kopf, Hals, Händen und Unterarmen tätowieren zu lassen oder diese Körperteile sonst dauerhaft äußerlich zu verändern, von dem von Art. 2 I GG umfassten Recht, über die Gestaltung der äußeren Erscheinung an den vorgenannten Körperbereichen auch im Dienst eigenverantwortlich zu bestimmen, erfasst sei (BVerwG, Urt. v. 14.5.2020 – 2 C 13.19 Rn. 24). Auf den ersten Blick scheint damit die Sache klar zu sein: Das Tätowieren des Unterarms ist vom Schutz des APR aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG erfasst. Jedoch erstaunt, dass es in der Formulierung an der für das APR konstitutiven Bezugnahme auf Art. 1 I GG fehlt. In der sodann folgenden Formulierung des BVerwG wird es noch deutlicher (Rn. 25): „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG steht unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung. Daher kann es aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes entspricht (...) und inhaltlich hinreichend bestimmt ist (...), wenn der Eingriff auf Gründe des Gemeinwohls gestützt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (…).“ Das BVerwG prüft damit also allein am Maßstab des Art. 2 I GG (allgemeine Handlungsfreiheit), obwohl es terminologisch von „allgemeinem Persönlichkeitsrecht“ spricht. Das irritiert. Dogmatisch überzeugend wäre allein gewesen, entweder Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG heranzuziehen (und dabei dann auch von „allgemeinem Persönlichkeitsrecht“ zu sprechen) oder – wenn man schon lediglich den Schutz aus Art. 2 I GG gewähren möchte – schlicht von „allgemeiner Handlungsfreiheit“ zu sprechen (oder zumindest die grundgesetzliche Überschrift „Freie Entfaltung der Persönlichkeit“ zu verwenden). Auswirkungen hat die Zuordnung zu Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG oder lediglich zu Art. 2 I GG auf die Frage des Schutzniveaus, das bei Art. 2 I GG deutlich schwächer ist. Eingriffe in Art. 2 I GG lassen sich leichter rechtfertigen, da dort an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geringere Anforderungen zu stellen sind. Möchte man das äußere Erscheinungsbild also lediglich dem Schutz des Art. 2 I GG unterstellen, sollte man das auch so benennen.

Auch das BVerfG stellt von vornherein lediglich auf Art. 2 I GG ab und formuliert, diese Verfassungsbestimmung gewährleiste „die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne, allerdings nur in den von dieser Grundrechtsnorm genannten Schranken“ (Rn. 31). Damit gibt (auch) das BVerfG klar zu verstehen, dass es den höheren Prüfungsmaßstab des APR aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG nicht anwenden will. Sicherlich kann man das zwar so vertreten, es hätte aber zumindest einer Auseinandersetzung mit dem APR bedurft. Das APR aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG schlicht unerwähnt zu lassen, ist dogmatisch und methodisch sehr angreifbar. Es gehört zu den allgemeinen Grundsätzen der juristischen Ausbildung, bei der Lösung von Fällen (generell: bei der Erstellung von Gutachten) vertretbare (und mit gewichtigen Argumenten begründete) Gegenstandpunkte aufzunehmen, auch wenn man ihnen nicht folgen möchte. So kann man sich hinsichtlich der vorliegenden Thematik sehr gut auf den Standpunkt stellen, die Freiheit, sich an Kopf, Hals, Händen und Unterarmen tätowieren zu lassen oder diese Körperteile sonst dauerhaft äußerlich zu verändern, sei von Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG geschützt.

Tätowierungen sind für diejenigen Personen, die sie aufbringen lassen, i.d.R. von besonderer Wichtigkeit. Dafür spricht schon allein der Umstand, dass Tätowierungen grundsätzlich auf Dauer angelegt sind. Werden Tätowierungen an sichtbaren Körperteilen (etwa am Hals oder am Unterarm) aufgetragen, möchte die betreffende Person sie gerade der Öffentlichkeit präsentieren. Das wiederum lässt darauf schließen, dass (jedenfalls sichtbare) Tätowierungen für die Persönlichkeit der betreffenden Personen grundlegend sind und damit deren äußeres Erscheinungsbild prägen. Gerade die Freiheit, das äußere Erscheinungsbild selbst zu bestimmen, ist Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG (s.o.). Richtigerweise ist eine Einschränkung oder ein Verbot des Tätowierens damit am Maßstab des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG zu messen.


II. Eingriff in den Schutzbereich

In der gerichtlich bestätigten Versagung der beantragten Tätowierungserlaubnis ist ein Eingriff zu sehen.


III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs


(Staatliche) Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sind trotz der Bezugnahme auf Art. 1 I GG grds. rechtfertigungsfähig. Denn das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist dogmatisch dem Art. 2 I GG zugeordnet, dessen Schutzniveau lediglich durch Art. 1 I GG verstärkt wird (s.o.). Insoweit zieht die Rspr. auch die Schrankentrias des Art. 2 I GG heran. (Staatliche) Eingriffe bedürfen daher zunächst einer formellen gesetzlichen Grundlage (die selbstverständlich auch die allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen wie die Gesetzgebungskompetenz, das Bestimmtheitsgebot, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz etc. beachten muss). Aufgrund der dogmatischen Zu­ordnung zu Art. 2 I GG gilt aber das Zitiergebot des Art. 19 I S. 2 GG nicht.


1. Rechtsgrundlage für die behördliche Entscheidung

Nach Art. 75 II S. 1 BayBeamtG kann, soweit es das Amt erfordert, die oberste Dienstbehörde nähere Bestimmungen über das während des Dienstes zu wahrende äußere Erscheinungsbild der Beamten und Beamtinnen treffen. Dazu zählen gem. Art. 75 II S. 2 BayBeamtG auch Haar- und Barttracht sowie sonstige sichtbare und nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale.


a. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Norm

In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken. Zwar hat der Bund gem. Art. 74 I Nr. 27 GG das Recht zur Regelung der Statusrechte und -pflichten der Beamten der Länder, zum Zeitpunkt des Erlasses des Art. 75 II BayBeamtG hatte der Bund im BeamtStG aber keine abschließende Regelung getroffen, sodass nach Art. 70 I, 72 I GG die Länder zuständig waren, Regelungen über das äußere Erscheinungsbild der Beamten zu erlassen.

Anm.: Da der Bund mit Gesetz v. 28.6.2021 (BGBl I 2021, S. 2250) Regelungen des Erscheinungsbildes in das BeamtStG eingefügt hat und diese recht ausführlich sind (siehe § 34 II BeamtStG), wird man insoweit von einem abschließenden Charakter auszugehen haben. Nunmehr dürfen die Länder allenfalls gleichlautende Vorschriften in ihre Beamtengesetze aufnehmen bzw. Einzelheiten regeln (§ 34 II S. 5 BeamtStG). Bisherige Regelungen in den Landesbeamtengesetzen, die § 34 II BeamtStG nicht widersprechen, bleiben gültig.   


b. Materielle Verfassungsmäßigkeit der Norm

In materieller Hinsicht ist zunächst der Bestimmtheitsgrundsatz zu beachten. Denn aufgrund des in Art. 20 III GG verankerten Rechtsstaatsprinzips müssen Gesetze hinreichend bestimmt sein, sodass Betroffene sich daran orientieren und sich dementsprechend verhalten können (vgl. etwa BVerfGE 108, 186, 234 f.). Vorliegend ergeben sich hinsichtlich der betroffenen Regelungsgegenstände zunächst keine Auslegungsprobleme: Vom äußeren Erscheinungsbild erfasst sind die Haar- und Barttracht sowie sonstige sichtbare und nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale. Unter „sonstigen sichtbaren und nicht sofort ablegbaren Erscheinungsmerkmalen“ wird man ohne weiteres Tätowierungen, aber auch Brandings fassen können.

Das BVerwG entnahm Art. 75 II S. 2 BayBeamtG jedoch ein unmittelbares Verbot für Polizeibeamtinnen und -beamte, sich im sog. sichtbaren Bereich tätowieren zu lassen (siehe BVerwG Rn. 32: „An diesem Maßstab orientiert, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass das in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG normierte Verbot für Polizeivollzugsbeamte, sich an Kopf, Hals, Hände und Unterarmen tätowieren oder vergleichbar behandeln zu lassen, deren Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht verletzt.“). Dem ist das BVerfG zu Recht entgegengetreten. Ein solcher Schluss lasse sich dem Wortlaut der Norm, insbesondere mit Blick auf S. 1, unter keinem denkbaren begrifflichen Ansatz entnehmen. Auch die Inbezugnahme auf die Gesetzesbegründung LT-Drs. 17/21474, S. 1 gehe fehl, weil sich auch dieser kein unmittelbares Tätowierungsverbot entnehmen lasse (BVerfG Rn. 38). Damit habe das BVerwG Art. 75 II S. 2 BayBeamtG einen Sinn zugrunde legt, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht habe verwirklichen wollen und der auch in keiner Weise Eingang in den Gesetzeswortlaut gefunden habe. Dies überschreite die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung. Entgegen dem Wortlaut und der Gesetzesbegründung davon auszugehen, dass das Tätowierungsverbot direkt in Art. 75 II S. 2 BayBeamtG geregelt sei, widerspreche den anerkannten Auslegungsmethoden. Habe das BVerwG damit die Grenzen richterlicher Auslegung überschritten, folge daraus ein Verstoß gegen die Gesetzesbindung aus Art. 20 III GG (BVerfG Rn. 32). In der Folge könne daher auch offenbleiben, ob (sonstige) Grundrechte verletzt seien (BVerfG Rn. 42).

Stellungnahme: In der Tat hat das BVerwG zu Unrecht angenommen, Art. 75 II BayBeamtG enthalte unmittelbar ein Tätowierungsverbot. Allein schon die wörtliche Auslegung spricht gegen eine solche Annahme. Damit war dann auch – losgelöst vom Ergebnis der Entscheidung – ein Verstoß gegen die Gesetzesbindung aus Art. 20 III GG anzunehmen und die Verfassungsbeschwerde allein deshalb begründet. Durch die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung wird ein anderer Senat des BVerwG in der Sache entscheiden müssen, weshalb auch noch keine Sachentscheidung vorliegt.  

Unabhängig von der Aufhebung des BVerwG-Urteils ist also zu prüfen, ob Art. 75 II BayBeamtG bzw. die Versagung der Tätowierungsgenehmigung P in seinem APR verletzt.      

So könnte die Ermächtigung gegenüber der obersten Dienstbehörde, nähere Bestimmungen zu treffen, den im Rechtstaats- und Demokratieprinzip verankerten Bestimmtheitsgrundsatz verletzen. Zwar ist vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen stets kritisch zu betrachten. Andererseits ist die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen in einem System abstrakt-genereller Rechtsetzung aber unerlässlich. Der Gesetzgeber kann nicht alle erdenklichen Lebenssachverhalte antizipiert in den Normen aufnehmen. Dafür bietet das Leben zu viele Besonderheiten und Verschiedenartigkeiten. Daher muss der Wortlaut einer Norm – freilich unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes – ein bestimmtes Maß an Abstraktheit aufweisen. Hinzu kommt, dass es der Verwaltung möglich sein muss, auch atypischen, unvorhersehbaren Situationen zu begegnen. Daher bestehen auch nach der Rechtsprechung des BVerfG gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe keine Bedenken, „wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt“ (BVerfG NJW 2018, 2619, 2622 mit Verweis auf BVerfGE 45, 363, 371 f.; 86, 288, 311 – st. Rspr.). Vorliegend lässt sich gut vertreten, Art. 75 II BayBeamtG sei hinreichend bestimmt formuliert. Denn in S. 2 der Bestimmung ist von „sonstige(n) sichtbare(n) und nicht sofort ablegbare(n) Erscheinungsmerkmale(n)“ die Rede. Tätowierungen (und Brandings) sind „nicht sofort ablegbar“ und – sofern sie am Gesicht, am Hals oder an (Unter-)Armen angebracht sind – i.d.R. auch „sichtbar“. Gerade bei Tragen einer Sommeruniform sind Tätowierungen am Hals und an den (Unter-)Armen i.d.R. gut sichtbar.

Sind die in Art. 75 II BayBeamtG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe mithin auslegbar, ist freilich mit Blick auf das Persönlichkeitsrecht der Beamten eine restriktive Auslegung geboten. Hinzu kommt, dass dem jeweiligen Dienstherrn ein Ermessen eingeräumt ist („kann“). Die zuständige Behörde ist also nicht gezwungen, Tätowierungsverbote zu erlassen bzw. Anträge auf Genehmigung einer Tätowierung zu versagen. Vielmehr entscheidet sie nach ihrem eigenen Ermessen und kann von unverhältnismäßigen Beschränkungen des APR absehen, weshalb die gesetzliche Regelung insgesamt verhältnismäßig ist.


2. Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts

Verlagert sich die Beurteilung damit auf die Einzelfallebene, wäre eine dienstliche Anordnung hin­sichtlich der Genehmigung oder Entfernung einer Tätowierung bzw. der Haar- und Barttracht nur dann verhältnismäßig, wenn die Tätowierung bzw. der Haar- und Bartschnitt mit dem achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten, das mit dem konkreten Beamten in seinem konkreten Amt verbunden ist, schlicht unvereinbar wäre. Wie aufgezeigt, liegt die Neutralität der Amtsführung im öffentlichen Interesse und dient dem Zweck, das Vertrauen in die Unvoreingenommenheit der Verwaltung und die Objektivität der Verwaltungsentscheidungen zu gewährleisten. Da jedoch Tätowierungen mittlerweile weit verbreitet sind, sogar zum Erscheinungsbild vieler Menschen gehören, kann eine Gefährdung der Neutralität nicht ohne weiteres angenommen werden. Jedenfalls hinsichtlich solcher Tätowierungen, die nicht im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen, die insbesondere extremistische, diskriminierende, sexistische oder rassistische Inhalte zeigen, sind Verbote verhältnismäßig (siehe etwa LAG Berlin-Brandenburg, 25.4.2019 – 5 Ta 730/19; VGH Mannheim 12.7.2018 – 4 S 1439/18; VG Düsseldorf 14.9.2021 – 2 L 1822/21). Davon geht nunmehr auch § 34 II S. 3 BeamtStG aus. Demgegenüber sind – wie § 34 II S. 4 BeamtStG zum Ausdruck bringt – religiös oder weltanschaulich konnotierte Merkmale des Erscheinungsbilds wegen Art. 4 I GG grundsätzlich hinzunehmen. Sie können gem. § 34 II S. 4 BeamtStG jedoch dann eingeschränkt oder untersagt werden, wenn sie objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin oder des Beamten zu beeinträchtigen, wobei gem. § 34 II S. 5 BeamtStG die Landesbeamtengesetze Einzelheiten regeln dürfen. Die Verhüllung des Gesichts bei der Ausübung des Dienstes oder bei einer Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbezug ist gem. § 34 II S. 6 BeamtStG stets unzulässig, es sei denn, dienstliche oder gesundheitliche Gründe erfordern dies.


Rolf Schmidt (02.07.2022)



22.01.2022: Zur Frage nach der Entschädigungspflicht des Staates bei coronabedingten Schließungsverfügungen

OLG Brandenburg 1.6.2021 – 2 U 13/21; LG Hannover 9.7.2020 – 8 O 2/20 (NJW-RR 2020, 1226); LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20; OLG Köln 20.9.2021 – 7 U 1/21 (NJW-RR 2021, 1536); OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21; VGH Mannheim 2.11.2021 – 1 S 2802/21 (NJW 2021, 3799)

A. Einführung
Die die gesamte Gesellschaft seit Anfang 2020 betreffende Corona-Pandemie hat schwerwiegende Folgen hinterlassen. Gerade vom ersten, am 22.3.2020 in Kraft getretenen Lockdown, der zur Schließung der meisten Betriebe des Einzelhandels, von Kinos, Theatern, Diskotheken, Restaurants und anderen (Freizeit-)Einrichtungen geführt hat, haben sich viele Betriebe bis heute nicht erholt. Die ausgezahlten Corona-Hilfen (v.a. die als Billigkeitszahlungen deklarierten staatlichen Überbrückungshilfen) stellen lediglich (aber immerhin) Zuschüsse zu den Fixkosten dar.

So wurden und werden erstattet:

    bis zu 100 Prozent der förderfähigen Fixkosten bei mehr als 70 Prozent Umsatzeinbruch
    bis zu 60 Prozent der förderfähigen Fixkosten bei 50 Prozent bis 70 Prozent Umsatzeinbruch
    bis zu 40 Prozent der förderfähigen Fixkosten bei mindestens 30 Prozent Umsatzeinbruch

(jeweils im Vergleich zum entsprechenden Monat des Jahres 2019).

(Quelle: ueberbrueckungshilfe-unternehmen.de/UBH/Redaktion/DE/Artikel/ueberbrueckungshilfe-iii-plus.html)

Da jedoch allein Zuschüsse zu den Fixkosten nicht genügen, um sämtliche Folgen von Betriebsschließungen zu kompensieren, ist der Frage nachzugehen, ob Betroffene aus staatshaftungsrechtlichen Gesichtspunkten weitergehende Entschädigungsansprüche haben.   

I. Übersicht
Werden durch staatliches Verhalten Rechtsgüter beeinträchtigt, stellt sich die Frage, ob sich daraus Schadensersatz-, Ausgleichs-, Wiederherstellungs- und/oder Unterlassungsansprüche ergeben. Diese Frage beantwortet das Recht der staatlichen Ersatzleistungen (auch als Staatshaftungsrecht bezeichnet). Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Staatshaftung ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, das sich in dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung kon­kreti­siert und in den Art. 1 III und 20 III GG positivrechtlich zum Ausdruck kommt. Eine umfassende unmittelbare Staatsunrechtshaftung wird von Verfassungs wegen allerdings nicht gefordert (BVerfG NVwZ 1998, 271, 272; BGH NJW 1998, 142). Gesetzlich bzw. richterrechtlich anerkannt sind aber (Auflistung nach R. Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 22. Aufl. 2020, Rn. 1061):

    Amtshaftungsanspruch wegen rechtswidrigen schuldhaften Verhaltens eines in Ausübung seines Amtes hoheitlich tätigen öffentlichen Bediensteten (Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB)
    Anspruch auf Entschädigung für rechtmäßige gezielte Eingriffe in das Eigentum (Enteignung), Art. 14 III GG i.V.m. den Regelungen des betreffenden Enteignungsgesetzes
    Anspruch auf Entschädigung für besondere Belastungen im Rahmen der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art. 14 I S. 2 GG (sog. ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung)Anspruch auf Entschädigung für rechtswidrige Beeinträchtigungen des Eigentums (sog. enteignungsgleicher Eingriff)
    Anspruch auf Entschädigung für enteignend wirkende Nebenfolgen rechtmäßigen Verwaltungshandelns (sog. enteignender Eingriff)
    Anspruch auf Entschädigung für Eingriffe in immaterielle Rechte (Aufopferungsanspruch i.e.S.)
    Allgemeiner öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch, der nach der wohl noch h.M. nicht auf Schadensersatz oder Entschädigung in Geld gerichtet ist, sondern auf die Beseitigung eines rechtswidrigen, wenn auch ursprünglich durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln hervorgerufenen Zustands und die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, des status quo ante in natura, ausgelegt ist
    Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch und öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch


II. Entschädigungsanspruch wegen ausgleichspflichtiger Inhalts- und Schrankenbestimmung?
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 I S. 1 GG ein elementares Grundrecht und von besonderer Bedeutung für das Individuum (vgl. nur BVerfG NJW 2017, 217, 221 – Atomausstieg). Andererseits beauftragt das Grundgesetz den Gesetzgeber, Inhalt und Schranken des Eigentums und des Erbrechts zu bestimmen (Art. 14 I S. 2 GG); zudem soll der Gebrauch der durch Art. 14 I S. 1 GG geschützten Eigentumsposition dem Wohl der Allgemeinheit dienen (Art. 14 II GG). Um verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein, müssen Inhalts- und Schrankenbestimmungen (ISB) zunächst durch Gesetz erfolgen (Art. 14 I S. 2 GG). Es besteht also ein zwingender Gesetzesvorbehalt. Der Gesetzgeber, der Inhalt und Schranken der als Eigentum grundrechtlich geschützten Rechtspositionen bestimmt, hat dabei sowohl der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 I S. 1 GG als auch der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 II GG) Rechnung zu tragen. Danach an sich verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmungen können sich gleich­wohl im konkreten Einzelfall als unverhältnismäßig erweisen. In einem solchen Fall kann unter bestimmten Voraussetzungen die Verfassungs­widrigkeit der betreffenden Maßnahme durch Gewährung einer Geldentschädigung abgewendet werden (ausgleichspflichtige ISB). Das Gesetz, das die Inhalts- und Schrankenbestimmung darstellt, muss selbst Regeln enthalten, die zunächst den Bestand des Eigentums sichern, d.h. den Eingriff vermeiden. Solche Regeln sind z.B. im Denkmalschutzrecht Ausnahmen oder Befreiungen. Die unverhältnismäßige Belastung muss so weit als möglich real vermieden werden. Nur wenn dies nicht möglich ist, darf als Ultima Ratio eine Entschädigungsregel vorgesehen und Ersatz in Geld geleistet werden. Fehlt eine Entschädigungsregel in einer Inhalts- und Schrankenbestimmung, die den Einzelnen unverhältnismäßig belastet und damit ausgleichspflichtig wird, ist das Gesetz verfassungswidrig. Der Betroffene erhält aber keine Entschädigung. Vielmehr muss er wie bei der Enteignung ohne Entschädigungsregel den beeinträchtigenden Hoheitsakt selbst anfechten. Der Sekundäranspruch auf Geldersatz steht dem Primäranspruch auf Abwehr der Maßnahme nach (Vorrang des Primärrechtsschutzes). So müsste man bei den zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) ergangenen staatlichen Schließungsmaßnahmen in Bezug auf Kinos, Theater, Diskotheken, Restaurants und andere (Freizeit-)Einrichtungen eine ISB annehmen, da nicht lediglich die Berufsausübung beeinträchtigt ist, sondern eine eigentumsbeeinträchtigende Existenzgefährdung und -vernichtung vorliegt. Das aber würde bedeuten, dass aufgrund der Intensität der Beeinträchtigung auch gesetzliche Entschädigungsregelungen pflichtig wären. Da die gesetzlichen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes (InfSchG), auf deren Grundlage die Maßnahmen ergingen, aber keine Ausgleichsregelungen enthalten, müsste man im Ergebnis eine verfassungswidrige ISB annehmen. Die Rechtsprechung hat das Fehlen von Entschädigungsregelungen jedoch nicht beanstandet und daher auch keine verfassungswidrige ISB angenommen. Soweit ersichtlich, behandelt sie die Entschädigungsfrage noch nicht einmal unter dem Gesichtspunkt der (ausgleichspflichtigen) ISB, sondern ausschließlich im Rahmen des enteignenden Eingriffs.

III. Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs?
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei dem enteignenden Eingriff um einen zwangsweisen staatlichen Zugriff auf das Eigentum, der den Betroffenen im Vergleich zu anderen entgegen dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz ungleich behandelt bzw. trifft und ihn zu einem besonderen Opfer für die Allgemeinheit zwingt, das er hinzunehmen hat (BGH NJW 2013, 1736 unter Verweis u.a. auf BGH JZ 1962, 609, 611.; vgl. auch LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 71 ff.). Im Vordergrund steht danach die Entschädigung aufgrund einer aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht hinzunehmenden atypischen und unvorhergesehenen eigentumsbeeinträchtigenden Nebenfolge eines rechtmäßigen hoheitlichen Verwaltungshandelns (vgl. etwa BGH NJW 2011, 3157, 3158 f.; BGH NJW 2013, 1736 f.; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 72; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 34). Der BGH leitet das Institut des enteignenden Eingriffs (wie das des enteignungsgleichen Eingriffs) aus Aufopferungsgewohnheitsrecht her, namentlich aus dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Aufopferungsgedanken der §§ 74, 75 der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts (EinlPrALR) vom 5.2.1794 in seiner richterrechtlich geformten Ausprägung (BGHZ 90, 17, 29 f.; 91, 20, 27 f.; 102, 350, 357; 111, 349, 352; 122, 76, 77; BGH JZ 1997, 557).

Hinsichtlich der Abgrenzung zwischen ausgleichspflichtigen ISB und dem enteignenden Eingriff kommt es also auf die Finalität der eigentumsbeeinträchtigenden Folge an: Während die ausgleichspflichtige ISB eine finale, d.h. zielgerichtete rechtmäßige Eigentumsbeeinträchtigung voraussetzt, kennzeichnet sich der enteignende Eingriff durch die atypische und unvorhergesehene eigentumsbeeinträchtigende Nebenfolge eines rechtmäßigen hoheitlichen Verwaltungshandelns. Daher müsste man die zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Co­rona-Virus“) ergangenen staatlichen Schließungsmaßnahmen dogmatisch korrekt im Rahmen der (ausgleichspflichtigen) ISB erörtern. Denn es handelt sich bei den Folgen der Schließungsmaßnahmen (in Bezug auf Kinos, Theater, Diskotheken, Restaurants und andere (Freizeit-)Einrichtungen) gerade nicht um lediglich atypische und unvorhergesehene eigentumsbeeinträchtigende Nebenfolgen; sie waren typisch und wurden vorhergesehen. Gleichwohl behandelt die Recht­sprechung die Problematik im Rahmen des enteignenden Eingriffs statt sie als (nicht) ausgleichspflichtige ISB anzusehen.

1. Anwendbarkeit und Rechtsnatur des Haftungsinstituts

Die Anwendbarkeit des enteignenden Eingriffs ist (wie die Anwendbarkeit des enteignungsgleichen Eingriffs) aber ausgeschlossen, soweit Spezialregelungen greifen, welche die gleiche Zielrichtung verfolgen. Das betrifft zunächst das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz (StrEG), das Ent­schädigungsansprüche gewährt. Weiterhin zu nennen sind § 52 Bundespolizeigesetz und insbesondere die Vorschriften der Landespolizeigesetze hinsichtlich der rechtmäßigen Inanspruchnahme von Nicht­störern (siehe etwa §§ 80 ff. NdsPOG). Das ist bspw. der Fall, wenn der durch einen rechtmäßigen Eingriff im polizeilichen Notstand in Anspruch Genommene ein Sonderopfer erbringt und dadurch einen gesetzlichen Entschädigungsanspruch (etwa nach § 80 I S. 1 NdsPOG) erlangt. Jedoch kann ein Entschädigungsanspruch nach den Grundsätzen des polizeilichen Notstands wiederum ausgeschlossen sein, wenn von einem Spezialgesetz (auch durch Nichtregelung) eine Sperr­wirkung ausgeht, etwa weil das Spezialgesetz die Ent­schädigungsfrage abschließend (nicht) regelt (vgl. BGH NJW 2011, 3157, 3158 f.; BGH NJW 2013, 1736 f.; BGH NJW 2017, 3384 f.; siehe auch OLG Brandenburg 1.6.2021 – 2 U 13/21; LG Hannover NJW-RR 2020, 1226; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 71 ff.; OLG Köln NJW-RR 2021, 1536, 1537; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 18 ff.; VGH Mannheim NJW 2021, 3799, 3800; Grefrath, NJW 2022, 215, 217). Ein solches Spezialgesetz ist z.B. das Infektionsschutzgesetz, das in seinen §§ 56 ff. Entschädigungsregelungen enthält.

Beispiel: K ist Betreiber eines Multiplex-Kinos. Zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) erging auf der Grundlage des InfSchG und der landesrechtlichen Corona-Eindämmungsverordnung eine Schließungsverfügung. Zwar erhielt K staatliche Überbrückungshilfen („Corona-Hilfen“) in Form von Zuschüssen zu den Fixkosten, jedoch genügte dies bei Weitem nicht, die Umsatzausfälle zu kompensieren. Er verlangte daher weitergehende staatliche Ausgleichszahlungen.

Da die staatlichen Schließungsanordnungen und die ihnen zugrunde liegenden Ermächtigungsgrundlagen des InfSchG als geeignet und erforderlich anzusehen sind, um die Pandemie einzudämmen und deren (tödliche) Folgen zu begrenzen, kommt es für die Frage nach der Rechtmäßigkeit darauf an, ob man sie auch für angemessen erachtet. Nimmt man dies (richtigerweise) an (siehe OVG Lüneburg 22.4.2020 – 13 MN 105/20 Rn. 8 ff.; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 78 ff.; OLG Köln NJW-RR 2021, 1536, 1537; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 18), ergibt sich ein Entschädigungsanspruch des K jedenfalls nicht aus Amtshaftung oder aus enteignungsgleichem Eingriff, da beide Haftungsinstitute an die Rechtswidrigkeit staatlichen Verhaltens anknüpfen. Die Entschädigungsregelungen der §§ 56 ff. InfSchG greifen tatbestandlich nicht; für eine analoge Anwendung fehlt die planwidrige Regelungslücke. Die Rechtsprechung weist diesbezüglich darauf hin, dass der Gesetzgeber bewusst nur bestimmte, und keine allgemeine Entschädigung wegen pandemiebedingter Ausfälle geregelt habe; gegen eine analoge Anwendung des Infektionsschutzgesetzes (besser: der Entschädigungsregelungen des Infektionsschutzgesetzes) sprächen schließlich die entsprechenden Hilfsprogramme des Bundes und der Länder, die Hilfen jenseits gesetzlicher Regelungen zum Gegenstand haben (ergänze: und ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich um Billigkeitsentschädigungen handele). Das belege, dass Bund und Länder bewusst davon abgesehen haben, insoweit gesetzliche Entschädigungstatbestände zu schaffen (LG Hannover NJW-RR 2020, 1226, 1227; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn 44 ff.; OLG Köln NJW-RR 2021, 1536, 1537; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn 18 ff.; OVG Lüneburg 3.9.2021 – 13 OB 321/21 Rn 15 ff.; VGH Mannheim NJW 2021, 3799, 3800). Ein Rückgriff auf die Entschädigungsregelungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist aufgrund der als abschließend zu betrachtenden speziellen Regelungen des InfSchG daher ausgeschlossen (LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn 70 ff.), sodass nach der Rechtsprechung der Anwendungsbereich des enteignenden Eingriffs eröffnet ist (siehe auch VGH Mannheim NJW 2021, 3799, 3800). Die Möglichkeit der ausgleichspflichtigen ISB wird – soweit ersichtlich – trotz der typischen und auch vorhergesehenen Nebenfolgen nicht aufgegriffen.

2. Voraussetzungen
Im Unterschied zum enteignungsgleichen Eingriff, bei dem der Eingriff auf einem rechtswidrigen hoheitlichen Handeln basiert, stützt sich der enteignende Eingriff auf eine an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahme, die bei dem Betroffenen unmittelbar zu Nachteilen führt, die er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen hinnehmen muss, die aber die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren übersteigen (BGH NJW 2013, 1736 f.; BGH NJW 2005, 1363; BGHZ 158, 263, 267; 100, 335, 3379). Meist (aber nicht zwingend) geht es (wie aufgezeigt) um eine unbeabsichtigte atypische und unvorhergesehene Nebenfolge eines an sich rechtmäßigen hoheitlichen Handelns (BGH NJW 2013, 1736 f.; NJW 1986, 2423, 2424). Der entscheidende Unterschied zum enteignungsgleichen Eingriff besteht mithin in der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Die Abgrenzung zur ausgleichspflichtigen ISB wird anhand der atypischen und unvorhergesehenen Nebenfolgen der Maßnahme determiniert.

So werden hinsichtlich der zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) auf der Grundlage des InfSchG und der landesrechtlichen Corona-Eindämmungsverordnungen ergangenen Schließungsverfügungen auch von der Rechtsprechung die Merkmale des enteignenden Eingriffs definiert. Die erforderliche atypische und unvorhergesehene Nebenfolge wird aber nicht zum Gegenstand einer Subsumtion gemacht. Stattdessen wird schlicht das Sonderopfer verneint (vgl. etwa OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21). Hätte man dogmatisch korrekt die Schließungsverfügungen am Maßstab der ausgleichspflichtigen ISB geprüft (da die Folgen nicht atypisch waren und sie auch vorhergesehen wurden), wäre es auf das „Sonderopfer“ nicht angekommen.

Ein Sonderopfer ist dann anzunehmen, wenn ein Eingriff in eine eigentumsrechtlich geschützte Rechtsposition des Betroffenen vorliegt, durch den der Betroffene unverhältnismäßig oder im Verhältnis zu anderen ungleich betroffen wird, und er mit einem besonderen, den übrigen nicht zugemuteten Opfer für die Allgemeinheit belastet wird (LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 80 mit Verweis auf BGHZ 121, 328 Rn 12; 197, 43 Rn. 8; siehe auch OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 34, das allein darauf abstellt, ob die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überstiegen wurde).

Ob eine hoheitliche Maßnahme die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überschreitet und damit ein Sonderopfer begründet oder sich noch als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums begreifen lässt, kann nur aufgrund einer umfassenden Beurteilung der Umstände des Einzelfalls entschieden werden (BGH NJW 2013, 1736 f. mit Verweis auf BGH VersR 1988, 1022, 1023). Mit der Formulierung: „er mit einem besonderen, den übrigen nicht zugemuteten Opfer für die Allgemeinheit belastet wird“ macht die Rechtsprechung deutlich, dass kein Entschädigungsanspruch be­steht, wenn ein (sehr) weiter Personenkreis von der Maßnahme betroffen ist (LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 81; siehe aber auch OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 34, das allein darauf abstellt, ob die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überstiegen wurde; von einem „Vergleich zu anderen“ ist im Urteil nicht die Rede). Frei­lich kann das nicht unwidersprochen bleiben. Denn für den Einzelnen wird die Belastung ja nicht dadurch milder, dass auch viele andere mitunter existenzgefährdend belastet sind. Damit wird aber zugleich die Frage nach der Reichweite des Staatshaftungsrechts eröffnet, d.h., ob der Staat auch dann zur Entschädigung verpflichtet ist, wenn nicht nur Einzelne betroffen sind, sondern ein größerer Kreis betroffen ist (es also an der das Sonderopfer kennzeichnenden Vergleichsgruppe fehlt).

Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung ergibt sich für das obige Beispiel, dass K nicht individuell belastet war. Sämtliche Betreiber von Kinos, Theatern, Diskotheken, Restaurants und anderen (Freizeit-)Einrichtungen waren gleichermaßen von den Schließungsanordnungen betroffen. Daher liegt kein „individuelles“, sondern ein „generelles“ Sonderopfer vor, das nach der Rechtsprechung (wohl) nicht zu einem Entschädigungsanspruch nach den Grundsätzen des enteignenden Eingriffs führt. Ob dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der staatlich (und nicht von K) verursachten existenzgefährdenden Situation Bestand haben kann, ist unklar. Kritisiert man die Rechtsprechung (so z.B. Grefrath, NJW 2022, 215 ff.), muss man aber auch die weiteren Folgen bedenken, die höchstwahrscheinlich eingetreten wären, wenn der bundesweite Lockdown im Frühjahr 2020 nicht angeordnet worden wäre. Es muss nämlich davon ausgegangen werden, dass dann gerade wegen der vorherrschenden Delta-Variante weite Teile der Bevölkerung schwer erkrankt wären und nicht hätten medizinisch versorgt werden können mit der Folge unzähliger Todesfälle. Spätestens dann wären die Gäste ebenfalls ausgeblieben und K wäre (wenn er denn selbst überlebt hätte) – ganz ohne staatliche Schließungsverfügung – existenzgefährdend betroffen gewesen.

B. Fazit
Der Anspruch auf Aufopferungsentschädigung wegen enteignenden Eingriffs nach §§ 74, 75 EinlPrALR in ihrer richterrechtlichen Ausprägung kommt in Betracht aufgrund einer aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht hinzunehmenden atypischen und unvorhergesehenen eigentumsbeeinträchtigenden Nebenfolge eines rechtmäßigen hoheitlichen Verwaltungshandelns. Jedoch ist zu beachten, dass das Institut der Aufopferungsentschädigung wegen enteignenden Eingriffs ausscheidet, wenn spezielle Regelungen eine Entschädigung vorsehen bzw. ausdrücklich verneinen. Entschädigungsansprüche können nach dem Infektionsschutzgesetz oder nach dem Landespolizeigesetz (etwa nach § 80 I S. 1 NdsPOG) gewährt werden. Die Entschädigungsregelungen der §§ 56 ff. InfSchG greifen tatbestandlich nicht; für eine analoge Anwendung fehlt die planwidrige Regelungslücke; ein Rückgriff auf die Entschädigungsregelungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist aufgrund der als abschließend zu betrachtenden speziellen Regelungen des InfSchG ausgeschlossen. Daher ist der Weg zur Aufopferungsentschädigung wegen enteignenden Eingriffs nicht von vornherein versperrt. Für eine Entschädigung kommt es daher auf das Vorliegen der Voraussetzungen an: Da von den Schließungen Betroffene für die SARS-CoV-2-Epidemie nicht verantwortlich waren, sie aber gleichwohl ihre Kinos, Theater, Diskotheken, Restaurants und anderen (Freizeit-)Einrichtungen schließen mussten, könnten sie einen Entschädigungsanspruch nach den Grundsätzen des enteignenden Eingriffs haben. Jedoch verneint die Rechtsprechung das Sonderopfer. Das aber überzeugt nicht. Denn für den Einzelnen wird die Belastung ja nicht dadurch milder, dass auch viele andere mitunter existenzgefährdend belastet sind. Gleichwohl ist der Rechtsprechung im Ergebnis (nicht aber mit ihrer Begründung) zu folgen. Denn ohne Schließungsanordnungen wäre es viel schlimmer gekommen; weite Teile der Bevölkerung wären schwer erkrankt oder sogar an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Gäste wären also so oder so ausgeblieben.    

Rolf Schmidt (22.01.2022)



01.01.2022: Kaufrechtsreform 2022 (Änderungen im Kaufrecht und im Verbraucherschutzrecht)

A. Einführung

I. Übersicht
Das vornehmlich durch das EU-Recht vorangetriebene Verbraucherschutzrecht ist mittlerweile zu einem der Grundprinzipien des Zivilrechts erwachsen. Zahlreiche EU-Verordnungen und v.a. EU-Richtlinien haben zu weit reichenden Änderungen (auch) des BGB geführt und prägen dieses heute maßgeblich.

    So wurde insbesondere das Schuldrecht zunächst im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung 2001/2002 umfassend neugestaltet, um die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie der EU (RL 1999/44/EG – VGKRL) in nationales Recht umzusetzen (wie noch aufzuzeigen sein wird, ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie mit Wirkung zum 1.1.2022 durch die Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 ersetzt worden).
    Mit Wirkung zum 13.6.2014 ist das Verbraucherschutzrecht in Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU (VRRL) sodann erneut umfangreich geändert worden.
    Die jüngsten größeren Novellen des Verbraucherschutzrechts sind zunächst der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie) geschuldet, was mit Wirkung zum 1.1.2022 u.a. zur Änderung der §§ 434 ff. BGB führte.
    Hinzu tritt die Richtlinie (EU) 2019/770 (Digitale-Inhalte-Richtlinie), was mit Wirkung zum 1.1.2022 u.a. zur Einfügung der §§ 327 ff. BGB führte.
    Weiterhin ist die Richtlinie (EU) 2019/2161 („Online-Marktplätze-Richtlinie“) zu nennen, die mit Wirkung zum 28.5.2022 die Einfügung eines § 312k BGB (Allgemeine Informationspflichten für Betreiber von Online-Marktplätzen) bewirkte.
    Schließlich ist die durch das Gesetz für faire Verbraucherverträge v. 10.8.2021 (BGBl I, S. 3433) zum 1.7.2022 wirksam werdende erneute Gesetzesänderung zu nennen, wonach § 312k BGB zu § 312l BGB wird und zu Änderungen u.a. der §§ 312 ff., des § 356 BGB und der §§ 357 ff. BGB geführt hat.

In erster Linie geht es bei allen Bestimmungen um Verbraucherschutzrecht. Während gemäß der BGB-Terminologie ein Verbrauchervertrag vorliegt, wenn der Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher geschlossen wird (§ 310 III BGB), handelt es sich bei einem Verbrauchsgüterkaufvertrag um einem Kaufvertrag über eine neue oder gebrauchte Ware (§ 241a I BGB) (worunter auch ein Tier fällt, vgl. § 90a S. 3 BGB), bei dem auf Verkäuferseite ein Unternehmer und auf Käuferseite ein Verbraucher steht (§ 474 I S. 1 BGB).

Während die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einen Mindestschutz gewährte (d.h. eine Mindestharmonisierung bewirkte – so gestattete Art. 8 II Richtlinie 1999/44/EG den Mitgliedstaaten, strengere Bestimmungen zur Gewährleistung eines höheren Schutzniveaus für den Verbraucher im Vergleich zur Richtlinie zu erlassen oder aufrechtzuerhalten), ordnet die Verbraucherrechterichtlinie – die im Übrigen nicht auf den Verbrauchsgüterkauf beschränkt ist – weitgehend eine Vollharmonisierung auf EU-Ebene insbesondere im Fernabsatzrecht und bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen an (siehe Erwägungsgründe 2, 4, 5, 7 und 9 sowie Art. 4 der Richtlinie 2011/83/EU), da zuvor die nationalen Rechtsordnungen trotz der durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie erfolgten Mindestharmonisierung zum Teil erheblich voneinander abwichen und der EU-Gesetzgeber – wie noch aufzuzeigen sein wird – den Verbraucherschutz über den Bereich des Verbrauchsgüterkaufs ausweiten wollte. Vollharmonisierung bedeutet, dass nationale Gesetzgeber keine abweichenden Vorschriften erlassen und auch keine zusätzlichen Rechte und Pflichten einführen dürfen. Das nimmt den EU-Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der vollharmonisierenden Regelungen der Verbraucherrechterichtlinie jegliche Gestaltungsmöglichkeit und stellt somit einen besonders starken Eingriff in deren Regelungskompetenz dar, lässt sich also nur durch überragend wichtige Belange rechtfertigen. Ziel der Richtlinie 2011/83/EU (und deren Umsetzung) ist der Formulierung der amtlichen Begründung zufolge, zu einem hohen Verbraucherschutzniveau und zum besseren Funktionieren des Binnenmarktes für Geschäfte zwischen Unternehmen und Verbrauchern beizutragen. Ferner soll die Richtlinie dazu dienen, Unstimmigkeiten im zivilrechtlichen Verbraucherschutz zu beseitigen und Regelungslücken zu schließen (BT-Drs. 17/12637, S. 1). Leider ist das Ziel, „Unstimmigkeiten zu beseitigen und Regelungslücken zu schließen“, m.E. nicht gänzlich gelungen. So überzeugt es nicht, dass der Gesetzgeber das Verbot der Verwendung von kostenpflichtigen Servicenummern, d.h. teurer Hotlines (§ 312a V BGB), vom Anwendungsbereich (siehe § 312 II BGB) ausgenommen hat. In Bezug auf Pauschalreisen hat der Gesetzgeber aber inzwischen nachgebessert und § 312 VII BGB eingefügt (BGBl I 2017, S. 2394). Der deutsche Gesetzgeber ist dem durch Schaffung eines neuen Verbraucherschutzrechts nachgekommen. Nachdem das Gesetz in der seit 13.6.2014 geltenden Fassung in §§ 312, 312a BGB zunächst die Grundsätze bei Verbraucherverträgen und besonderen Vertriebsformen regelt und den Anwendungsbereich der Vorschriften über Verbraucherverträge normiert, unterteilt es anschließend die Verbraucherverträge in zwei Schutzkategorien:

    Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge (§§ 312b-312h BGB)
    Verträge im elektronischen Geschäftsverkehr (§§ 312i-312j BGB)

Bestimmungen über (unzulässige) abweichende Vereinbarungen und die Beweislast folgen in § 312m BGB (Nummerierung basiert auf der durch das Gesetz für faire Verbraucherverträge v. 10.8.2021 (BGBl I, S. 3433) zum 1.7.2022 wirksam werdenden erneuten Gesetzesänderung, wonach § 312k BGB zu § 312l BGB und § 312l BGB zu § 312m BGB wird). Hinsichtlich der Rechtsfolgen nach ausgeübtem Widerrufsrecht beinhalten die §§ 355 ff. BGB neue Regelungen.

II. Warenkaufrichtlinie
Mit Wirkung zum 1.1.2022 ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie durch die bereits erwähnte Richtlinie (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie – WKRL) ersetzt worden. Zweck der Warenkaufrichtlinie ist es, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des (digitalen) Binnenmarkts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen (siehe Art. 1 WKRL i.V.m. den Erwägungsgründen 1 und 3), was abermals zu einer größeren Umstrukturierung im BGB sowie zu einer Neuorientierung von weiten Gebieten des Verbrauchsgüterkaufrechts geführt hat. Die Warenkaufrichtlinie soll gemäß ihren Erwägungsgründen 1-8 einen harmonisierten Binnenmarkt zugunsten der Verbraucher und der Unternehmer unterstützen und die Beseitigung der größten Hindernisse für die Entwicklung des grenzüberschreitenden Handels in der Union erreichen. Da der grenzüberschreitende Binnenmarkt ein großes Anwendungsfeld im Online-Handel hat, dürfte die Relevanz der Warenkaufrichtlinie überaus deutlich sein. Der Anwendungsbereich betrifft (wie derjenige der Verbraucherrechterichtlinie, die durch die Warenkaufrichtlinie ergänzt wird, siehe Erwägungsgrund 11 der WKRL) ausschließlich Verbrauchergeschäfte (Art. 3 I WKRL). Im Kern enthält die Warenkaufrichtlinie neue – und gem. Art. 4 WKRL i.V.m. den Erwägungsgründen 10, 25, 42, 47, 62 und 70 vollharmonisierende – Vorschriften über

    bestimmte Anforderungen an Kaufverträge zwischen Verkäufern und Verbrauchern,
        insbesondere neue Vorschriften über die Vertragsmäßigkeit der Waren (Stichwort: „Mangelbegriff“) – auch bei Waren mit digitalen Inhalten –,
        Abhilfen im Falle einer Vertragswidrigkeit (Stichwort: „Mängelrechte“),
        Modalitäten für die Inanspruchnahme dieser Abhilfen („Ausführungsbestimmungen“ bei der Ausübung von Mängelrechten)
        sowie über gewerbliche Garantien.
    Eine ebenfalls gravierende Änderung zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ist die Verlängerung der Beweislastumkehr (Siehe dazu R. Schmidt, BGB AT, 18. Aufl. 2019, Rn 66). Deren Zeitraum beträgt gem. Art. 11 I WKRL ein Jahr ab Zeitpunkt der Lieferung (bislang: 6 Monate). Abweichende Regelungen der Mitgliedstaaten sind nicht zulässig.

Die Warenkaufrichtlinie war gem. Art. 24 I WKRL bis zum 1.7.2021 von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen; diese wenden die Warenkaufrichtlinie seit dem 1.1.2022 an. Die Warenkaufrichtlinie gilt gem. Art. 24 II WKRL keinesfalls für vor dem 1.1.2022 geschlossene Verträge. Das deutsche Umsetzungsgesetz bestimmt die Geltung für Kaufverträge, die ab dem 1.1.2022 geschlossen werden (Art. 3 des G. v. 25.6.2021, BGBl I 2021, S. 2133).

III. Digitale-Inhalte-Richtlinie
Neben die soeben genannte Warenkaufrichtlinie tritt die ebenfalls bereits erwähnte Richtlinie (EU) 2019/770 (Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen – DIRL), die gemeinsame Vorschriften für bestimmte Anforderungen an Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen festlegt und in ihren Kernbereichen (wie die Warenkaufrichtlinie) eine weit reichende Vollharmonisierung vorsieht. Das betrifft die Vorschriften über

    die Vertragsmäßigkeit digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen,
    Abhilfen im Fall ihrer Vertragswidrigkeit oder nicht erfolgten Bereitstellung, und die Art und Weise der Inanspruchnahme dieser Abhilfen,
    sowie die Änderung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen.

Verbraucherschützende Bestimmungen hinsichtlich digitaler Inhalte und Dienstleistungen sind damit europaweit weitgehend vereinheitlicht; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 4 DIRL i.V.m. Erwägungsgrund 11). Lediglich einzelne Materien wie die Verjährungsregelung sind einer abweichenden Regelung zugänglich (siehe Erwägungsgrund 58).

IV. „Online-Marktplätze-Richtlinie“
Schließlich ist die Richtlinie (EU) 2019/2161 („Online-Marktplätze-Richtlinie“) zu nennen, die u.a. zur Änderung der §§ 312 ff. und §§ 357 ff. BGB geführt hat. Betreiber von Online-Marktplätzen (Amazon, eBay etc.) sind danach u.a. verpflichtet, hinsichtlich Verträge über Waren, Dienstleistungen und digitale Produkte vor Vertragsschluss den Verbraucher über wesentliche Umstände, die dessen Kaufentscheidung beeinflussen können, aufzuklären (siehe § 312k BGB – siehe aber auch die durch das Gesetz für faire Verbraucherverträge v. 10.8.2021 (BGBl I, S. 3433) zum 1.7.2022 wirksam werdende erneute Gesetzesänderung, wonach § 312k BGB zu § 312l BGB wird). Hinsichtlich der Kosten nach ausgeübtem Widerrufsrecht sieht § 357 V-VIII BGB eine weitgehende Entlastung des Verbrauchers vor. Eine Wertersatzpflicht regelt § 357a BGB.

V. Fazit
Die Verbraucherrechterichtlinie, die Warenkaufrichtlinie, die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen sowie die „Online-Marktplätze-Richtlinie“ weisen einen hohen Harmonisierungsgrad auf; sie enthalten in ihren Kernbereichen zahlreiche vollharmonisierende Regelungen, lassen – soweit sie Abweichungsmöglichkeiten zulassen – den Mitgliedstaaten Spielräume bei der Umsetzung lediglich in Randbereichen und gewähren insofern einen Mindestschutz. Die Mitgliedstaaten haben bei der Umsetzung – bis auf wenige Ausnahmen – also keinen Spielraum; jede Abweichung ist – grundsätzlich – richtlinienwidrig und zwingt in der Rechtsanwendung zu einer richtlinienkonformen Auslegung bzw. einer richtlinienkonformen richterlichen Rechtsfortbildung, sofern der Wortlaut einer entgegenstehenden nationalen Vorschrift nicht auslegbar ist.
 
B. Neuregelung des Sachmangelbegriffs infolge der Warenkaufrichtlinie
Ist die Sache mangelhaft, gewährt § 437 BGB dem Käufer folgende Rechte, soweit die jeweiligen Voraussetzungen vorliegen und sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt:
  1. Der Käufer kann nach § 439 BGB Nacherfüllung (in den Varianten der Mangelbeseitigung und der Lieferung einer mangelfreien Sache – § 439 I BGB) verlangen.
  2. Der Käufer kann nach den §§ 440, 323 und 326 V BGB vom Vertrag zurücktreten oder nach § 441 BGB den Kaufpreis mindern.
  3. Der Käufer kann nach den §§ 440, 280, 281, 283 und 311a BGB Schadensersatz oder nach § 284 BGB Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen.
Die Aufzählung darf aber nicht insoweit verstanden werden, als seien die Rechte vom Käufer frei wählbar. Aus §§ 323 I i.V.m. 440 BGB ergibt sich vielmehr, dass der Käufer – jedenfalls im Grundsatz – zunächst dem Verkäufer Gelegenheit geben muss, nachzuerfüllen, bevor er den Kaufpreis mindern, vom Vertrag zurücktreten oder Schadensersatz statt der Leistung fordern kann. Der Schadensersatz neben der Leistung ist hingegen stets denkbar und hängt nicht von einer (gescheiterten oder ausgeschlossenen) Nacherfüllung ab. Allen Mängelrechten ist aber gemeinsam, dass sie einen Sachmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs voraussetzen (siehe § 434 I BGB).

I. Begriff des Sachmangels (§ 434 BGB)
Eine zum Rücktritt berechtigende Schlechtleistung kann insbesondere bei einer mangelhaften Kaufsache gegeben sein. Ob das der Fall ist, richtet sich nach § 434 BGB. Gemäß § 434 I BGB ist die Sache (nur) dann frei von Sachmängeln („Fehlern“), wenn sie bei Gefahrübergang (darunter ist grds. der Zeitpunkt der Übergabe gem. § 446 S. 1 BGB zu verstehen; zur abweichenden Rechtslage beim Versendungskauf (§ 447 BGB) vgl. R. Schmidt, SchuldR AT, Rn 75 ff.) den subjektiven Anforderungen (§ 434 II BGB), den objektiven Anforderungen (§ 434 III BGB) sowie den Montageanforderungen (§ 434 IV BGB) entspricht. Damit nennt § 434 I BGB also drei Fallgruppen bzw. Kriterien, die kumulativ vorliegen müssen, damit die Mangelfreiheit angenommen werden kann. Fehlt es auch nur an einer dieser Voraussetzungen, liegt Mangelhaftigkeit vor, wobei es gem. § 434 V BGB dem Sachmangel gleichsteht, wenn der Verkäufer eine andere Sache als die vertraglich geschuldete liefert – Falschlieferung, auch Aliud-Lieferung genannt („Äpfel bestellt, Birnen erhalten“). Das Gesetz geht somit zunächst von einer Mangelhaftigkeit der Sache aus und verlangt die Erfüllung von Positiv-Voraussetzungen, damit Mangelfreiheit angenommen werden kann.

1. Beschaffenheitsvereinbarung (§ 434 II S. 1 Nr. 1 BGB)
Nach § 434 I, II S. 1 Nr. 1 BGB ist die Sache nur dann frei von Sachmängeln („Fehlern“), wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. Während unter „Gefahrübergang“ der Zeitpunkt der Übergabe gem. § 446 S. 1 BGB (oder davor der des Annahmeverzugs, § 446 S. 3 BGB) zu verstehen ist, bedeutet Beschaffenheitsvereinbarung die auf Vorstellungen der Parteien beruhende (ausdrückliche oder konkludente) Vereinbarung über Merkmale, die der Sache selbst anhaften. Weicht die objektive Beschaffenheit (die Ist-Beschaffenheit) von der vereinbarten (der Soll-Beschaffenheit) ab, liegt ein Sachmangel vor (= subjektiver Fehlerbegriff).

Beispiel: Verkäufer V teilt auf Nachfrage des Käufers K mit, dass der Wagen scheckheftgepflegt sei. Daraufhin willigt K in das Vertragsangebot des V ein. V übergibt und übereignet den Wagen gegen Bezahlung. Später stellt sich im Rahmen eines Werkstattaufenthalts heraus, dass der Wagen schon seit Jahren nicht mehr gewartet wurde und das Scheckheft nachträglich erstellt wurde.

V und K haben eine Beschaffenheitsvereinbarung getroffen. Diese lautet: „scheckheftgepflegt“. Da der Wagen tatsächlich nicht über diese Beschaffenheit verfügt, liegt eine auf § 434 II S. 1 Nr. 1 BGB zu stützende Abweichung der Ist-Beschaffenheit von der vereinbarten Soll-Beschaffenheit vor. K stehen Mängelrechte nach § 437 BGB zu. Da die Pflichtverletzung mehr als nur unerheblich (siehe § 323 V S. 2 BGB) ist, berechtigt sie zum Rücktritt (§§ 437 Nr. 2 Var. 1, 440, 323, 346 BGB); anderenfalls steht dem Käufer immerhin das Minderungsrecht (§§ 437 Nr. 2 Var. 2, 441 BGB) zu.


Weitere Beispiele von Eigenschaften/Beschaffenheitsvereinbarungen bei Kfz:
  • unfallfrei
  • „TÜV“ (HU) neu
  • bestimmter Motor/bestimmte Motorleistung (Messtoleranz 1%)
  • bestimmte Farbe
  • bestimmte Laufleistung (km-Stand)
  • Kraftstoffverbrauch liegt nicht wesentlich über Werksangabe (3-5% Abweichung ist aber noch tolerabel)
  • Emissionen entsprechen gesetzlichen Vorschriften
  • Erreichen der angegebenen Höchstgeschwindigkeit
Wie der Gesetzgeber in § 434 II S. 2 BGB formuliert, gehören zu der Beschaffenheit nach Nr. 1 Art, Menge, Qualität, Funktionalität, Kompatibilität, Interoperabilität und sonstige Merkmale der Sache, für die die Parteien Anforderungen vereinbart haben. Damit hat also der Gesetzgeber Beschaffenheitskriterien aufgestellt, die – soweit sie vereinbart wurden, jedoch nicht vorliegen – zu einem Sachmangel führen.

Beispiele:
(1)    Wurden statt der bestellten Winterreifen (d.h. statt mit einem Schneeflocke-Symbol versehenen Reifen) lediglich M+S-Reifen geliefert, liegt gem. § 434 II S. 1 Nr. 1, S. 2 BGB (hier: sonstige Merkmale der Sache, für die die Parteien Anforderungen vereinbart haben) ein Sachmangel vor, auch wenn die gelieferten M+S-Reifen an sich tadellos sind (Anm.: Je nach Sachverhalt denkbar wäre auch die Annahme der Nichteignung für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung nach § 434 II S. 1 Nr. 2 BGB, der Nichteignung für gewöhnliche Verwendung nach § 434 III S. 1 Nr. 1 BGB und einer Falschlieferung nach § 434 V BGB).

(2)    Gleiches gilt, wenn statt der bestellten vier Autoreifen lediglich drei geliefert werden (§ 434 II S. 1 Nr. 1, S. 2 BGB – hier: Menge), auch wenn die drei gelieferten Reifen tadellos sind. Die Zuweniglieferung wird nach der aktuellen Gesetzesfassung als Sachmangel angesehen und nicht lediglich – wie nach der früheren Gesetzesfassung (§ 434 III BGB a.F.) – einem Sachmangel gleichgestellt. Zwar vermag das nicht zu überzeugen (denn die Menge ist streng genommen keine Beschaffenheit), ist aber der Umsetzung der zwingenden Regelung des Art. 6 lit. a WKRL (Richtlinie (EU) 2019/771 – umgesetzt mit Wirkung zum 1.1.2022 durch das Gesetz zur Regelung des Verkaufs von Sachen mit digitalen Elementen und anderer Aspekte des Kaufvertrags v. 25.6.2021 (BGBl I 2021, S. 2133) geschuldet. Keinesfalls überzeugt aber die unterschiedliche Behandlung der Falschlieferung („Äpfel bestellt, Birnen erhalten“), bei der der Gesetzgeber mit § 434 V BGB zu Recht bestimmt, dass diese lediglich einem Sachmangel gleichsteht (aber keinen Sachmangel darstellt). Zudem ist die unterschiedliche Regelung im Vergleich zu § 633 II S. 3 BGB, der nicht angepasst wurde, sachlich nicht gerechtfertigt.

 
2. Nichteignung für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung (§ 434 II S. 1 Nr. 2 BGB)
Des Weiteren ist gem. § 434 II S. 1 Nr. 2 BGB die Sache mangelhaft, wenn sie sich nicht für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet. Es geht also nicht um eine vertraglich vereinbarte Eignung für eine bestimmte Verwendung (sonst läge schon ein Fall des § 434 II S. 1 Nr. 1 BGB vor), sondern um eine Eignung für eine bestimmte Verwendung, die lediglich nach dem Vertrag vorausgesetzt wurde, die sozusagen Grundlage des Vertrags war (vgl. BGH NJW 2019, 1937, 1938; BGH NJW 2017, 2817, 2818 zur insoweit nicht abweichenden bisherigen Regelung). Bei der Ermittlung dieser Verwendung (des Verwendungszwecks) sind nach dem BGH neben dem Vertragsinhalt die Gesamtumstände des Vertragsabschlusses heranzuziehen (BGH NJW 2019, 1937, 1938; BGH NJW-RR 2018, 822, 823 f.).

Beispiel: Verkäufer V und Käufer K schließen einen Kaufvertrag über ein Hausgrundstück. Nachdem K in das Haus eingezogen war, bemerkte er insbesondere im Wohnzimmer feuchte Stellen. Diese waren bei der Besichtigung des Gebäudes nicht zu erkennen gewesen. Es stellt sich heraus, dass das Gebäude im Boden- und Sockelaufbau so feucht ist, dass man es nicht bzw. nur eingeschränkt bewohnen kann.

Hier haben die Parteien keine Beschaffenheitsvereinbarung getroffen. Da es sich bei dem Vertragsgegenstand aber um ein mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück handelt, eignet sich der Vertragsgegenstand nicht für die vertraglich vorausgesetzte Verwendung. Denn ein Wohnhaus dient dem Wohnen, was im vorliegenden Fall nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Daher liegt eine auf § 434 II S. 1 Nr. 2 BGB zu stützende Abweichung der Ist-Beschaffenheit von der Soll-Beschaffenheit vor.

Anm.: Sollte anhand des Sachverhalts nicht zweifelsfrei festgestellt werden können, ob sich die Mangelfreiheit auf § 434 II S. 1 Nr. 2 BGB stützen lässt, ist zu prüfen, ob die Mangelfreiheit nach § 434 III Nr. 1 BGB oder nach § 434 III Nr. 2a) BGB angenommen werden kann.


3. Fehlen von vereinbartem Zubehör und den vereinbarten Anleitungen, einschl. Montage- und Installationsanleitungen (§ 434 II S. 1 Nr. 3 BGB)
Schließlich führt das Fehlen von vereinbartem Zubehör und den vereinbarten Anleitungen, einschließlich Montage- und Installationsanleitungen, zum Vorliegen eines Sachmangels unter dem Aspekt der subjektiven Anforderungen. Es muss also eine vertraglich vereinbarte Pflicht des Verkäufers bestehen, bestimmtes, i.d.R. zum bestimmungsgemäßen Gebrauch der Kaufsache erforderliches Zubehör und/oder (bei Gegenständen, die z.B. zwecks Transports in Einzelteilen oder Baugruppen geliefert werden und zur Montage bzw. Installation durch den Käufer vorgesehen sind) bestimmte Anleitungen mitzuliefern. Selbstverständlich müssen vereinbarte Anleitungen auch so beschaffen sein, dass sie der Durchschnittskäufer versteht und sie sich auch auf den konkret gekauften Gegenstand beziehen (siehe Weidenkaff, in: Grüneberg, 81. Aufl. 2022, § 434 Rn 23).

Beispiel: V und K schlossen im Versandhandel einen Kaufvertrag über eine Kamera-Drohne. In der Produktbeschreibung heißt es, dass sämtliches Montagezubehör ebenso zum Lieferumfang gehöre wie eine Montageanleitung. Nach Erhalt und Öffnen des Pakets bemerkte K das Fehlen des Montagewerkzeugs; zudem ist die Montageanleitung derart schlecht ins Deutsche übersetzt, dass sie unverständlich ist.

Da laut Produktbeschreibung auch Montagematerial im Lieferumfang enthalten ist und dieses fehlte, liegt ein Sachmangel gem. § 434 II S. 1 Nr. 3 BGB vor. Ebenso liegt ein Sachmangel gem. § 434 II S. 1 Nr. 3 BGB bezüglich der Montageanleitung vor. Zwar war eine solche vorhanden, jedoch war sie derart schlecht ins Deutsche übersetzt, dass sie von einem Durchschnittskäufer nicht zu verstehen war.


4. Keine Eignung für gewöhnliche Verwendung (§ 434 III S. 1 Nr. 1 BGB)
§ 434 III BGB beschreibt objektive Anforderungen an die Mangelfreiheit, die jedoch nur dann gelten, wenn sie nicht durch abweichende Vereinbarungen ausgeschlossen wurden. Der Ausschluss kann insbesondere durch eine negative Beschaffenheitsvereinbarung erfolgen. Fehlt es aber an einer wirksamen anderweitigen Vereinbarung, ist zunächst gem. § 434 III S. 1 Nr. 1 BGB die Sache mangelhaft, wenn sie sich nicht für die gewöhnliche Verwendung eignet. Die Begriffe „Eignung“ und „gewöhnliche Verwendung“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die Raum zur (tatrichterlichen) Interpretation geben, was im Einzelfall zu einer Rechtsunsicherheit führen kann. Daher ist eine objektivierte Betrachtungsweise angezeigt, damit eine „überzogene Käufererwartung“ im Einzelfall keinen Sachmangel begründen kann. Abzustellen ist mithin auf die Erwartungen des objektiven Verkehrskreises, dem der Käufer angehört. Die Sache muss bei einem Vergleich mit anderen Stücken der Gattung eine vergleichbare Verwendung ermöglichen. Daher begründet z.B. ein Fehler bei der Produktion die Mangelhaftigkeit, da eine Abweichung von den gattungsspezifischen Merkmalen vorliegt. So liegt im „Dieselabgasskandal“ bei den betroffenen Fahrzeugen, bei denen eine Software (Abschalteinrichtung) installiert wurde, die die zulässigen Grenzwerte lediglich auf dem Prüfstand gewährleistet, nach dem BGH keine „Eignung zur gewöhnlichen Verwendung“ vor, da u.a. die Gefahr einer Betriebsuntersagung bestehe.

Beispiel: K kaufte im Autohaus des V einen Neuwagen, der mit einem Dieselmotor ausgestattet ist. Das Fahrzeug ist mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen, die den Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert (Fall nach BGH NJW 2019, 1133; vgl. auch BGH NJW 2020, 2796).

Der BGH meint, dass vom Vorliegen eines Sachmangels nach § 434 I S. 2 Nr. 2 BGB (a.F., siehe nunmehr § 434 III S. 1 Nr. 1 BGB) auszugehen sein dürfte, weil die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde bestehe und es damit an der Eignung der Sache für die gewöhnliche Verwendung (Nutzung im Straßenverkehr) fehlen dürfte. Das ist zweifelhaft. Zum einen ist unklar, wie der Begriff der Gattung zu verstehen ist (alle Dieselfahrzeuge einer bestimmten Abgasnorm oder alle Dieselfahrzeuge eines bestimmten Herstellers und Typs?), und zum anderen ist ebenfalls unklar, worin die Abweichung zu anderen Exemplaren der Gattung besteht. Denn durch das Aufspielen eines vom Kraftfahrt-Bundesamt genehmigten Software-Updates ist gerade gewährleistet, dass keine Betriebsuntersagung erfolgt. Freilich heißt das nicht, dass kein Sachmangel vorliegt. Dieser ist darin zu sehen, dass Leistungsverlust und Mehrverbrauch nicht ausgeschlossen werden können (richtig LG Erfurt 18.1.2019 – 9 O 490/18). Zudem wäre auch denkbar, einen Sachmangel über § 434 II S. 1 Nr. 2 BGB anzunehmen. Denn bei einem Fahrzeug mit nicht gesetzeskonformer Motorsteuerungs- und Abgassoftware besteht die Gefahr der Rücknahme der Betriebserlaubnis, weshalb die vertraglich vorausgesetzte Verwendung (Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr) in Frage gestellt werden muss. Daneben wäre denkbar, einen Sachmangel über § 434 III S. 1 Nr. 2a) BGB herzuleiten, weil bei zum Straßenverkehr zugelassenen Autos gesetzeskonforme Software als üblich anzusehen ist und der Käufer dies erwarten kann. Entscheidend für die Zuordnung ist letztlich die Auslegung von Tatbestand und Sachverhalt.  


5. Fehlende Beschaffenheit, die bei Sachen derselben Art üblich ist und die der Käufer erwarten kann (§ 434 III S. 1 Nr. 2 BGB)
Ein Sachmangel liegt auch dann vor, wenn bei der Kaufsache eine Beschaffenheit fehlt, die bei Sachen derselben Art üblich ist und die der Käufer erwarten kann. Es geht also um die fehlende, aber vom Käufer erwartbare übliche Beschaffenheit der Sache. Gemäß § 434 III S. 2 BGB gehören zur erwartbaren üblichen Beschaffenheit (insbesondere) Menge, Qualität und sonstige Merkmale der Sache, einschließlich ihrer Haltbarkeit, Funktionalität, Kompatibilität und Sicherheit. Dabei sind gemäß der Gesetzesformulierung in § 434 III S. 1 Nr. 2 BGB die Art der Sache (lit. a) und die öffentlichen Äußerungen zu berücksichtigen, die vom Verkäufer oder einem anderen Glied der Vertragskette oder in deren Auftrag, insbesondere in der Werbung oder auf dem Etikett, abgegeben wurden (lit. b). Ein „Auftrag“ i.S.d. Nr. 2 kann der Gesetzesbegründung zufolge auch im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses erfolgen, etwa wenn ein Dienstleister oder ein Angestellter mit der Schaltung von Werbung oder Anzeigen beauftragt wird (BT-Drs. 19/27424, S. 24).

Über die „übliche Beschaffenheit“ und die „Käufererwartung“ entscheidet ebenso (d.h. wie bei der Eignung für die gewöhnliche Verwendung) letztlich die Verkehrsauffassung, genauer gesagt die objektivierte Käufererwartung hinsichtlich Zustand, Qualität und Verwendbarkeit gleichartiger Sachen. Das heißt, dass die Sache so zu sein hat, wie es ein Käufer nach der Art der Sache erwarten kann. Zur üblichen Beschaffenheit i.S.d. Nr. 2 zählen damit alle Merkmale (Eigenschaften), die die Sache definieren und die die Kaufentscheidung beeinflussen.

Beispiele: So liegt ein Mangel i.S.d. § 434 III S. 1 BGB vor, wenn ein Produkt i.S.d. § 2 Nr. 21 ProdSG (also Waren, Stoffe oder Gemische, die durch einen Fertigungsprozess hergestellt worden sind) nicht den Anforderungen des § 3 ProdSG entspricht. Im Übrigen müssen Produkte zum Zeitpunkt ihrer Produktion dem Stand der Technik entsprechen, wie es der betreffende Käuferkreis erwarten kann. Daher liegt kein Mangel vor, wenn eine Sache (etwa eine Digitalkamera), die für eine Verwendung unter üblichen Bedingungen konstruiert wurde, unter Extrembedingungen (Einsatz etwa für lange Zeit bei sehr kalten oder sehr heißen Temperaturen) gelegentlich Störungen aufweist (siehe AG München MMR 2020, 872). Auch müssen Neuwaren mit der Originalverpackung und der Etikettierung versehen sein, weil ein Käufer beim Kauf einer neuen Sache dies erwartet (außer, anderes ist vereinbart). Bei Gebrauchtsachen gelten eigene Maßstäbe, da der Käufer nicht dieselben Erwartungen hegen kann wie bei Neuwaren.

Bezüglich des Begriffs „Haltbarkeit“ verweist die Gesetzesbegründung auf Art. 2 Nr. 13 WKRL, wonach unter Haltbarkeit die Fähigkeit der Sache zu verstehen ist, ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung zu behalten. Daraus folge die Einstandspflicht des Verkäufers, dass die Sache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs die Fähigkeit hat, ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung zu behalten. Jedoch begründe § 434 III BGB keine gesetzliche Haltbarkeitsgarantie. Der Verkäufer hafte nach § 434 III BGB nicht dafür, dass die Sache tatsächlich ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung behält (BT-Drs. 19/27424, S. 24). Dem ist zuzustimmen. Denn eine Haltbarkeitsgarantie ist dem Sachmängelrecht fremd. Allein entscheidend ist, dass die Sache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs frei von Sachmängeln ist (siehe § 434 I BGB).

Freilich wird dieser Grundsatz relativiert, sofern es sich beim Kaufgegenstand um eine Ware mit digitalen Elementen handelt. Denn gem. § 475b II BGB ist eine Ware mit digitalen Elementen (nur) frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang und in Bezug auf eine Aktualisierungspflicht auch während des Zeitraums nach § 475b III Nr. 2 und IV Nr. 2 BGB den Anforderungen entspricht. Die digitalen Elemente unterliegen also einer Aktualisierungspflicht („Updatepflicht“): Aktualisierungen müssen während eines bestimmten Zeitraums bereitgestellt werden, wobei die Aktualisierungspflicht und der Zeitraum der Bereitstellung von Aktualisierungen entweder im Kaufvertrag vereinbart worden sein müssen (§ 475b III Nr. 2 BGB) oder der Verbraucher aufgrund der Art und des Zwecks der Ware und ihrer digitalen Elemente sowie unter Berücksichtigung der Umstände und der Art des Vertrags erwarten kann, dass Aktualisierungen bereitgestellt werden, die für den Erhalt der Vertragsmäßigkeit der Ware erforderlich sind, und über diese Aktualisierungen informiert wird (§ 475b IV Nr. 2 BGB).

In beiden Fällen gilt also, dass sich Leistungserbringung und Mangelfreiheit, d.h. die Funktionstüchtigkeit, nicht in einem einmaligen Akt erschöpfen, sondern sich auf einen bestimmten Zeitraum nach Gefahrübergang erstrecken.

Hinweis für die juristische Fallbearbeitung: Wie die Ausführungen und die Beispiele gezeigt haben, ist die Zuordnung eines Mangels zu einem der in § 434 II und III BGB genannten Tatbestände nicht immer eindeutig. Entspricht bspw. die Sache nicht der vereinbarten Beschaffenheit, ist sie bereits nach § 434 II S. 1 Nr. 1 BGB mangelhaft und dem Käufer stehen die Mängelrechte nach § 437 BGB zu. Damit erübrigt sich an sich die Frage, ob ein Sachmangel zusätzlich aus einem anderen Tatbestand des § 434 II, III BGB festgestellt werden kann. Gleichwohl kann zu empfehlen sein, die Mangelfreiheit/Mangelhaftigkeit der Sache am Maßstab auch der anderen in Betracht kommenden Tatbestände des § 434 II, III BGB zu prüfen, um das Ergebnis der Prüfung der Mangelhaftigkeit abzusichern.

Beispiel: Kauft K über einen Onlineshop Zubehörfelgen für sein Auto, kann er in Ermangelung anderslautender Angaben (bspw.: „Ohne Gutachten, nur zu Motorsportzwecken“) und unter Zugrundelegung der Verkehrsübung erwarten, dass die Felgen auch für den Straßenverkehr zugelassen sind. Stellt sich nach der Übergabe heraus, dass die Felgen nicht für den Straßenverkehr zugelassen sind (etwa, weil sie kein Genehmigungsverfahren beim Kraftfahrtbundesamt durchlaufen haben), lässt sich ein Mangel sehr gut unter dem Aspekt der konkludenten Beschaffenheitsvereinbarung annehmen: Es fehlt ein sonstiges Merkmal der Sache, für die die Parteien (konkludent über die Verkehrsübung) Anforderungen vereinbart haben (§ 434 II S. 2 BGB). Zwingend ist eine solche Annahme aber nicht, weshalb zu empfehlen ist, den Mangel zusätzlich über § 434 II S. 1 Nr. 2 BGB (Nichteignung für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung) festzustellen. Denn werden Felgen im Onlinehandel gekauft, ist die Verwendungsmöglichkeit im Straßenverkehr vorausgesetzt. Und da man auch dies anders sehen könnte, sollte der Mangel schließlich über § 434 III S. 1 Nr. 1 BGB (Nichteignung für die gewöhnliche Verwendung, denn gewöhnlicherweise werden Felgen an Fahrzeugen montiert, um damit am Straßenverkehr teilzunehmen) und ggf. auch über § 434 III S. 1 Nr. 2a BGB (Nichtvorhandensein einer Beschaffenheit, die bei Sachen derselben Art üblich ist und die der Käufer unter Berücksichtigung der Art der Sache erwarten kann) begründet werden.

6. Nichtentsprechen der Beschaffenheit einer Probe oder eines Musters, die oder das der Verkäufer dem Käufer vor Vertragsschluss zur Verfügung gestellt hat (§ 434 III S. 1 Nr. 3 BGB)
§ 434 III S. 1 Nr. 3 BGB stellt darauf ab, dass der Käufer anhand einer Probe bzw. eines Musters gekauft hat, die bzw. das ihm vor Kauf zur Verfügung gestellt wurde. Weicht der Kaufgegenstand von der Beschaffenheit der Probe bzw. des Musters ab, liegt ein Sachmangel vor.

Beispiel: Verleger K möchte ein neues Buch auflegen. Damit er sich einen Eindruck über die Verarbeitungsqualität und die Klebebindung verschaffen kann, lässt er sich von der Druckerei ein Muster zusenden, anhand dessen der Auftrag erfolgen soll.

Hier liegt gem. § 434 III S. 1 Nr. 3 BGB ein Sachmangel vor, wenn bei den dann gedruckten Büchern eine abweichende Klebebindung vorhanden ist.

7. Fehlen von Zubehör einschließlich Verpackung, Montage- oder Installationsanleitung sowie anderen Anleitungen, deren Erhalt der Käufer erwarten kann (§ 434 III S. 1 Nr. 4 BGB)
Schließlich erklärt § 434 III S. 1 Nr. 4 BGB die Sache für mangelhaft, wenn die Sache ohne Zubehör einschließlich Verpackung, Montage- oder Installationsanleitung sowie anderen Anleitungen übergeben wird, deren Erhalt der Käufer erwarten kann. Der damit angesprochene Erwartungshorizont ist (entsprechend der Stellung dieser Fallgruppe im Normengefüge der objektiven Anforderungen) objektiviert, d.h., es kommt nicht darauf an, was der betroffene Käufer erwartete, sondern darauf, was ein Durchschnittskäufer in der Rolle des betroffenen Käufers vernünftigerweise erwarten konnte.

Beispiel: Verkauft V über seinen Onlineshop Zubehörfelgen für Autos, können Käufer erwarten, dass die Felgen mit Gutachten geliefert werden, damit die Felgen später auch von einer Prüforganisation abgenommen und von der Straßenverkehrsbehörde in die Zulassungsbescheinigung I eingetragen werden können. Fehlt es an einem Gutachten (etwa, weil die Felgen über kein Gutachten verfügen), liegt ein Sachmangel vor.

Anm.: Etwas anderes würde gelten, wenn es ausdrücklich hieße, dass die Felgen über kein Gutachten verfügten. Dann handelte es sich um eine „negative Beschaffenheitsvereinbarung“ (dazu oben Punkt 4). Die Ware wäre jedenfalls nicht nach § 434 III S. 1 Nr. 4 BGB mangelhaft.    


8. Montageanforderungen (§ 434 IV BGB)
In Fällen, in denen eine Montage durchzuführen ist, liegt ein Sachmangel auch dann vor, wenn die Sache unsachgemäß montiert worden ist und
  • die vertragliche geschuldete Montage vom Verkäufer unsachgemäß vorgenommen worden ist
Beispiel: Der bei V gekaufte Autoreifen wird von den Leuten des V unsachgemäß auf die Felge montiert. Dadurch platzt der Reifen.
  • oder die Montage vom Käufer vorzunehmen war und die vom Käufer vorgenommene unsachgemäße Montage auf einer vom Verkäufer bereitgestellten fehlerhaften Anleitung beruht.
Beispiel: Das bei V gekaufte, in Einzelteilen verpackte Bücherregal wird von K gemäß der mitgelieferten Anleitung aufgebaut. Nach dem Einstellen der Bücher stürzt das Regal jedoch ein. Es stellt sich heraus, dass die Anleitung fehlerhaft ist, was den Einsturz verursachte.

Analysiert man die gesetzliche Formulierung, wird zunächst klar, dass bei § 434 IV Nr. 2 Var. 1 BGB die Montage der Sache von der Hauptleistungspflicht des Verkäufers umfasst sein muss. Denn anderenfalls könnte man (wegen § 433 I S. 2 BGB) keinen Sachmangel annehmen. Des Weiteren wird klar, dass der Verkäufer die Montage nicht in eigener Person vorgenommen haben muss; denn als Schuldner kann er sich nach allgemeinen Grundsätzen Erfüllungsgehilfen bedienen, deren Verschulden er sich gem. § 278 BGB zurechnen lassen muss. Der Verkäufer ist damit also auch für einen Mangel verantwortlich, der infolge einer von seinen Erfüllungsgehilfen vorgenommenen unsachgemäßen Montage entstanden ist („Montagemangel“). Schließlich verdeutlicht die Vorschrift in § 434 IV Nr. 2 Var. 2 BGB, dass der Verkäufer auch für Mängel verantwortlich ist, die dadurch entstanden sind, dass die Sache vom Käufer aufgrund einer fehlerhaften oder fehlenden Montageanleitung unsachgemäß montiert worden ist („Anleitungsfehler“).

9. Falschlieferung (§ 434 V BGB)
Schließlich behandelt das Gesetz eine Falschlieferung (Aliud-Lieferung) wie einen Sachmangel, d.h. es stellt die Falschlieferung dem Sachmangel gleich. Damit bringt das Gesetz aber auch zum Ausdruck, dass eine Falschlieferung keinen Sachmangel darstellt; sie wird lediglich wie ein Sachmangel behandelt.   

Beispiele: Geliefert wurde Mac-Software statt der angebotenen und bestellten PC-Software; geliefert wurden Allwetterreifen ohne Alpine-Piktogramm statt der bestellten Ganzjahresreifen (die gesetzlich über das Alpine-Piktogramm verfügen müssen); geliefert wurden Batterien der Größe AA statt in der bestellten Größe AAA.

Hier liegt, obwohl bzw. selbst wenn die jeweils gelieferten Produkte mangelfrei sind, eine einem Sachmangel gleichgestellte Falschlieferung vor.


Anmerkung: Auch im Werkvertragsrecht sieht das Gesetz die Falschlieferung nicht als Sachmangel an, sondern stellt sie einem Sachmangel lediglich gleich (§ 633 II S. 3 Var. 1 BGB). Anders verhält es sich bei einer Mankolieferung (Zuweniglieferung), die lediglich im Werkvertragsrecht dem Sachmangel gleichsteht (§ 633 II S. 3 Var. 2 BGB), im Kaufvertragsrecht jedoch als Sachmangel angesehen wird (§ 434 III S. 2 BGB).


II. Waren mit digitalen Elementen (§§ 475b, 475c BGB)
Mit Wirkung zum 1.1.2022 hat der Gesetzgeber in Umsetzung der bereits genannten Warenkaufrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/771 – WKRL) u.a. die – nur für Verbrauchsgüterkaufverträge (siehe § 474 BGB) geltenden – Vorschriften der §§ 475b ff. in das BGB aufgenommen. Sie regeln den Sachmangel bei Waren mit digitalen Elementen im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufs. Waren mit digitalen Elementen sind nach der ebenfalls am 1.1.2022 in Kraft getretenen Legaldefinition in § 327a III S. 1 BGB Waren, die in einer Weise digitale Produkte enthalten oder mit ihnen verbunden sind, dass die Waren ihre Funktionen ohne diese digitalen Produkte nicht erfüllen können. Die Vorschriften der §§ 327 ff. BGB setzen wiederum die EU-Richtlinie 2019/770 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (DIRL) um und enthalten u.a. eigene Vorschriften über Produktmängel (§ 327e BGB) bei Verbraucherverträgen über digitale Produkte, was eine Abgrenzung zum verbrauchsgüterkaufrechtlichen Sachmängelrecht der §§ 475b ff. BGB erforderlich macht. Zudem greifen die Vorschriften der §§ 327 ff. BGB (und nicht die der §§ 475b ff. BGB) für Verbrauchsgüterkaufverträge über digitale Produkte, d.h. Verbrauchsgüterkaufverträge über körperliche Datenträger, die ausschließlich als Träger digitaler Inhalte dienen (§ 475a I BGB). Bei Verbrauchsgüterkaufverträgen über Waren, die in einer Weise digitale Produkte enthalten oder mit digitalen Produkten verbunden sind, dass die Waren ihre Funktionen auch ohne diese digitalen Produkte erfüllen können („Waren mit entbehrlichen digitalen Produkten“), greift – wie sich aus § 475a II BGB ergibt – im Grundsatz zwar das Verbrauchsgüterkaufrecht, jedoch sind im Hinblick auf diejenigen Bestandteile des Vertrags, welche die digitalen Produkte betreffen, die in § 475a II S. 1 BGB genannten Vorschriften des (Verbrauchsgüter-)Kaufvertragsrechts nicht anzuwenden. An die Stelle der nicht anzuwendenden Vorschriften treten gem. § 475a II S. 2 BGB die Vorschriften der §§ 327 ff. BGB. Von einer klaren und transparenten Regelungsstruktur ist die gesetzliche Systematik also weit entfernt, was aber dem Umstand geschuldet ist, dass zwei komplexe EU-Verbraucherschutzrichtlinien in ein bestehendes Regelwerk inkorporiert werden mussten. Strukturiert dargestellt ergeben sich aber Differenzierungen:

1. Abgrenzung zu §§ 327 ff. BGB (Verbrauchervertrag über digitale Produkte)
Aufgrund der genannten, in verschiedenen Bereichen des BGB vorgenommenen Inkorporation und der damit verbundenen komplexen und undurchsichtigen Regelungsstruktur kann unklar sein, welche Vorschriften greifen, wenn Mängel Produkte betreffen, die digitale Inhalte oder Elemente enthalten. So kann sich die Frage nach Produktmängeln nach § 327e BGB richten (mit den Rechten des Verbrauchers nach § 327i BGB) oder nach § 475b BGB (mit den Rechten des Verbrauchers nach § 437 BGB), aber auch nach § 475c BGB (mit dem Recht des Verbrauchers auf Aktualisierung der digitalen Elemente innerhalb eines bestimmten Zeitraums) oder gar nach § 475a BGB (mit der überwiegenden Anwendbarkeit der Regelungen der §§ 327 ff. BGB).  
 
   a. Die Vorschriften der §§ 327-327s BGB gelten gem. § 327 I BGB für Verbraucherverträge, die die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen (digitale Produkte) durch den Unternehmer gegen Zahlung eines Preises zum Gegenstand haben (§ 327 I S. 1 BGB). Unter einem Verbrauchervertrag ist gemäß der Legaldefinition in § 310 III BGB ein Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher zu verstehen. Die Begriffe Unternehmer und Verbraucher sind wiederum in §§ 14 und 13 BGB legaldefiniert.

Digitale Produkte in Form „digitaler Inhalte“ sind gem. § 327 II S. 1 BGB Daten, die in digitaler Form erstellt und bereitgestellt werden.

Digitale Produkte in Form „digitaler Dienstleistungen“ sind gem. § 327 II S. 2 BGB Dienstleistungen, die dem Verbraucher die Erstellung, die Verarbeitung oder die Speicherung von Daten in digitaler Form oder den Zugang zu solchen Daten ermöglichen, oder die gemeinsame Nutzung der vom Verbraucher oder von anderen Nutzern der entsprechenden Dienstleistung in digitaler Form hochgeladenen oder erstellten Daten oder sonstige Interaktionen mit diesen Daten ermöglichen.

Preis ist nicht nur Geld, sondern gem. § 327 I S. 2 BGB auch eine digitale Darstellung eines Werts. Erwägungsgrund 23 der DIRL nennt insb. elektronische Gutscheine oder „E-Coupons“.

Beispiele: Inhalte von Verbraucherverträgen über digitale Produkte sind bspw.
  • Computerprogramme wie Betriebssysteme oder Anwendungen („Apps“) etc.
  • Video- und Audiodateien  
  • Computerspiele
  • E-Books (siehe Grüneberg, in: Grüneberg, 81. Aufl. 2022, § 327 Rn 4 mit Verweis auf Erwägungsgrund 19 zur DIRL) etc.
   b. Die §§ 327 ff. BGB sind auch auf Verbraucherverträge anzuwenden, die digitale Produkte zum Gegenstand haben, welche nach den Spezifikationen des Verbrauchers entwickelt werden (§ 327 IV BGB). Darunter fallen etwa eigens geschriebene Computerprogramme.

   c. Gemäß § 327 V BGB sind §§ 327 ff. BGB – mit Ausnahme der §§ 327b und 327c BGB – auch auf Verbraucherverträge anzuwenden, welche die Bereitstellung von körperlichen Datenträgern zum Gegenstand haben, die ausschließlich als Träger digitaler Inhalte dienen.

   d. § 327 VI BGB enthält (in Umsetzung von Art. 3 V DIRL) eine Reihe an Bereichsausnahmen (etwa Verträge über Telekommunikationsdienstleistungen, Finanzdienstleistungen und freie Software).

   e. Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der §§ 327 ff. BGB normiert wiederum § 327a I S. 1 BGB. Danach gelten (in Umsetzung von Art. 3 VI DIRL) die Vorschriften auch für Verbraucherverträge, die neben der Bereitstellung digitaler Produkte die Bereitstellung anderer Sachen oder die Bereitstellung anderer Dienstleistungen zum Gegenstand haben (Paketvertrag). Mit dieser Regelung soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass – wie es in Erwägungsgrund 33 der DIRL heißt – digitale Inhalte oder digitale Dienstleistungen oft mit der Bereitstellung von Waren oder anderen Dienstleistungen kombiniert und dem Verbraucher in dem gleichen Vertrag, der in einem Paket unterschiedliche Elemente beinhaltet, angeboten werden. Erwägungsgrund 33 nennt als Beispiel einen Vertrag über die Bereitstellung digitalen Fernsehens und den Kauf eines elektronischen Geräts (mit dem das digitale Fernsehprogramm angeschaut werden werden). In solchen Fällen enthalte der Vertrag zwischen dem Verbraucher und dem Unternehmer Elemente eines Vertrags über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder einer digitalen Dienstleistung, aber auch Elemente anderer Vertragsarten, bspw. von Verträgen über den Kauf von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen. Elemente des Gesamtvertrags, die die Bereitstellung der digitalen Inhalte oder digitalen Dienstleistungen betreffen, sollen daher dem Anwendungsbereich der DIRL unterfallen; alle übrigen Elemente des Vertrags nicht. § 327a I S. 2 BGB setzt dies um.

   f. Die Vorschriften der §§ 327 ff. BGB sind gem. § 327a II S. 1 BGB auch auf Verbraucherverträge über Sachen anzuwenden, die digitale Produkte enthalten oder mit ihnen verbunden sind. Mit „verbunden“ ist keine technische Verbindung der Sache mit dem digitalen Produkt gemeint, sondern, dass die jeweiligen vertraglichen Verpflichtungen miteinander verbunden sind. Jedoch formuliert wiederum § 327a II S. 2 BGB die Einschränkung, dass die §§ 327 ff. BGB nur auf diejenigen Bestandteile des Vertrags anzuwenden sind, welche die digitalen Produkte betreffen. Für die übrigen Vertragsbestandteile heißt das also, dass §§ 475b und 475c BGB gelten. Mit dieser sicherlich nicht einfach zu verstehenden Regelung soll schlicht gewährleistet werden, dass Verträge über Sachen, die mit digitalen Produkten verbunden sind, entweder den §§ 327 ff. BGB oder den §§ 475b, 475c BGB unterfallen.   

   g. Gemäß § 327a III S. 1 BGB fallen Kaufverträge über Waren (§ 241a I BGB), die in einer Weise digitale Produkte enthalten oder mit ihnen (derart) verbunden sind, dass die Waren ihre Funktionen ohne diese digitalen Produkte nicht erfüllen können (Waren mit digitalen Elementen), nicht in den Anwendungsbereich der §§ 327 ff. BGB. Mit dieser Bestimmung wird also eine weitere Abgrenzung zum Verbrauchsgüterkaufvertragsrecht vorgenommen, insbesondere zum verbrauchsgüterkaufvertraglichen Sachmängelrecht in Bezug auf bewegliche Sachen mit digitalen Elementen: Für Verbrauchsgüterkaufverträge über bewegliche Sachen mit digitalen Elementen gelten die in Umsetzung der WKRL eingeführten Regelungen im Kaufrecht (konkret §§ 475b ff. BGB), nicht die im Rahmen der DIRL eingeführten §§ 327 ff. BGB. Siehe dazu die oben genannten Beispiele.

2. Abgrenzung zu § 475a BGB (Verbrauchsgüterkaufvertrag über digitale Produkte)
Eine (weitere) Schnittstelle zwischen dem Verbrauchervertrag über digitale Produkte und dem Verbrauchsgüterkauf stellt der Verbrauchsgüterkaufvertrag über digitale Produkte dar, der wiederum in zwei Facetten geregelt ist:
  • Beim Verbrauchsgüterkaufvertrag über einen körperlichen Datenträger, der ausschließlich als Träger digitaler Inhalte dient (§ 475a I BGB), besteht eine undurchsichtige Gemengelage an anwendbaren Vorschriften, da die Vorschriften über Sachmängel und Sachmängelrechte bei Waren mit digitalen Elementen im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufs abweichen von den Vorschriften über Sachmängel und Sachmängelrechte des „normalen“ Verbrauchsgüterkaufvertrags. § 475a I BGB regelt Verbrauchsgüterkaufverträge über Waren (§ 241a I BGB), die ausschließlich dem Zweck dienen, Träger der vertraglichen digitalen Inhalte zu sein. Das ist bspw. bei DVDs und anderen Speichermedien der Fall, auf denen die vertraglichen digitalen Inhalte gespeichert sind. Es geht bei dem Vertrag also nicht um den Datenträger als solchen, sondern um die auf ihm gespeicherten digitalen Inhalte. Der Datenträger dient lediglich als Medium zur Bereitstellung der digitalen Inhalte.   
  • Davon abzugrenzen ist der Verbrauchsgüterkaufvertrag über Waren mit entbehrlichen digitalen Produkten nach § 475a II BGB. Der Gesetzgeber beschreibt diese Variante als „Verbrauchsgüterkaufvertrag über eine Ware, die in einer Weise digitale Produkte enthält oder mit digitalen Produkten verbunden ist, dass die Ware ihre Funktionen auch ohne diese digitalen Produkte erfüllen kann“. Nach der gesetzlichen Formulierung greift im Grundsatz zwar das Verbrauchsgüterkaufrecht, jedoch sind im Hinblick auf diejenigen Bestandteile des Vertrags, welche die digitalen Produkte betreffen, die in § 475a II S. 1 BGB genannten Vorschriften des (Verbrauchsgüter-)Kaufvertragsrechts nicht anzuwenden. An die Stelle der nicht anzuwendenden Vorschriften treten gem. § 475a II S. 2 BGB die Vorschriften der §§ 327 ff. BGB.
Beispiel (siehe Erwägungsgrund 16 der WKRL): Erwirbt der Käufer ein Smartphone oder ein Tablet, auf dem ein „App Store“ oder ein „Google Play Store“ installiert ist, läuft das Gerät selbstverständlich auch ohne eine solche Vertriebsplattform für Anwendungssoftware. Hinsichtlich der Vertragspflichten und bei Mängeln des Geräts greifen dann die kaufrechtlichen und die verbrauchsgüterkaufrechtlichen Bestimmungen. Lädt der Verbraucher dann aber eine App aus dem App Store oder dem Google Play Store auf das Smartphone oder Tablet herunter, steht dies i.d.R. nicht unmittelbar mit dem Kauf des Smartphones oder Tablets im Zusammenhang, d.h. der Vertrag über die Bereitstellung der Spielanwendung ist i.d.R. nicht Bestandteil des Kaufvertrags über das Smartphone oder das Tablet. Nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers soll der Kaufvertrag über das Smartphone (oder das Tablet) dem Regelungsbereich der WKRL unterfallen, während die Bereitstellung der Spielanwendung unter die DIRL fallen soll, sofern die Bedingungen der DIRL erfüllt sind. Dementsprechend verweist § 475a I BGB einerseits auf (verbrauchsgüter-)kaufrechtliche Vorschriften und andererseits auf solche der §§ 327 ff. BGB.

Als weiteres Beispiel nennt Erwägungsgrund 16 der WKRL den Fall, dass es um eine Vereinbarung geht, „wonach der Verbraucher ein Smartphone ausdrücklich ohne ein bestimmtes Betriebssystem kauft, und der Verbraucher anschließend einen Vertrag für die Bereitstellung eines Betriebssystems durch einen Dritten abschließt“. Auch hier wird deutlich, dass der Kaufvertrag über das Smartphone von dem Vertrag über das Betriebssystem zu trennen ist. Der Vertrag über das Betriebssystem unterfällt dem Regelungsbereich der DIRL, weshalb der deutsche Gesetzgeber in § 475a II BGB eine differenzierte, streng genommen jedoch ungenaue Regelung getroffen hat, da § 475a II BGB von Vertragsbestandteilen spricht, obwohl in Wahrheit verschiedene Verträge vorliegen.

3. (Verbleibender) Anwendungsbereich der §§ 475b, 475c BGB
Mithin bleibt festzuhalten, dass die Vorschriften der §§ 475b, 475c BGB (in Ergänzung zu §§ 434 ff. BGB) für Verbrauchsgüterkaufverträge in Bezug auf Waren mit digitalen Elementen gelten, wohingegen im Rahmen von Verbraucherverträgen über digitale Produkte (§§ 327 ff. BGB) bei Produktmängeln die Vorschrift des § 327e BGB einschlägig ist und Verbrauchsgüterkaufverträge über digitale Produkte von § 475a BGB erfasst sind.

Beispiele: Waren mit digitalen Elementen (i.S.d. §§ 475b, 475c BGB) sind bspw.
  • Smartphones, Computer (einschließlich Notebooks und Tablets), Spielekonsolen, Digitalkameras, Drucker etc.
  • „Smart-Home-Geräte“ wie Kühlschränke, die mittels Internetzugangs selbsttätig Bestellungen aufgeben, Smart-TV-Geräte, also Fernsehgeräte, die mittels Internetzugangs die Möglichkeit bieten, neben dem regulären TV-Programm u.a. Streamingdienste zu nutzen, Waschmaschinen, die mittels Internetzugangs Meldungen übertragen, dass die Wäsche fertig ist, Rollladensteuerungen, die – verbunden mit dem Internet – Steuerungsbefehle ausführen, „intelligente“ Heizkörperregler 
  • Smartwatches, d.h. Uhren, die mittels Internetverbindung oder Bluetoothverbindung mit dem Smartphone eingehende Nachrichten, E-Mails, Anrufe und andere Informationen erhalten
  • Fitnessuhren oder Fitnessarmbänder, die Herzfrequenz und Blutdruck anzeigen, aber auch mittels GPS-Verbindung den Standort anzeigen bzw. übertragen etc.
  • Aber auch Automobile, Motorräder, E-Bikes, Pedelecs etc. fallen aufgrund ihrer elektronischen Komponenten ohne weiteres unter den Begriff der digitalen Produkte.
4. Sachmangel einer Ware mit digitalen Elementen (§ 475b BGB)
§ 475b I S. 1 BGB bestimmt, dass für den Kauf einer solchen Ware, bei dem sich der Unternehmer verpflichtet, dass er oder ein Dritter die digitalen Elemente bereitstellt (siehe dazu § 327a III S. 1 BGB), ergänzend (d.h. ergänzend zu §§ 434 ff. BGB) „die Regelungen dieser Vorschrift“ (d.h. des § 475b BGB) gelten. § 475b BGB ist in Struktur und Systematik ähnlich aufgebaut wie § 434 BGB: Zuerst wird die Sachmängelfreiheit definiert und dann werden im Einzelnen die Voraussetzungen erläutert.  

a. Sachmangelbegriff (§ 475b II BGB)

Gemäß § 475b II BGB ist eine Ware mit digitalen Elementen frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang und in Bezug auf eine Aktualisierungspflicht auch während des Zeitraums nach § 475b III Nr. 2 und IV Nr. 2 BGB den subjektiven Anforderungen, den objektiven Anforderungen, den Montageanforderungen und den Installationsanforderungen entspricht.

b. Subjektive Anforderungen (§ 475b III BGB)
Nach der gesetzlichen Formulierung in § 475b III BGB entspricht die Ware mit digitalen Elementen den subjektiven Anforderungen, wenn
  • sie den Anforderungen des § 434 II BGB entspricht und
  • für die digitalen Elemente die im Kaufvertrag vereinbarten Aktualisierungen während des nach dem Vertrag maßgeblichen Zeitraums bereitgestellt werden.
c. Objektive Anforderungen (§ 475b IV BGB)
Gemäß § 475b IV BGB entspricht die Sache den objektiven Anforderungen, wenn
  • sie den Anforderungen des § 434 III BGB entspricht und
  • dem Verbraucher während des Zeitraums, den er aufgrund der Art und des Zwecks der Ware und ihrer digitalen Elemente sowie unter Berücksichtigung der Umstände und der Art des Vertrags erwarten kann, Aktualisierungen bereitgestellt werden, die für den Erhalt der Vertragsmäßigkeit der Ware erforderlich sind, und der Verbraucher über diese Aktualisierungen informiert wird.
d. Montageanforderungen (§ 475b VI Nr. 1 BGB)
Soweit eine Montage durchzuführen ist, entspricht gem. § 475b VI Nr. 1 BGB eine Ware mit digitalen Elementen den Montageanforderungen, wenn sie den Anforderungen des § 434 IV BGB entspricht. Hier sind also bei der Beurteilung der Mangelfreiheit die Montageanforderungen nach § 434 IV BGB heranzuziehen.

e. Installationsanforderungen (§ 475b VI Nr. 2 BGB)
Soweit eine Installation der digitalen Elemente durchzuführen ist, entspricht gem. § 475b VI Nr. 2 BGB eine Ware mit digitalen Elementen den Installationsanforderungen, wenn die Installation der digitalen Elemente
  • sachgemäß durchgeführt worden ist (Nr. 2a)
  • oder zwar unsachgemäß durchgeführt worden ist, dies jedoch weder auf einer unsachgemäßen Installation durch den Unternehmer noch auf einem Mangel der Anleitung beruht, die der Unternehmer oder derjenige übergeben hat, der die digitalen Elemente bereitgestellt hat (Nr. 2b).
Umgekehrt formuliert liegt also ein Sachmangel vor, wenn die Installation unsachgemäß durchgeführt wurde, nicht aber, wenn die unsachgemäße Installation nicht durch den Unternehmer herbeigeführt wurde oder wenn die unsachgemäße Installation nicht auf einer fehlerhaften Anleitung beruht, die durch den Unternehmer übergeben worden ist.

f. Keine Haftung bei unterlassener Aktualisierung seitens des Verbrauchers (§ 475b V BGB)
§ 475b V BGB schließt die Haftung des Unternehmers aus, soweit der Verbraucher eine vom Unternehmer bereitgestellte Aktualisierung der digitalen Elemente nicht innerhalb einer angemessenen Frist vornimmt. Der Haftungsausschluss greift aber nur, sofern der Sachmangel allein auf die unterlassene Installation zurückzuführen ist und der Unternehmer den Verbraucher über die Verfügbarkeit der Aktualisierung und die Folgen einer unterlassenen Installation informiert hat (§ 475b V Nr. 1 BGB). Auch darf für den Haftungsausschluss die unterlassene oder unsachgemäße Aktualisierung nicht auf eine dem Verbraucher bereitgestellte mangelhafte Installationsanleitung zurückzuführen sein (§ 475b V Nr. 2 BGB). Schließlich ist die Fehlerkausalität zu beachten: Wäre der Sachmangel auch mit vorgenommener Aktualisierung entstanden, bleibt die Haftung des Unternehmers unberührt.  

g. Waren mit digitalen Elementen bei dauerhafter Bereitstellung der digitalen Elemente (§ 475c BGB)
§ 475c I S. 1 BGB ordnet an, dass „ergänzend“ (d.h. ergänzend zu §§ 475b und 434 BGB) die „Regelungen dieser Vorschrift“ (d.h. des § 475c BGB) gelten, sofern die Parteien beim Kauf einer Ware mit digitalen Elementen eine dauerhafte Bereitstellung der digitalen Elemente vereinbart haben. Aus dieser Regelung folgt zunächst, dass eine (dauerhafte oder zeitlich begrenzte) Bereitstellung von digitalen Elementen nicht gesetzlich angeordnet ist, sondern (wie bei §§ 327 ff. BGB) der Vertragsfreiheit unterliegt: Die Parteien können – müssen aber nicht – bei Waren mit digitalen Inhalten vereinbaren, dass der Verkäufer digitale Elemente für einen bestimmten Zeitraum bereitstellt, d.h. für einen bestimmten Zeitraum kontinuierlich zur Nutzung überlässt. Das entspricht dem Wesen des Kaufvertrags, der sich – in Abgrenzung zu den Dauerschuldverhältnissen und auch zu § 327 BGB – in einer einmaligen Leistungserbringung erschöpft. Ein Kaufvertrag, gekoppelt mit Elementen eines Dauerschuldverhältnisses, wäre nach allgemeinen rechtsmethodischen Grundsätzen an sich ein gemischttypischer Vertrag i.S.d. § 311 I BGB bzw. ein Vertragstyp nach § 327 BGB. Da jedoch die WKRL von einem Kaufvertrag ausgeht (siehe Art. 7 III lit. b WKRL: „... wenn im Kaufvertrag die fortlaufende Bereitstellung des digitalen Inhalts oder der digitalen Dienstleistung über einen Zeitraum vorgesehen ist.“), hat auch der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie den Vertragstyp Kaufvertrag festgesetzt. Unter „dauerhafter Bereitstellung“ ist nach allgemeinem Sprachgebrauch eine unbefristete Bereitstellung (für die Lebensdauer des Geräts) zu verstehen. Da sich der Verkäufer jedoch nicht stets darauf einlassen möchte, kann er im Vertrag die Befristung der Bereitstellung vereinbaren. Haben die Parteien jedoch nicht bestimmt, wie lange die Bereitstellung andauern soll, ist gem. § 475c I S. 2 BGB die Vorschrift des § 475b IV Nr. 2 BGB entsprechend anzuwenden. Demzufolge muss der Unternehmer dem Verbraucher während des Zeitraums, den dieser aufgrund der Art und des Zwecks der Ware und ihrer digitalen Elemente sowie unter Berücksichtigung der Umstände und der Art des Vertrags erwarten kann, (auch) Aktualisierungen bereitstellen, die für den Erhalt der Vertragsgemäßheit der Ware erforderlich sind.
 
Beispiele: Digitale Elemente, die dauerhaft (bzw. für eine vereinbarte Zeit) bereitzustellen sind, können Verkehrsinformationen in einem Navigationssystem, die Cloud-Anbindung bei einer Spielekonsole oder eine Smartphone-App zur Nutzung verschiedener Funktionen in Verbindung mit einer intelligenten Armbanduhr (Smartwatch) sein (BT-Drs. 19/27424, S. 34).  

Aber auch, wenn es an einer ausdrücklichen Vereinbarung der Pflicht des Unternehmers zur Bereitstellung von digitalen Elementen fehlt, kann eine solche Pflicht angenommen werden, wenn der Verbraucher dies nach der Natur des Vertrags erwarten kann („konkludente Vereinbarung“) (BT-Drs. 19/27424, S. 35).

Beispiel: Dies kann nach Auffassung des Gesetzgebers etwa beim Kauf einer Smartwatch in Betracht zu ziehen sein, die zu ihrer Funktionsfähigkeit eine Cloud-Anbindung benötigt. In diesem Fall dürften die Parteien voraussetzen, dass die Cloud über einen angemessenen Zeitraum zur Verfügung stehe und die Cloud von ihrem Betreiber nicht nach dem Kauf der Smartwatch eingestellt werde (BT-Drs. 19/27424, S. 35).  

Mangelfreiheit besteht bei Waren mit digitalen Elementen also (nur) dann, wenn die Anforderungen des § 434 BGB, des § 475b BGB und des § 475c I BGB vorliegen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Mangelfreiheit einer Kaufsache ist zunächst der Gefahrübergang (§ 446 BGB). Jedoch bestimmt § 475c II BGB, dass der Unternehmer während des vereinbarten (bzw. erwarteten) Bereitstellungszeitraums, mindestens aber für einen Zeitraum von zwei Jahren ab der Ablieferung der Ware verpflichtet ist, die digitalen Inhalte in einem vertragsgemäßen Zustand, d.h. in einem § 475b II BGB konformen Zustand zu erhalten. Mit § 475c II BGB findet also eine Abkehr von der allgemeinen kaufrechtlichen Regelung statt, wonach die Mangelfreiheit nur zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs bestehen muss (siehe § 434 I BGB). Im Fall des Verkaufs einer Ware mit digitalen Inhalten an einen Verbraucher haftet der Unternehmer auch für die Dauer des Bereitstellungszeitraums, mindestens aber zwei Jahre ab der Ablieferung der Ware für die Vertragskonformität der digitalen Elemente. Während dieser Zeit muss er also Softwarestörungen beseitigen und ggf. auch Updates aufspielen, sofern dies zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit bzw. der vertraglich vorausgesetzten Verwendung erforderlich ist.

III. Sonderbestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz (§ 475d BGB)
Im Fall des Rücktritts oder eines geltend gemachten Schadensersatzanspruchs sind die Sonderbestimmungen des § 475d BGB zu beachten (die sich jedoch nicht exklusiv auf § 475c BGB beziehen, sondern sich auf alle Fälle der §§ 474 ff. BGB erstrecken). Nach der sich auf den Rücktritt vom Vertrag beziehenden Vorschrift des § 475d I Nr. 1 BGB bedarf es unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen in Abweichung von § 323 II BGB und § 440 BGB einer grundsätzlich nach § 323 I BGB erforderlichen Fristsetzung nicht. § 475d I BGB setzt vollharmonisierende und die Materie vollständig determinierende Regelungen der Warenkaufrichtlinie (hier: Art. 13 WKRL) um, die von den Regelungen der §§ 323 II und 440 BGB abweichen (hier: Art. 13 IV WKRL). Daher musste der deutsche Gesetzgeber bestimmen, dass für Verbrauchsgüterkaufverträge die Entbehrlichkeitsgründe in Bezug auf die Fristsetzung denen des Art. 13 IV WKRL entsprechen. Die Entbehrlichkeit der Fristsetzung richtet sich bei Verbrauchsgüterkaufverträgen nach § 475d I BGB unter den dort genannten fünf Nummern. Mit der Nr. 1 wird zugleich das Fristsetzungserfordernis des § 323 I BGB modifiziert. Denn anders als § 323 I BGB, der das Setzen einer angemessenen Frist verlangt, lässt Art. 13 IV lit. d WKRL das Abwarten einer angemessenen Zeit genügen (vgl. die englische Sprachfassung: „within a reasonable time“). Das Abwarten einer Zeit ist etwas anderes als das Setzen einer Frist. Somit war der deutsche Gesetzgeber gehalten, bei Verbrauchsgüterkaufverträgen eine zu § 323 I BGB abweichende Regelung zu treffen. Da die WKRL im Übrigen keine zu § 323 II Nr. 2, III-VI BGB und § 326 V BGB abweichenden Vorgaben macht, gelten die dortigen Bestimmungen uneingeschränkt auch für Verbrauchsgüterkaufverträge. Insoweit muss die Textaussage in § 475d I BGB „abweichend von § 323 Absatz 2 und § 440“ vor diesem Hintergrund verstanden werden. In Bezug auf § 323 II Nr. 2 BGB kann § 475d I BGB ohnehin keine Sperrwirkung entfalten, sofern nicht gleichzeitig mit der Nichteinhaltung des Liefertermins ein Mangel vorliegt. Denn § 475d BGB setzt einen Mangel an der Ware voraus.   

Hinsichtlich des Schadensersatzes hätte es an sich keiner Regelung in § 475d BGB bedurft, weil die Warenkaufrichtlinie lediglich den Rücktritt, nicht aber auch den Schadensersatz regelt. Da es jedoch äußerst irritierend gewesen wäre, wenn das Verbrauchsgüterkaufrecht an die Fristsetzungen bzgl. Rücktritt und Schadensersatz unterschiedliche Anforderungen gestellt hätte (zumal wegen § 325 BGB Rücktritt und Schadensersatz kombinierbar sind), hat der Gesetzgeber in § 475d II S. 1 BGB geregelt, dass es für einen Anspruch auf Schadensersatz wegen eines Mangels der Ware der in § 281 I BGB bestimmten Fristsetzung in den in § 475d I BGB genannten Fällen nicht bedarf. Zudem sind gem. § 475d II S. 2 BGB die §§ 281 II und 440 BGB nicht anzuwenden.
 
IV. Sonderbestimmungen für die Verjährung
Bei Verbrauchsgüterkaufverträgen gelten nicht nur die allgemeinen Verjährungsregelungen, sondern gem. § 475e BGB auch die im Folgenden dargestellten Sonderbestimmungen. Es ist zu differenzieren:

1. Allgemeine Verjährungsregelungen
Mängelrechte nach § 437 Nr. 1 BGB (Nacherfüllung) und § 437 Nr. 3 BGB (Schadensersatz, Aufwendungsersatz) unterliegen der Verjährung des § 438 BGB. Diese beträgt nach allgemeinem Kaufrecht bei beweglichen Sachen (z.B. Autos, Smartphones, Computer etc., aber auch Tiere fallen darunter, vgl. § 90a BGB) 2 Jahre nach Ablieferung der Sache (§ 438 I Nr. 3, II BGB)

2. Verjährungsregelungen im Verbrauchsgüterkaufrecht
Bei Verbrauchsgüterkaufverträgen gelten gem. § 475e BGB zudem folgende gesetzliche Verjährungsfristen:
  • Im Fall der dauerhaften Bereitstellung digitaler Elemente (§ 475c I S. 1 BGB) verjähren Ansprüche wegen eines Mangels an den digitalen Elementen nicht vor dem Ablauf von zwölf Monaten nach dem Ende des vereinbarten Bereitstellungszeitraums (§ 475e I BGB).
  • Bei Verletzung der Aktualisierungspflicht in Bezug auf die digitalen Elemente nach § 475b III oder IV BGB verjähren damit verbundene Ansprüche nicht vor dem Ablauf von zwölf Monaten nach dem Ende des Zeitraums der Aktualisierungspflicht (§ 475e II BGB)
  • Bei allen Verbrauchsgüterkaufverträgen gilt: Für den Fall, dass sich ein Mangel innerhalb der Verjährungsfrist zeigt, bestimmt die (Art. 10 V S. 2 WKRL umsetzende) Regelung des § 475e III BGB, dass die Verjährung nicht vor dem Ablauf von vier Monaten nach dem Zeitpunkt eintritt, in dem sich der Mangel erstmals zeigt (1. Fall der Ablaufhemmung). Anders formuliert: Die Verjährung tritt erst vier Monate nach dem Zeitpunkt ein, in dem sich der Mangel erstmals gezeigt hat. Damit verlängert sich also die Verjährungsfrist um maximal vier Monate, wenn sich ein Mangel innerhalb der (ursprünglichen) Verjährungsfrist zeigt.
Beispiel: Verbraucher K kauft bei Händler V einen Laptop (Neugerät). 2 Wochen vor Ablauf der zweijährigen gesetzlichen Verjährungsfrist (§ 438 I Nr. 3 BGB) zeigt sich ein Mangel. → In diesem Fall tritt Verjährung erst 3½ Monate nach Ablauf der zweijährigen gesetzlichen Verjährungsfrist ein.

Anm.: Da der Verbraucher behaupten könnte, der Mangel habe sich am letzten Tag vor Ablauf der 24-monatigen Verjährungsfrist gezeigt, bedeutet die Regelung des § 475e III BGB faktisch eine 28-monatige Verjährungsfrist. Immerhin greift in diesem Fall nicht mehr die Beweislastregelung des § 477 I BGB, sodass der Käufer den Beweis zu erbringen hat, dass der Mangel bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorhanden bzw. angelegt war.
  • Schließlich enthält § 475e IV BGB eine Verjährungsregelung für den Fall, dass der Verbraucher zur Nacherfüllung oder zur Erfüllung von Ansprüchen aus einer Garantie die Ware dem Unternehmer oder auf Veranlassung des Unternehmers einem Dritten übergeben hat (2. Fall der Ablaufhemmung). Dann tritt die Verjährung von Ansprüchen wegen des geltend gemachten Mangels nicht vor dem Ablauf von zwei Monaten nach dem Zeitpunkt ein, in dem die nachgebesserte oder ersetzte Ware dem Verbraucher übergeben wurde.
Beispiel: Verbraucher K kauft bei Händler V einen Laptop (Neugerät). 2 Wochen vor Ablauf der gesetzlichen Verjährungsfrist (§ 438 I Nr. 3 BGB) zeigt sich ein Mangel; K übergibt V das Gerät zwecks Reparatur. Ein paar Tage nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist erhält K das Gerät zurück. → In diesem Fall tritt Verjährung erst 2 Monate nach Rückgabe an K ein.

Anm.: Mit dieser Regelung möchte der Gesetzgeber gewährleisten, dass der Verbraucher nach Rückerhalt der Sache prüfen kann, ob der Mangel tatsächlich behoben wurde (siehe BT-Drs. 19/27424, S. 41). Zudem soll verhindert werden, dass die Verjährung abläuft, während sich die Kaufsache zur Nacherfüllung beim Unternehmer befindet (BT-Drs. a.a.O.). Allerdings stellt die Vorschrift klar, dass sich die Ablaufhemmung nur auf solche Mängel bezieht, die auch zuvor geltend gemacht wurden. Zeigt sich also während der Ablaufhemmung ein anderer als der geltend gemachte Mangel, wird die Verjährung nicht gehemmt. Damit soll eine ungerechtfertigte Privilegierung des Verbrauchers, der während der Verjährungsfrist einen anderen Mangel geltend gemacht hat, gegenüber dem Verbraucher, der während der Verjährungsfrist keinen Mangel geltend gemacht hat, verhindert werden (BT-Drs. 19/27424, S. 42).

V. (Kein) Ausschluss der Verjährung
Bei einem Verbrauchsgüterkauf ist ein Ausschluss der Gewährleistung grds. unwirksam. Das ergibt sich aus § 476 I S. 1 BGB. Nach dieser Bestimmung kann sich der Unternehmer auf eine Vereinbarung, die zum Nachteil des Verbrauchers von den §§ 433-435, 437, 439-441 und 443 BGB sowie von den Vorschriften der §§ 474 ff. BGB abweicht, nicht berufen. Das gilt selbst dann, wenn sich der Verbraucher mit dem Gewährleistungsausschluss einverstanden erklärt oder diesen sogar anbietet, um den Kaufvertrag überhaupt abschließen zu können. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass beim Verbrauchsgüterkauf der Gesetzgeber die Gewährleistungsrechte der Dispositionsbefugnis der Parteien entziehen wollte. Das gilt auch für den von der Norm des § 476 BGB geschützten Verbraucher. Dieser kann auf seinen Schutz insoweit nicht verzichten (die von § 476 I S. 1 BGB genannten Vorschriften sind insoweit zwingendes Recht).

Allerdings gewährt das Verbrauchsgüterkaufrecht auch Abweichungsmöglichkeiten. So können gem. § 476 I S. 2 BGB die Vertragsparteien vereinbaren, dass sie von den Anforderungen nach § 434 III BGB oder § 475b IV BGB abweichen, sofern sie diese Vereinbarung vor Mitteilung eines Mangels an den Unternehmer treffen. Voraussetzungen für die Abweichung sind ausweislich des Wortlauts des § 476 I S. 2 BGB aber zusätzlich,
  • dass der Unternehmer den Verbraucher vor der Abgabe seiner Vertragserklärung eigens davon in Kenntnis gesetzt hat, dass ein bestimmtes Merkmal der Ware von den objektiven Anforderungen abweicht (Nr. 1),
  • und diese Abweichung im Vertrag ausdrücklich und gesondert vereinbart wurde (Nr. 2).
Der Verbraucher muss also zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags eigens darüber in Kenntnis gesetzt worden sein. Damit ist gemeint, dass die Inkenntnissetzung vor Abgabe der Vertragserklärung des Verbrauchers erfolgt sein muss. Zudem muss der Verbraucher bei Abschluss des Kaufvertrags dieser Abweichung ausdrücklich und gesondert zustimmen (Art. 7 V WKRL), wobei § 476 I S. 2 Nr. 2 BGB in Abweichung zu Art. 7 V WKRL eine ausdrückliche und gesonderte Vereinbarung der Abweichung im Vertrag verlangt. Die deutsche Fassung weicht also von der des Art. 7 V WKRL ab, was aber nach Art. 4 WKRL nicht zulässig ist. Danach ist es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, strengere oder weniger strenge Vorschriften zur Gewährleistung eines anderen Verbraucherschutzniveaus einzuführen. Lediglich dem Verkäufer ist es anheimgestellt, dem Verbraucher Vertragsbedingungen anzubieten, die über den in der WKRL vorgesehenen Schutz hinausgehen (Art. 21 II WKRL).

Möchte also der Unternehmer von den Anforderungen des § 434 III BGB oder des § 475b IV BGB (zum Nachteil des Verbrauchers) abweichen, muss er den Verbraucher vor Vertragsschluss „eigens“ (i.S.v. speziell oder besonders) darauf hinweisen und die Abweichung muss gem. § 476 I S. 2 Nr. 2 BGB (richtlinienwidrig) im Vertrag, jedenfalls aber ausdrücklich und gesondert vereinbart werden. Damit soll offenbar vermieden werden, dass der Verkäufer den Verbraucher zu „überrumpeln“ versuchen könnte, wenn er die an sich zulässigen Abweichungen von den Verbraucherrechten erst im Kaufvertrag und zudem an „versteckter“ Stelle erwähnt. Die nach § 476 I S. 2 Nr. 2 BGB zulässigen Abweichungen von den Anforderungen nach § 434 III BGB oder § 475b IV BGB müssen also (im Vertrag) deutlich erkennbar so platziert werden, dass sie vom Verbraucher ohne weiteres wahrgenommen werden können. Aufgrund der Vorgabe „gesondert“ wird man eine räumliche Abgrenzung zum eigentlichen Vertragstext fordern müssen, ähnlich wie das bei Belehrungen über Widerrufsrechte oder Datenerhebungseinverständniserklärungen gehandhabt wird („Ausdrücklichkeitserklärung“). Gleichwohl darf nicht übersehen werden: Der vollharmonisierend wirkende Art. 7 V WKRL verlangt, dass der Verbraucher bei Abschluss des Kaufvertrags dieser Abweichung ausdrücklich und gesondert zugestimmt hat. Das Merkmal „gesondert“ wird man also so verstehen müssen, dass die Zustimmung separat erfolgen muss (und nicht im Vertrag – wenn auch „räumlich gesondert“ – erfolgen darf). Die Kollision mit Art. 7 V WKRL wird man – da eine Auslegung insoweit nicht möglich ist – über den Anwendungsvorrang des EU-Rechts lösen müssen: Der Art. 7 V WKRL entgegenstehende Textbestandteil „im Vertrag“ in § 476 I S. 2 Nr. 2 BGB ist nicht anwendbar.

Beispiel: Bietet V in seinem Onlineshop sog. B-Ware (Ausstellungsstücke/Vorführware mit leichten Gebrauchsspuren; Artikel mit fehlender Originalverpackung etc.) an, liegt darin noch kein Sachmangel, sofern sich die Artikel für die gewöhnliche Verwendung eignen, eine Beschaffenheit aufweisen, die bei Sachen derselben Art üblich ist und die der Käufer unter Berücksichtigung der Art der Sache erwarten kann, oder sie mit einer Verpackung übergeben werden, die der Käufer erwarten kann (§ 434 III S. 1 Nr. 1, 2a und 4 BGB). Bei einem Ausstellungsstück, einer Vorführware oder Gebrauchtware muss der Käufer also Gebrauchsspuren, Kratzer etc. hinnehmen, soweit sie nicht über das übliche Maß hinausgehen. Lediglich, wenn der Kaufgegenstand darüber hinausgehende Defizite aufweist, liegt ein Sachmangel i.S.v. § 434 III BGB vor, außer, es wurde „wirksam etwas anderes vereinbart“ (§ 434 III S. 1 BGB) – „negative Beschaffenheitsvereinbarung“. Bei einem Verbrauchsgüterkaufvertrag muss jedoch gem. § 476 I S. 2 BGB der Unternehmer den Verbraucher
  • vor der Abgabe seiner Vertragserklärung eigens davon in Kenntnis setzen, dass ein bestimmtes Merkmal der Ware von den objektiven Anforderungen abweicht, und
  • die Abweichung muss (im Vertrag) ausdrücklich und gesondert vereinbart werden.
Während das „eigens davon in Kenntnis setzen“ bspw. durch eine Produktbeschreibung auf der Internetseite erfolgen kann (Beispiel: Hinweis, dass das Produkt Kratzer aufweist, die trotz Vorführobjekts nicht üblich sind), muss die „negative Beschaffenheitsvereinbarung“ ausdrücklich und gesondert erfolgen. Ob bei Käufen im Onlineshop hierzu das Anklicken einer Checkbox („Ich habe von den Mängeln Kenntnis genommen“) genügt, ist unklar. Zwar dürfte es richtlinienkonform sein, wenn die Zustimmung des Verbrauchers mittels Schaltfläche erfolgt (da Art. 7 V WKRL sie nicht „im Vertrag“ fordert). Jedoch darf dies nicht zu unspezifiziert sein, da der Verbraucher zustimmen muss, dass ein bestimmtes Merkmal der Ware von den objektiven Anforderungen abweicht. Die entsprechende Checkbox muss deutlich Bezug nehmen zum konkreten Artikel, dessen Artikelbeschreibung die Abweichungen im Einzelnen enthält.

C. Fazit zum neuen Kaufrecht 2022
Anhand des zum 1.1.2022 geänderten § 434 BGB, der für alle Kaufverträge gilt, obwohl die umzusetzende Warenkaufrichtlinie nur zu Verbrauchsgüterkaufverträgen ergangen ist, gilt: Während die amtliche Überschrift des § 434 BGB von „Sachmangel“ spricht und daher die Vermutung nahelegt, der Gesetzgeber beschreibe in der Vorschrift die Voraussetzungen, unter denen ein Sachmangel anzunehmen ist, finden sich tatsächlich in der Vorschrift Voraussetzungen, unter denen eine Mangelfreiheit gegeben ist. Um also einen Sachmangel annehmen zu können, muss man nach dem Ausschlussprinzip bzw. nach dem Umkehrschlussprinzip vorgehen: Danach ist vom Vorliegen eines Sachmangels auszugehen, wenn nicht die gesetzlich formulierten Voraussetzungen der Mangelfreiheit kumulativ vorliegen. Der Ansatz wird damit deutlich: Erst nach Prüfung der in § 434 II-V BGB genannten „Positivvoraussetzungen“ ist eine Mangelfreiheit anzunehmen. So ist nach § 434 I BGB die Sache (nur) dann frei von Sachmängeln („Fehlern“), wenn sie bei Gefahrübergang (darunter ist grds. der Zeitpunkt der Übergabe gem. § 446 S. 1 BGB zu verstehen) den subjektiven (§ 434 II BGB), den objektiven Anforderungen (§ 434 III BGB) sowie den Montageanforderungen (§ 434 IV BGB) entspricht. Damit nennt § 434 I BGB also drei Fallgruppen bzw. Kriterien, die kumulativ vorliegen müssen, damit die Mangelfreiheit angenommen werden kann. Fehlt es auch nur an einer dieser Voraussetzungen, liegt Mangelhaftigkeit vor, wobei es gem. § 434 V BGB dem Sachmangel gleichsteht, wenn der Verkäufer eine andere Sache als die vertraglich geschuldete liefert – Falschlieferung, auch Aliud-Lieferung genannt („Äpfel bestellt, Birnen erhalten“). Es müssen also sämtliche Anforderungen/Kriterien des § 434 II-V BGB vorliegen, um die Mangelfreiheit festzustellen.

Bei Verbrauchsgüterkaufverträgen, also in erster Linie bei Verträgen, durch die ein Verbraucher (§ 13 BGB) von einem Unternehmer (§ 14 BGB) eine Ware (§ 241a I BGB) kauft (§ 474 I S. 1 BGB), stellt § 475b BGB Anforderungen an die Mangelfreiheit.


Rolf Schmidt (01.01.2022)

Datei herunterladen
Share by: