Aktuelles 2019

Beiträge 2019


Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

an dieser Stelle möchte ich aktuelle Entwicklungen in Form von Gesetzesnovellen und Urteilsanmerkungen aufzeigen und gleichzeitig Inhalte meiner Bücher aktualisieren. Für das Jahr 2019 werden bislang folgende Themen behandelt (Thema bitte durch Anklicken auswählen):
  1. Staats-/Verfassungsrecht: Prüfung von Akten deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab von Unionsgrundrechten (d.h. von Grundrechten der EU-Grundrechtecharta) durch das BVerfG (01.12.2019)
  2. Staats-/Verfassungsrecht: Zur (Un-)Vereinbarkeit der Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II („Hartz-IV-Sanktionen“) mit dem Grundgesetz (09.11.2019)
  3. Staats-/Verfassungsrecht: Zur Frage, ob eine Pflicht des Staates besteht, Mehrehen in Deutschland anzuerkennen bzw. zuzulassen (27.10.2019)
  4. Strafrecht: Zur Weite des prozessualen Tatbegriffs beim Strafklageverbrauch (15.09.2019)
  5. Strafrecht: Manipulation am EAN- bzw. GTIN-Code im Kaufhaus als Betrug und Urkundenfälschung? (02.09.2019)
  6. Strafrecht: Notwehr gegen Drohnen? (01.09.2019)
  7. Verfassungsrecht/Grundrechte: Ausweitung der Figur der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte? (24.08.2019)
  8. Strafrecht: Konkurrenzen beim Wohnungseinbruchdiebstahl (22.08.2019)
  9. Familienrecht: Zur Problematik der Adoption von Kindern des nichtehelichen Lebenspartners (19.08.2019)
  10. Strafrecht: Zur Problematik der Teilverwirklichungsregel beim unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung (12.08.2019)
  11. Strafrecht: Aktuelle Tendenzen bei der Annahme eines minder schweren Falls des Totschlags (11.08.2019)


01.12.2019: Prüfung von Akten deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab von Unionsgrundrechten (d.h. von Grundrechten der EU-Grundrechtecharta) durch das BVerfG

BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 („Recht auf Vergessenwerden II“)

Mit Beschluss v. 06.11.2019 hat der Erste Senat des BVerfG (1 BvR 276/17) entschieden, dass es Akte deutscher Stellen, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen des Unionsrechts anwenden, am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. In seinem Parallelbeschluss vom selben Tage (1 BvR 16/13 – „Recht auf Vergessenwerden I“) grenzt es diese Konstellation von derjenigen ab, in der es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht geht, welches das BVerfG primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Ob diese Rechtsprechung (d.h. der „Recht auf Vergessenwerden II“-Beschluss mit Blick auf den angewendeten Prüfungsmaßstab) überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Sachverhalt: K wandte sich gegen die Veröffentlichung eines NDR-Fernsehbeitrags im Internet. Sie verlangte vom Suchmaschinenbetreiber Google, die Verknüpfung ihres Namens mit einem Fernsehbeitrag aufzuheben. Sie hatte für den Beitrag des Fernsehmagazins „Panorama“ mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ ein Interview gegeben. Der Beitrag stellte die Kündigung eines damaligen Mitarbeiters eines Wirtschaftsunternehmens dar, das sie als Geschäftsführerin leitete. K macht geltend, sie habe solche Tricks niemals angewandt. Das Suchergebnis rufe eine negative Vorstellung über sie als Person hervor und verletze sie in ihren Persönlichkeitsrechten.

I. Problemaufriss: Im vorliegenden Fall könnte eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG vorliegen. Dazu müsste jedoch dieses Grundrecht (generell: die Grundrechte des Grundgesetzes) zunächst als Prüfungsmaßstab zur Verfügung stehen. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nicht der Fall, wenn das Unionsrecht über einen vergleichbaren Grundrechtsschutz verfügt und den Sachverhalt einheitlich für die gesamte EU regelt. Dem liegt folgende Überlegung zugrunde: Überträgt die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die EU (siehe Art. 23 I S. 2 GG) und schafft die EU einen effektiven, dem Grundgesetz ebenbürtigen Grundrechtsschutz, werden die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt, wenn die EU in Ausübung der ihr übertragenen Rechtsetzungskompetenz eine Materie wie z.B. Aspekte des Datenschutzes einheitlich und abschließend für die gesamte Union regelt. Folgerichtig sind dann nach der Rechtsprechung des BVerfG bei der Prüfung von vollvereinheitlichten Materien des Unionsrechts die deutschen Grundrechte nicht anwendbar (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 47).

II. Anwendungsvorrang des EU-Rechts: Dass in einem solchen Fall die deutschen Grundrechte nicht anwendbar sind, ist Ausfluss des (generellen) Anwendungsvorrangs des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht der Mitgliedstaaten. In Abgrenzung zum Geltungsvorrang, bei dem bei einer Kollision mit höherrangigem Recht das niederrangige Recht seine Geltung verliert, bedeutet Anwendungsvorrang, dass das mit höherrangigem Recht kollidierende niederrangige Recht zwar nicht ungültig, allerdings in seiner Anwendung gesperrt ist. Anwendungsvorrang liegt aber auch dann vor, wenn das höherrangige Recht schlicht einen Sachverhalt speziell und abschließend regelt. Ließe man in einem solchen Fall das niederrangige Recht ebenfalls zur Anwendung kommen, liefe man ggf. Gefahr, die speziellen und abschließenden Regelungen des höherrangigen Rechts auszuhöhlen.

Das trifft auf das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht zu. In Ermangelung einer Übertragung eines Geltungsvorrangs (einer Übertragung eines Geltungsvorrangs stünden wohl auch Art. 23 I S. 3 GG i.V.m. Art. 79 III GG i.V.m. den Prinzipien des Art. 20 I-III GG entgegen) kann sich lediglich ein Anwendungsvorrang ergeben: Das mit Unionsrecht unvereinbare nationale Recht ist nicht ungültig, aber in seiner Anwendung gesperrt; es wird nicht beachtet.
Der Anwendungsvorrang greift auch dann, wenn dem Unionsrecht nicht nationales einfaches Recht, sondern Verfassungsrecht entgegensteht. Das betrifft im Kern die Kollision des EU-Rechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes. Der EuGH geht seit der Costa/Enel-Entscheidung (EuGH Slg. 1964, 1251 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, aufgegriffen in EuGH NJW 2013, 1215 ff. – Melloni) vom Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor jeglichem nationalen Recht (also auch vor nationalem Verfassungsrecht) aus und beansprucht gleichzeitig für sich eine ausschließliche Prüfungskompetenz (in Bezug auf die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht). Auch das BVerfG erkennt den Anwendungsvorrang des EU-Rechts im Grundsatz an, begründet ihn aber nicht mit den Gründungsverträgen, sondern zum einen mit dem Anwendungsbefehl, der aus den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen folgt (vgl. Art. 59 II S. 1 GG), und zum anderen mit der Integrationsermächtigung des Art. 24 I GG a.F. bzw. des Art. 23 I GG i.d.F. von 1992 (BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; bestätigt in BVerfGE 102, 147 ff. – Bananenmarktordnung; BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold; BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 – Identitätskontrolle).

Das ist konsequent. Überträgt die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die EU (siehe Art. 23 I S. 2 GG) und macht diese von den ihr übertragenen Hoheitsbefugnissen Gebrauch, ist der Staat daran gebunden, solange die EU den ihr gesteckten Rahmen nicht verlässt. Das hat dann die genannte Folge, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts unabhängig davon greift, ob das nationale Recht einschließlich des Verfassungsrechts dem Unionsrecht entgegensteht. Regelt also die EU in Ausübung der ihr übertragenen Rechtsetzungskompetenz eine Materie wie z.B. Aspekte des Datenschutzes einheitlich und abschließend für die gesamte Union (BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17), muss das auf diese Weise geschaffene Rechtsregime jedenfalls dann vorgehen, wenn es eine Materie vollständig determiniert und den Mitgliedstaaten insoweit keine Gestaltungsspielräume lässt. Ob das niederrangige Recht dem entgegensteht, spielt dabei keine Rolle. In diesem Fall bleiben die Grundrechte des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung des BVerfG hinter den Unionsgrundrechten „ruhend in Kraft“  mit der Folge, dass das BVerfG das durch deutsche Stellen angewendete Unionsrecht (d.h. das sekundäre Unionsrecht) auch nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, sondern am Maßstab der Unionsgrundrechte.  Die Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte entspricht freilich nicht dem Regelungsgehalt des Art. 93 GG, der dem BVerfG allein das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab vorgibt, und wird deswegen vom Verfasser auch kritisiert.

III. Grenzen des Anwendungsvorrangs: Der Anwendungsvorrang hat aber auch Grenzen. Verletzt EU-Recht ein durch Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG i.V.m. Art. 1 und 20 GG für integrationsfest erachtetes Verfassungsprinzip, ist es nicht anwendbar und kann daher nicht seinerseits Anwendungsvorrang beanspruchen (Kernaussage BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 ff. – Identitätskontrolle; vgl. auch BVerfG NJW 2016, 2473, 2475 ff. – OMT-Programm der EZB). In Fällen der Kompetenzüberschreitung sind nach der Rechtsprechung des BVerfG daraus hervorgegangene Rechtsakte („Ultra-vires-Akte“) für deutsche Stellen nicht verbindlich (BVerfGE 89, 155, 188 – Maastricht), sodass Prüfungsmaßstab der fraglichen nationalen Norm, die aufgrund von kompetenzüberschreitendem sekundärem EU-Recht ergeht, wieder das Grundgesetz sei. In diesem Fall entscheide dann wieder das BVerfG im Rahmen einer „Ultra-vires-Kontrolle“ (BVerfGE 126, 286, 302 – Honeywell bzw. Mangold).
Das BVerfG entscheidet aber nicht nur im Fall einer Kompetenzüberschreitung eines Organs der EU, sondern auch dann, wenn durch eine Maßnahme der EU in Art. 79 III GG genannte unabänderbare und damit integrationsfeste Verfassungsprinzipien aus Art. 1 GG und Art. 20 GG, die zudem durch Art. 4 II EUV geschützt sind, missachtet würden (vgl. BVerfGE 126, 286, 302 mit Bezugnahme auf BVerfGE 75, 223, 235 ff.; 113, 273, 296; 123, 267, 353 f.; vgl. auch BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle). Sollte durch eine Maßnahme der EU also ein durch Art. 79 III GG für unantastbar erklärter Grundsatz aus Art. 1 GG oder Art. 20 GG berührt werden, findet der Anwendungsvorrang der EU seine Grenzen. In der Annahme einer „Ausnahme“ von seinem Solange-II-Vorbehalt (siehe Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl. 2019, Rn. 358 ff.) erklärt sich das BVerfG dann für zuständig und erklärt den betreffenden EU-Rechtsakt im Rahmen einer „Identitätskontrolle“ (Kontrolle der Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland – vgl. BVerfGE 126, 286, 321; fortgeführt bspw. in BVerfG NJW 2014, 907, 908 ff. und äußerst deutlich gemacht in BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle) für unanwendbar (BVerfG NJW 2016, 1149, 1151 – Identitätskontrolle). Insoweit lässt sich auch von einer „Solange-III-Entscheidung“ sprechen.

Kein Fall des Anwendungsvorrangs besteht, wenn es um die Prüfung von unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht geht. So hat das BVerfG in seinem Parallelbeschluss v. 6.11.2019 (1 BvR 16/13 – „Recht auf Vergessenwerden I“) entschieden, dass es Akte deutscher Gewalt primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Das ist folgerichtig, da hier das Unionsrecht gerade keine abschließende Regelung trifft.

IV. Prüfung nationaler Akte am Maßstab des Unionsrechts, wenn kein Grundrechtsschutz besteht: Ging es bisher ausschließlich um die Frage, ob das BVerfG für die Prüfung von EU-Recht, von Maßnahmen von Organen der EU oder von auf Rechtsakten der EU ergangenen nationalen Akten am Maßstab des Grundgesetzes zuständig ist, gilt es nunmehr der Frage nachzugehen, ob das BVerfG Akte deutscher Gewalt am Maßstab der Unionsgrundrechte prüfen darf. Grundsätzlich ist das wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und der Entscheidungskompetenz des EuGH nicht der Fall. Denn der Anwendungsvorrang sorgt nicht nur dafür, dass die Grundrechte des Grundgesetzes hinter den Unionsgrundrechten „ruhend in Kraft“ bleiben (mit der Folge, dass das BVerfG eine Prüfung von Unionsrecht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes nicht vornimmt, solange die Unionsgrundrechte in gleicher Weise wie die Grundrechte des Grundgesetzes die Menschen und ihre Grundrechte in den Mittelpunkt ihrer Ordnung stellen und den Wesensgehalt und Menschenwürdekern für unantastbar erklären), sondern auch dafür, dass die Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte dem EuGH zusteht. Auch das BVerfG erkennt dies an, solange auf Unionsebene ein dem Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtsstandard gewährleistet ist. Den Grundrechten des Grundgesetzes komme insoweit nur eine Reservefunktion zu.

Werden demzufolge die Grundrechte des Grundgesetzes durch die Unionsgrundrechte verdrängt, d.h. in ihrer Anwendbarkeit gesperrt, kann das BVerfG auch nicht die Vereinbarkeit von Unionsrecht und Maßnahmen innerstaatlicher Stellen, die Unionsrecht anwenden, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüfen.

Die hinter dem Paradigmenwechsel stehende Dogmatik ist klar: Verdrängen Grundrechte der EU diejenigen des Grundgesetzes, können Letztere nicht Prüfungsmaßstab sein. Und für Prüfung von Akten am Maßstab der Unionsgrundrechte ist der EuGH zuständig. Folgerichtig erklärte sich das BVerfG bislang auch nicht zuständig , es sei denn, eine Handlung eines Organs oder einer Einrichtung der EU beruhte auf einer Kompetenzüberschreitung oder sie betraf den nicht übertragbaren Bereich der durch Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG geschützten Verfassungsidentität des Grundgesetzes, freilich mit dem Grundgesetz als Prüfungsmaßstab (s.o.).

Stand ein solcher Fall im Raum, wurde das BVerfG tätig und prüfte im Rahmen der „Ultra-vires-Kontrolle“, ob der fragliche EU-Akt noch von der Kompetenzübertragung gedeckt war (BVerfGE 126, 286, 304 - „Ultra-vires-Kontrolle“), oder im Rahmen der „Identitätskontrolle“, ob der fragliche Rechtsakt eines Organs oder einer Einrichtung der EU ein gem. Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG unveränderliches Verfassungsprinzip aus Art. 1 und 20 GG verletzt hatte (BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. - „Identitätskontrolle“; siehe auch BVerfG NJW 2017, 2894, 2895 ff. - Anleihenkaufprogramm der EZB).

Mit dem vorliegend zu besprechenden Beschluss 1 BvR 276/17 („Recht auf Vergessenwerden II“) distanziert sich das BVerfG von seiner bisherigen Rechtsprechung. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Grundrechte des Grundgesetzes nicht Prüfungsmaßstab sein können, wenn Unionsgrundrecht greift. Und für Prüfung von Akten am Maßstab der Unionsgrundrechte ist der EuGH zuständig (Art. 263 AEUV). Gemäß Art. 19 I S. 2 EUV ist es Aufgabe des EuGH, über Auslegung und Anwendung der Verträge (also des EUV und des AEUV) zu entscheiden. So entscheidet gem. Art. 19 III EUV der EuGH nach Maßgabe der Verträge (insbesondere der Art. 263 ff. AEUV)
  • über Klagen eines Mitgliedstaats, eines Organs oder natürlicher oder juristischer Personen (Vertragsverletzungsverfahren, Nichtigkeits-, Untätigkeits- und Schadensersatzklagen sowie Streitigkeiten in Beamtensachen und Klagen aufgrund von Schiedsklauseln),
  • im Wege der Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe,
  • in allen anderen in den Verträgen vorgesehenen Fällen.
Für Individualbeschwerden in Bezug auf nationale Rechtsakte besteht keine Zuständigkeit. Ein Unionsbürger hat also keine Möglichkeit, direkt vor dem EuGH die Verletzung eines Unionsgrundrechts durch nationale Stellen zu rügen. Und da nach dem Gesagten die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar sind, kann auch schon deshalb nicht die Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes vor dem BVerfG geltend gemacht werden. Das führt zu einer Rechtsschutzlücke, die das BVerfG nunmehr geschlossen hat. Es nimmt für sich eine Prüfungskompetenz dahingehend in Anspruch, dass es das durch deutsche Stellen angewendete Unionsrecht (d.h. das sekundäre Unionsrecht) am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 50). Das entspricht freilich nicht dem Regelungsgehalt des Art. 93 GG und dem der Art. 18 und 21 IV GG sowie 100 I GG, die dem BVerfG allein das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab aufzeigen. Das BVerfG versucht seine Vorgehensweise damit zu rechtfertigen, dass es ja nicht Unionsrecht prüfe, sondern nur die Anwendung von Unionsrecht durch deutsche Stellen. Zwar habe die Bundesrepublik Deutschland über Art. 23 I S. 2 GG Hoheitsrechte auf die EU übertragen. Das bedeute jedoch keinen Rückzug der deutschen Staatsgewalt aus der Verantwortung für die der Union übertragenen Materien, sondern sehe vielmehr eine Mitwirkung der Bundesrepublik an deren Entfaltung vor. In Bezug genommen werde damit ein eng verflochtenes Miteinander der Entscheidungsträger, wie es dem Inhalt der Unionsverträge entspricht. Danach obliege die Umsetzung des Unionsrechts nicht nur den Institutionen der Union, sondern in weitem Umfang auch den Mitgliedstaaten. Innerstaatlich werde dabei das Unionsrecht grundsätzlich nach Maßgabe der grundgesetzlichen Staatsorganisation zur Geltung gebracht. Für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union trügen alle Staatsorgane auch in diesem Sinne Integrationsverantwortung (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 55). Das gelte auch für die Gerichte. Unmittelbar anwendbares Unionsrecht und nationales Umsetzungsrecht seien von den Gerichten nach den Regeln der Prozessordnungen anzuwenden – unabhängig davon, ob es sich um unmittelbar anwendbare Vorschriften der Union selbst oder um unionsrechtlich veranlasstes innerstaatliches Recht handele. Danach obliege es dem BVerfG, bei seiner Kontrolle der Rechtsprechung der Fachgerichte erforderlichenfalls auch die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 57). Diese seien nach Maßgabe des Art. 51 I GRC innerstaatlich anwendbar und bildeten zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn. 59). Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gelte insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht seien. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen sei, sei ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechte zum Prüfungsmaßstab nehme. Würde es sich hier aus dem Grundrechtsschutz herausziehen, könnte es diese Aufgabe mit zunehmender Verdichtung des Unionsrechts immer weniger wahrnehmen. Entsprechend verlange ein vollständiger Grundrechtsschutz die Berücksichtigung der Unionsgrundrechte auch dann, wenn das Schutzniveau der Charta außerhalb vollvereinheitlichter Regelungsmaterien ausnahmsweise Anforderungen stelle, die die grundgesetzlichen Grundrechte nicht abdeckten (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn 60). Der europäische Grundrechtsschutz könne diese Grundrechtsschutzlücke nicht füllen. Denn es bestehe keine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte unmittelbar vor dem EuGH geltend zu machen (BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 Rn 61).

V. Stellungnahme: Dass keine Möglichkeit Einzelner besteht, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte unmittelbar vor dem EuGH geltend zu machen, ist richtig. Damit ist aber nicht der Weg frei für eine Überprüfung staatlicher Maßnahmen durch das BVerfG am Maßstab der Unionsgrundrechte. Denn der dem BVerfG zur Verfügung stehende Prüfungsmaßstab ist von Art. 93 GG vorgegeben. Danach prüft das BVerfG Akte öffentlicher Gewalt nur am Maßstab des Grundgesetzes. Die vorliegende Entscheidung ist offensichtlich von dem Bemühen getragen, einen Individualgrundrechtsschutz zu ermöglichen. Das ist selbstverständlich ein richtiges Anliegen. Eine Reflexion der Begründung fördert jedoch die Ergebnisorientiertheit und gleichzeitig die Schwäche des Systems übertragener Hoheitsrechte zutage: Art. 23 I S. 2 GG ist gerade kein eng verflochtenes Miteinander der Entscheidungsträger (hier: EuGH und BVerfG) zu entnehmen. Vielmehr ist eindeutig von einer Übertragung von Hoheitsrechten die Rede. Werden Hoheitsrechte übertragen, bleibt kein Raum für ein „Miteinander“ und einen Verbleib von Zuständigkeiten auf dem Gebiet übertragener Hoheitsrechte. Ebenso wenig ist Art. 23 I S. 2 GG (wie Art. 93 GG) zu entnehmen, dass dem BVerfG die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab zur Verfügung stehen sollen. Die Argumentationslinie des BVerfG ist daher methodisch nicht überzeugend. Nach der hier vertretenen Auffassung hätte es sich angeboten, die Grundrechte des Grundgesetzes unmittelbar als Prüfungsmaßstab anzusehen und heranzuziehen. Denn Prüfungsgegenstand war letztlich ja eine Maßnahme nationaler Stellen, auch wenn diese lediglich eine vollvereinheitlichte Materie des Unionsrechts angewendet haben. Steht in einem solchen Fall ein Verfahren vor dem EuGH nicht zur Verfügung, hätte das BVerfG darauf abstellen können, dass dann auch kein Anwendungsvorrang des Unionsrechts greift und das BVerfG „zur Wahrung der Verfassungsidentität“ staatliche, auf zwingenden Regeln des EU-Rechts basierende Maßnahmen am Maßstab des Grundgesetzes prüft. Wie bereits aufgezeigt, nimmt das BVerfG für sich eine Prüfungskompetenz am Maßstab des Grundgesetzes nicht nur im Fall einer Kompetenzüberschreitung eines Organs der EU, sondern auch dann in Anspruch, wenn durch eine Maßnahme der EU in Art. 79 III GG genannte unabänderbare und damit integrationsfeste Verfassungsprinzipien aus Art. 1 GG und Art. 20 GG, die zudem durch Art. 4 II EUV geschützt sind, missachtet würden (vgl. BVerfGE 126, 286, 302 mit Bezugnahme auf BVerfGE 75, 223, 235 ff.; 113, 273, 296; 123, 267, 353 f.; vgl. auch BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle). Das hat zur Folge, dass der Anwendungsvorrang der EU seine Grenzen findet und dies vom BVerfG in der Annahme einer „Ausnahme“ von seinem Solange-II-Vorbehalt (siehe Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl. 2019, Rn. 358 ff.) im Rahmen einer „Identitätskontrolle“ (Kontrolle der Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland – vgl. BVerfGE 126, 286, 321; fortgeführt bspw. in BVerfG NJW 2014, 907, 908 ff. und äußerst deutlich gemacht in BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 f. – Identitätskontrolle) festzustellen wäre (BVerfG NJW 2016, 1149, 1151 – Identitätskontrolle). Demnach hätte das BVerfG im Rahmen einer „weiteren Ausnahme“ von seinem Solange-II-Vorbehalt ebenso entscheiden können, es prüfe Maßnahmen nationaler Stellen am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn diese vollvereinheitlichte Materien des Unionsrechts anwenden. Denn findet infolge einer Rechtsschutzlücke, die das EU-Primärrecht hinterlässt, keine unmittelbare Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte durch den EuGH statt, kommt den Grundrechten des Grundgesetzes gerade keine „Reservefunktion“ zu. Rechtsdogmatisch und rechtsmethodisch ist dieser Weg demjenigen, den das BVerfG gewählt hat, vorzuziehen. Das BVerfG entscheidet – wie sich aus Art. 93 GG ergibt – ausschließlich am Maßstab des Grundgesetzes. Das ergibt sich auch aus seiner sonstigen Rechtsprechung, wonach seine Aufgabe darin bestehe, als „Hüter der Verfassung“ (so ausdrücklich BVerfGE 1, 184, 195 ff.; 1, 396, 408 f.; 2, 124, 131; 6, 300, 304; 40, 88, 93) die Normen des Grundgesetzes verbindlich auszulegen und anzuwenden und hierbei insbesondere dafür zu sorgen, dass die Staatsgewalt die gezogenen Grenzen nicht überschreitet und die der Verfassung zugrunde liegenden obersten Richtwerte verwirklicht werden (Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 20. Aufl. 2019, Rn. 614). Von „Hüter der Verträge bzw. der Unionsgrundrechte“ ist dort ebenso wenig zu lesen wie in den Art. 23 und 93 GG. Für den vorliegenden Fall ergibt sich somit:

Prüfungsmaßstab sind – anders als das BVerfG meint – nicht die Persönlichkeitsrechte der K aus Art. 7 und Art. 8 GRC, die mit der unternehmerischen Freiheit der Suchmaschinenbetreiber aus Art. 16 GRC und den Grundrechten der jeweiligen Inhalteanbieter aus Art. 11 GRC sowie den Informationsinteressen der Internetnutzer ebenfalls aus Art. 11 GRC abzuwägen wären, sondern vielmehr sind die betroffenen Grundrechte des Grundgesetzes miteinander und gegeneinander abzuwägen. So sind die Persönlichkeitsrechte der K aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG mit der unternehmerischen Freiheit der Suchmaschinenbetreiber aus Art. 12 GG und den Grundrechten der jeweiligen Inhalteanbieter aus Art. 5 I GG sowie den Informationsinteressen der Internetnutzer aus Art. 5 I GG abzuwägen, und zwar im Rahmen der streitentscheidenden Normen der §§ 823 und 1004 BGB. Sollte das BVerfG bei seinem danach gefundenen Ergebnis Zweifel an der Vereinbarkeit mit Unionsrecht haben, muss es das Verfahren aussetzen und gem. Art. 267 AEUV die Rechtsfrage dem EuGH vorlegen.

VI. Zusammenfassung:
Das gesamte Unionsrecht genießt im Kollisionsfall Anwendungsvorrang vor dem einfachen nationalen Recht und grds. auch vor dem nationalen Verfassungsrecht. Das folgt aus europäischer Sicht aus der in Art. 4 III EUV verankerten Unionstreue, aus nationaler Sicht aus dem Anwendungsbefehl, der aus den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen folgt (vgl. Art. 59 II GG), sowie aus der Integrationsermächtigung des Art. 24 I GG a.F. bzw. des Art. 23 I GG i.d.F. von 1992. Der Anwendungsvorrang greift aber nicht, wenn eine Handlung eines Organs oder einer Einrichtung der EU
  •  auf einer Kompetenzüberschreitung beruht (was im Rahmen einer „Ultra-vires-Kontrolle“ geprüft wird)
  • oder sie den nicht übertragbaren Bereich der durch Art. 23 I S. 3 i.V.m. Art. 79 III GG geschützten Verfassungsidentität des Grundgesetzes betrifft (was im Rahmen einer „Identitätskontrolle“ geprüft wird).
  • Nach der hier vertretenen Auffassung greift der Anwendungsvorrang auch nicht, wenn Individualrechtsschutz vor dem EuGH nicht besteht. In diesem Fall leben die Grundrechte des Grundgesetzes wieder auf und stehen dem BVerfG als Prüfungsmaßstab zur Verfügung (a.A. freilich BVerfG 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, das in diesem Fall für sich die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab in Anspruch nimmt).  
In der künftigen Rechtsanwendung wird man auf der Basis der soeben besprochenen Entscheidung BVerfG 1 BvR 276/17 hinsichtlich des anwendbaren Prüfungsmaßstabs exakt differenzieren müssen:
  • Akte deutscher Stellen, die unionsrechtlich vollständig determinierte Regelungen des Unionsrechts anwenden, werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Zu den unionsrechtlich vollständig determinierenden Regelungen wird man etwa die betreffenden Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zählen müssen (dann wären Prüfungsmaßstab von nationalen Maßnahmen die betreffenden Bestimmungen der DSGVO und letztlich Art. 7 und 8 GRC). Auf Richtlinienebene sind vollharmonisierende Regelungen des zivilistischen Verbraucherschutzrechts zu nennen, etwa die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, die – im Übrigen nicht auf den Verbrauchsgüterkauf beschränkt – eine Vollharmonisierung auf EU-Ebene insbesondere im Fernabsatzrecht erreichen möchte (siehe Erwägungsgründe 2, 4, 5, 7 und 9 sowie Art. 4 der RL). Eine weitgehende Vollharmonisierung besteht auch hinsichtlich der Warenkaufrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/771), deren Zweck es ist, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des (digitalen) Binnenmarkts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen (siehe Art. 1 der RL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3), und hinsichtlich der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (Richtlinie (EU) 2019/770), die gemeinsame Vorschriften für bestimmte Anforderungen an Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern über die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen festlegt und in ihren Kernbereichen (wie die Warenkaufrichtlinie) eine weit reichende Vollharmonisierung vorsieht; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 4 der RL i.V.m. Erwägungsgrund 11; lediglich einzelne Materien wie die Verjährungsregelung sind einer abweichenden Regelung zugänglich, siehe Erwägungsgrund 58). Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit nationaler Regelungen werden danach also grundsätzlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein.
  • Geht es um unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, ist dieses am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Als Anwendungsfelder seien diejenigen Vorschriften der DSGVO genannt, die den Mitgliedstaaten Spielräume lassen, wie z.B. Art. 85 II DSGVO („Medienprivileg“) oder Art. 88 DSGVO in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz. Auch die „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) determiniert nicht vollständig das nationale Recht, da sie lediglich Mindeststandards setzt, den Mitgliedstaaten Spielräume lässt und Abweichungsbefugnisse enthält. Des Weiteren ist § 6a ATDG zu nennen, der ebenfalls kein (zwingendes) Unionsrecht umsetzt, da die Richtlinie 2002/58/EG („ePrivacy“-Richtlinie), die Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Richtlinie im Bereich von Justiz und Inneres) und die Richtlinie (EU) 2017/541 (Terrorismusbekämpfungs-Richtlinie) nur Grundsätze und Mindeststandards festlegen. In diesen Fällen sind die Grundrechte des Grundgesetzes nicht in ihrer Anwendung gesperrt und das BVerfG prüft innerstaatliches Recht, das der Durchführung von Unionsrecht dient, am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, freilich in richtlinienkonformer Auslegung, was bedeutet, dass die Unionsgrundrechte zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten sind.
  • Rein nationale Akte sind von der vorstehenden Problematik nicht berührt. Für diese gelten von vornherein ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab.
Betrachtet man die beiden zuerst genannten Konstellationen, ist – von der dogmatischen Problematik abgesehen – die Überlegung auf die Frage zu fokussieren, ob das betreffende Unionsrecht das nationale Recht nun vollständig determiniert oder diesem Spielräume oder Abweichungsbefugnisse lässt, was – bei unklarem Wortlaut – letztlich durch Auslegung (freilich durch den EuGH am Maßstab des EU-Primärrechts) zu ermitteln ist. Im Extremfall kann es sogar sein, dass ein Teil einer Vorschrift des Sekundärrechts das nationale Recht vollständig determiniert und ein anderer Teil derselben Vorschrift dem Mitgliedstaat Spielräume bzw. Abweichungsbefugnisse lässt. Die daraus resultierende Rechtsfolge ist so vorhersehbar wie ambivalent: Der eine Teil der Vorschrift muss sich an Unionsgrundrechten messen lassen, der andere Teil an den nationalen Grundrechten. Wenn sich wenigstens noch sagen ließe, in den meisten Fällen sei das jeweilige Schutzniveau (Grundrecht des Grundgesetzes, Grundrecht der EU-Grundrechtecharta) vergleichbar, sodass sich die gespaltene Prüfung materiell-rechtlich im Ergebnis nicht auswirke. Dem ist aber nicht so, da sich die Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten der GRC im Hinblick auf die Gewichtung öffentlicher Interessen oder auf die Verarbeitung von Wertungskonflikten bei Grundrechtskollisionen sowie auf die Prüfungsdichte (d.h. die Dichte gerichtlicher Kontrolle von staatlichen Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte) von den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen von Grundrechten des Grundgesetzes unterscheiden (BVerfG, „Recht auf Vergessenwerden II“). Daher wird der Rechtsanwender nicht umhinkommen, seiner Grundrechtsprüfung zunächst eine (umfangreiche) Anwendbarkeitsprüfung voranzustellen, denn es muss ja der Prüfungsmaßstab feststehen. Ist demnach ein Grundrecht der EU-Grundrechtecharta anwendbar, muss man folgerichtig auch die hier hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH beachten.

Anwendungsgebiete werden nicht nur Umweltschutzbestimmungen bieten, sondern auch Datenschutz- und Verbraucherschutzbestimmungen, ist die EU bekanntermaßen ja sehr aktiv auf diesen Gebieten. Virulent wird dies bei den bereits erwähnten Richtlinien (EU) 2019/771 (Warenkaufrichtlinie – WKRL) und (EU) 2019/770 (Digitale-Inhalte-Richtlinie – DIRL). Beide sehen eine weit reichende Vollharmonisierung vor; abweichende nationale Bestimmungen sind auf diesen Gebieten ausgeschlossen (siehe Art. 1 WKRL i.V.m. ihren Erwägungsgründen 1 und 3 und Art. 4 DIRL i.V.m. deren Erwägungsgrund 11). Nationale Umsetzungsakte werden also unionsrechtlich vollständig determiniertes Recht darstellen mit der Folge, dass Streitigkeiten über deren Rechtmäßigkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte zu entscheiden sein werden.

Aber auch hinsichtlich des Datenschutzrechts kann die Abgrenzung zwischen unionsrechtlich vollständig determinierenden und unionsrechtlich nicht vollständig determinierenden Regelungen des Unionsrecht schwierig sein.  Art. 85 DSGVO („Medienprivileg“) und Art. 88 DSGVO ( Beschäftigtendatenschutz) wurden bereits als unionsrechtlich nicht vollständig determinierenden Regelungen des Unionsrecht genannt.  Für den Bereich der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit ist die Datenschutz-Grundverordnung nicht anwendbar ist (siehe Art. 2 II lit. d) DSGVO). Daher stellt sich die Frage, ob die vom europäischen Parlament und dem Rat erlassene Richtlinie (EU) 2016/680 („Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“) eine unionsrechtlich vollständig determinierende Regelung darstellt. Wäre dies der Fall, dürften nationale Maßnahmen, die in Umsetzung dieser Richtlinie erlassen wurden, am Maßstab der Richtlinie und letztlich am Maßstab der Art. 7 und 8 GRC, nicht am Maßstab des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG zu messen sein. Der Maßstab des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG wäre nur dann eröffnet, wenn die Richtlinie unionsrechtlich nicht vollständig determinierte, sie also Spielräume ließe und die nationalen Maßnahmen lediglich diese Spielräume ausfüllten. Ob die Richtlinie Spielräume lässt, ist anhand ihres Zwecks und Regelungsinhalts zu ermitteln. Hilfestellung geben die Erwägungsgründe.
Der Zweck der Richtlinie besteht in „der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ (siehe Art. 1 I und die Erwägungsgründe 7 und 11). Da die Richtlinie insbesondere gemäß ihrem Erwägungsgrund 33 lediglich Mindeststandards im Datenschutz vorsieht, dürfen nationale Bestimmungen ein noch höheres Schutzniveau aufweisen. Im Rahmen der Gegenstände des Art. 38 der Richtlinie dürfen nationale Regelungen auch abweichen.
Aus alledem folgt, dass die Richtlinie (EU) 2016/680 kein vollständig determiniertes Unionsrecht darstellt. Prüfungsmaßstab für nationale Akte ist damit folgerichtig Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, freilich in richtlinienkonformer Auslegung.
Mithin gilt: Sämtliche polizeilichen Maßnahmen der Informationsbeschaffung mit Bezug zu personenbezogenen Daten sind am Maßstab des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG zu prüfen und im Lichte der „Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz“ (Richtlinie (EU) 2016/680) vorzunehmen.    


VII. Hinweis für die Fallbearbeitung: Man kann u.a. auf die Konstellation treffen, in der sich der Kläger durch einen Rechtsakt deutscher Behörden in Anwendung von nicht vollvereinheitlichtem Unionsrecht in seinen Grundrechten des Grundgesetzes verletzt sieht und hiergegen vor dem zuständigen deutschen Verwaltungsgericht klagt. Da das deutsche Verwaltungsgericht zwar deutsches untergesetzliches Regelwerk (bestimmte Rechtsverordnungen und Satzungen), nicht aber Unionsrecht für nicht anwendbar erklären kann (hierzu ist nur der EuGH befugt), kann bzw. muss es für den Fall, dass es Sekundärrecht für mit Primärrecht unvereinbar hält, das Verfahren aussetzen und die fragliche Europarechtsnorm dem EuGH vorlegen, sog. Vorabentscheidung (vgl. Art. 256 III, 267 AEUV – vgl. dazu etwa den Vorlagebeschluss des BVerfG NJW 2014, 907 ff.).
Es kann aber auch vorkommen, dass sich ein Bürger gegen einen Akt einer deutschen staatlichen Stelle wendet, die vollvereinheitlichtes Unionsrecht (wie z.B. Aspekte des Datenschutzrechts) anwendet (vorliegende Konstellation). Da ihm in diesem Fall nicht die Direktklage vor dem EuGH offensteht (siehe Art. 263 IV AEUV, der von Handlungen und Rechtsakten der Union ausgeht), kommen nur der nationale Rechtsweg und – nach dessen Erschöpfung – Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG in Betracht. Hierbei ist dann das Problem zu lösen, dass dem BVerfG an sich nur das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab offensteht, vorliegend es sich jedoch um vollvereinheitlichtes Unionsrecht handelt (das lediglich von nationalen Stellen angewendet wird). Während das BVerfG in diesem Fall eine Überprüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte vornimmt (weil die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar seien), sind nach der hier vertretenen Auffassung die Grundrechte des Grundgesetzes sehr wohl anwendbar. Nach dem hier vertretenen Standpunkt stehen die Unionsgrundrechte – wie sich aus Art. 23 und 93 GG ergibt – dem BVerfG in keinem Fall als Prüfungsmaßstab zur Verfügung. Da aber die Individualverfassungsbeschwerde zu den in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen (hier: Demokratie und Rechtsstaat) und damit zur „Verfassungsidentität“ gehört, kann das BVerfG staatliche Maßnahmen – auch wenn sie vollvereinheitlichtes Unionsrecht anwenden – am Maßstab des Grundgesetzes prüfen. Man wird sogar sagen müssen: Lässt das Unionsrecht Rechtsschutzlücken, kann es insoweit auch keinen Anwendungsvorrang für sich beanspruchen. Kann also ein Verstoß gegen Unionsgrundrechte nicht vom EuGH geprüft werden, bleibt es bei der Anwendung der nationalen Gerichtsbarkeit, freilich mit den nationalen Grundrechten als Prüfungsmaßstab. Auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen, heißt das: Das BVerfG prüft unionsrechtlich determinierte Akte deutscher öffentlicher Gewalt am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Die vom BVerfG mit Blick auf Art. 23 I GG postulierte „Integrationsverantwortung“ vermag sich nicht über Art. 93 GG hinwegzusetzen, der das Grundgesetz als dem BVerfG zur Verfügung stehenden Prüfungsmaßstab vorgibt.

VIII. Prüfungsschema: Sollte man gleichwohl die (für die Praxis freilich bindende) Auffassung des BVerfG teilen, ergibt sich hinsichtlich vollvereinheitlichten Unionsrechts folgendes Prüfungsschema:  

1. Prüfung des Determinationsgrades
Hier ist zu prüfen, ob der fragliche Akt deutscher öffentlicher Gewalt
  • eine unionsrechtlich vollständig determinierte Regelung umsetzt,
  • lediglich unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht darstellt
  • oder es sich bei ihm gar um einen rein nationalen Akt ohne Unionsrechtsbezug handelt.
Ausschließlich Akte deutscher Stellen, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen des Unionsrechts anwenden, werden am Maßstab der Unionsgrundrechte geprüft, soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden. Im Übrigen greifen die Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab, freilich in europarechtskonformer Auslegung, sofern unionsrechtlich beeinflusst.
Welche der drei Konstellationen vorliegt, ist mitunter anhand einer umfangreichen Prüfung des Unionsrechts zu ermitteln und ggf. durch Entscheidung des EuGH zu klären. 

2. Prüfung der Maßnahme am Maßstab des anwendbaren Grundrechts
Steht demnach der Prüfungsmaßstab fest, ist die staatliche Maßnahme am Maßstab des auf den Sachverhalt anwendbaren Grundrechts zu prüfen. 
  • So gelten für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom BVerfG entwickelten Grundsätze.
  • Für die Prüfung der fraglichen staatlichen Maßnahme am Maßstab der Unionsgrundrechte gelten die allgemeinen Grundrechtslehren, die spezifischen grundrechtlichen Anforderungen und auch die übrigen vom EuGH entwickelten Grundsätze. Diese können, müssen aber nicht identisch sein mit denen einer Grundrechtsprüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes.  

Rolf Schmidt (01.12.2019)


 
09.11.2019: Zur (Un-)Vereinbarkeit der Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II („Hartz-IV-Sanktionen“) mit dem Grundgesetz

BVerfG, Urt. v. 05.11.2019 – 1 BvL 7/16

Sachverhalt: Der das Verfahren ins Rollen bringende K hat eine abgeschlossene Berufsausbildung im Bereich Lager/Logistik. Nachdem die Höchstdauer des Bezugs von ALG I verstrichen war, erhielt er im Anschluss daran erstmals Leistungen nach dem SGB II. Eine zwischenzeitig begonnene Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation brach er ab. Das Jobcenter bewilligte sodann erneut ALG II in Form des Regelbedarfs und übernahm die anfallenden Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Vermittlung eines Arbeitsplatzes als Lagerarbeiter schlug er aus; er habe kein Interesse an dieser Tätigkeit, sondern interessiere sich für den Verkaufsbereich. Nach einer vorherigen Anhörung des K und einem Hinweis auf Sanktionen hob das Jobcenter den Bewilligungsbescheid teilweise auf und minderte das ALG II um 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Man habe K ein zumutbares Beschäftigungsverhältnis als Lager- und Transportarbeiter angeboten, das dieser aber trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht angenommen habe.
Später verfügte das Jobcenter mit dem eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt, dass K bei einem Arbeitgeber innerhalb eines Monats einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein einzulösen habe, um eine praktische Erprobung zu ermöglichen. Dem kam K trotz Belehrung über seine Mitwirkungspflichten und die Rechtsfolgen ihrer Verletzung ebenfalls nicht nach, sodass das Jobcenter in einer 2. Stufe das ALG II für drei Monate monatlich um 60% des Regelbedarfs minderte.
BBei beiden Maßnahmen wies das Jobcenter darauf hin, dass bei einer Minderung um mehr als 30% auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden können. K stellte einen solchen Antrag zu keiner Zeit.
Stattdessen erhob er – nach erfolgloser Durchführung von Widerspruchsverfahren – Klage beim Sozialgericht Gotha. Dieses legte die §§ 31 bis 31b SGB II dem BVerfG mit der Frage vor, ob diese mit Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG sowie mit Art. 12 I GG und mit Art. 2 II S. 1 GG zu vereinbaren seien.

Mit Urteil v. 05.11.2019 hat das BVerfG (1 BvL 7/16) entschieden, dass Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II („ALG II“) bis zu maximal 30% des Regelbedarfs möglich seien; dagegen seien die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60% oder 100% mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien Sanktionen unabhängig von ihrer Höhe, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern sei und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben werde. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

I. Ausgangslage: Erwerbsfähige arbeitsuchende hilfebedürftige Personen (zum Begriff der Erwerbsfähigkeit siehe § 8 SGB II, zum Kreis der Leistungsberechtigten siehe § 7 SGB II, zur Altersgrenze siehe § 7a SGB II und zum Begriff der Hilfebedürftigkeit siehe § 9 SGB II) erhalten nach Maßgabe des SGB II Leistungen zur Grundsicherung (Arbeitslosengeld II; umgangssprachlich auch „Hartz IV“ genannt), § 19 I S. 1 SGB II. Zweck der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist, es Leistungsberechtigten zu ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 I SGB II). Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll aber auch die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 II S. 1 SGB II). Zudem stellt § 1 II S. 2 SGB II den Grundsatz der Subsidiarität auf, indem er die Unterstützung davon abhängig macht, dass die Betroffenen ihren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise bestreiten können. Verfügt eine Person also über Einkommen und/oder Vermögen, ist dies bei der Frage nach der Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen (zum Einkommen siehe §§ 11, 11a, 11b SGB II; zum Vermögen siehe § 12 SGB II). Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen zudem alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen (§ 2 I S. 1 SGB II), bevor sie Unterstützungsleistungen erhalten können. Der Gesetzgeber unterstreicht dabei (auch) den Grundsatz des Forderns: So muss eine erwerbsfähige leistungsberechtigte Person aktiv an allen Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen (§ 2 I S. 2 SGB II; zur Eingliederungsvereinbarung siehe § 15 SGB II). Wenn eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit nicht möglich ist, hat die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person eine ihr angebotene zumutbare (zum Begriff der Zumutbarkeit siehe § 10 SGB II) Arbeitsgelegenheit zu übernehmen (§ 2 I S. 3 SGB II). Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen haben in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten (§ 2 II S. 1 SGB II), und müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen einsetzen (§ 2 II S. 2 SGB II).

Besteht danach (gleichwohl) ein Leistungsanspruch, werden Leistungen gewährt u.a. in Form von
  • Geldleistungen als Regelbedarf (§ 20 SGB II) und Mehrbedarf (§ 21 SGB II)
  • Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II)
  • Sachleistungen (§ 24 SGB II)
  • Zuschüssen zu Beiträgen zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II)
So ist als Regelbedarf (Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie (ohne Heizung) und für persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, siehe § 20 I S. 1 SGB II) bei Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind oder deren Partnerin oder Partner minderjährig ist, monatlich ein Betrag in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anerkannt; die Regelbedarfsstufe 1 beträgt gemäß der Anlage zu § 28 SGB XII seit dem 1.1.2019 monatlich 424 €. Gemäß der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2020 (RBSFV 2020) beträgt die Regelbedarfsstufe 1 ab dem 1.1.2020 monatlich 432 €.

Verletzt eine leistungsberechtigte Person ihre Mitwirkungspflicht, insbesondere die Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung, greifen die differenzierten Sanktionen nach § 31a SGB II (das „Drei-Stufen-Modell“). Bei einer Minderung des ALG II um mehr als 30% des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs kann der Träger aber auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen.

II. Verfassungsrechtliche Dimension: Wie bei R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 236 ausgeführt, gewährleistet Art. 1 I GG ein menschenwürdiges Dasein (in finanzieller Hinsicht die Sicherung eines Existenzminimums). So bietet Art. 1 I GG (i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG) Schutz vor dem Vorenthalten eines menschenwürdigen Existenzminimums, also von Mitteln, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind (BVerfGE 132, 134 ff. – Asylbewerberleistungsgesetz; zuvor schon BVerfGE 125, 175 ff. – „Hartz IV“; BVerfG NJW 1999, 561, 562 – Ermittlung des einkommensteuerlichen Existenzminimums). § 1 I SGB II greift dies – wie aufgezeigt – einfachgesetzlich auf, das SGB II stellt aber (u.a. in § 1 II SGB II) bestimmte Voraussetzungen an die Leistungsvergabe (Grundsatz des Forderns; Grundsatz der Subsidiarität). Zudem enthält das SGB II bei Verletzung von bestimmten Pflichten wie Weigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit Sanktionsregelungen (§ 31a i.V.m. §§ 31, 31b SGB II: Minderung des ALG II).

Ob also die genannten Sanktionsregelungen mit Art. 1 I GG, dessen Schutz sich ja auch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt, i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG vereinbar sind, begegnet demnach in der Tat erheblichen Bedenken. Zwar könnte man argumentieren, der Betroffene habe es selbst in der Hand, durch Unterlassung von Pflichtverletzungen Leistungskürzungen zu vermeiden. Dieser Argumentation ist aber der Weg versperrt, wenn man mit dem BVerfG die Indisponibilität der Menschenwürde und damit deren absoluten Schutz annimmt.

III. Die Entscheidung des BVerfG: Zunächst benennt das BVerfG die maßgeblichen einfachgesetzlichen Vorschriften des SGB. So verletzen nach § 31 I SGB II erwerbsfähige Empfänger von ALG II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des ALG II in einer ersten Stufe um 30% des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60%. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das ALG II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b I S. 3 SGB II drei Monate.

Wie den genannten Vorschriften zu entnehmen ist, treten bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II die in § 31a I und II SGB II vorgesehenen Rechtsfolgen zwingend ein. Eine Ermessensausübung der Behörde (insbesondere, um unzumutbare Härten abzuwenden) ist insoweit nicht möglich. Sanktioniert also das Jobcenter nach Maßgabe des zwingenden Rechts Verstöße gegen die Mitwirkungspflichten, könnte darin ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesehen werden. Und da die gesetzliche Regelung der §§ 31, 31a I und II SGB II die Pflichtverletzungen und die Rechtsfolgen klar beschreibt, wäre auch eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich, was (auch) die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelung selbst implizieren könnte. Zu prüfen gilt somit zunächst die Vereinbarkeit der gesetzlichen Sanktionsregelung mit dem Grundgesetz, konkret mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 1 I GG.

IV. Prüfung der Verfassungskonformität der Regelungen des § 31a SGB II i.V.m. §§ 31, 31b SGB II: Prüfungsmaßstab ist – wie aufgezeigt – Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG. Konkret geht es um die Frage, ob das menschenwürdige Existenzminimum gewahrt ist, wenn der Staat Mitwirkungspflichten statuiert und Verstößen gegendie Mitwirkungspflichten mit Sanktionen (Leistungskürzungen) begegnet. Zunächst stellt das BVerfG fest, dass der Gesetzgeber bei den Regeln zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum verfügt. Daher sei es nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber das Prinzip der Nachrangigkeit verfolgt, d.h. Leistungen nur dann gewährt, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er dürfe verlangen, dass Menschen zunächst auf ihnen verfügbare Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter zugreifen, bevor sie Leistungen vom Sozialstaat verlangen könnten. Er dürfe erwerbsfähigen Beziehern von ALG II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen und die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entziehe. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gölten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; zudem sei Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 I S. 2 GG, die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen. Der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers sei hier beschränkt.

Ist also der sonst geltende Einschätzungsspielraum beschränkt, führt dies zu einer Prüfungsdichte, wie sie auch sonst besteht. Wegen der Absolutheit der Menschenwürde und des bereits erwähnten Schutzauftrags des Staates ist sogar ein besonders strenger Maßstab angezeigt. Es ist wie folgt zu differenzieren:

1. Gesetzliche Verpflichtung von erwerbsfähigen Erwachsenen, in zumutbarer Weise an der Überwindung oder Verhinderung ihrer Hilfebedürftigkeitmitzuwirken (§ 31 I SGB II)
An der Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes bestehen keine Zweifel. Möglicherweise ist aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Dieser bringt zum Ausdruck, dass die Freiheit des Einzelnen nur so weit eingeschränkt werden darf, als es im Interesse des Gemeinwohls unerlässlich ist (vgl. nur BVerfGE 19, 342, 348 f.; 76, 1, 50; 111, 54, 82; BVerwG NJW 2018, 2067, 2070). Eine gesetzliche Bestimmung, die in Grundrechte eingreift, ist nach allgemeiner Auffassung (siehe nur BVerfG NJW 2019, 827, 829 ff. mit Verweis auf die st. Rspr. BVerfGE 67, 157, 173; 120, 378, 427; 141, 220, 265) nur dann verhältnismäßig, wenn
  • der vom Staat verfolgte Zweck legitim ist, also als solcher verfolgt werden darf,
  • der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels geeignet,
  • der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels erforderlich
  • und der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Ziels angemessen ist.
Legitim ist der Zweck, wenn er auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet ist bzw. wenn ein öffentliches Interesse verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist (BVerfGE 124, 300, 331).  Zweck der in § 31 I SGB II geregelten Mitwirkungspflichten ist es, Menschen wieder in Arbeit bringen, was ohne weiteres als legitim angesehen werden kann. Die Regelung müsste aber auch geeignet sein. Geeignet ist die staatliche Maßnahme, wenn mit ihrer Hilfe das angestrebte Ziel erreicht werden kann (vgl. nur BVerfGE 81, 156, 192; BVerfG NJW 2018, 2542, 2543 f.; BVerfG NJW 2019, 827, 829). Auch dies kann festgestellt werden. Denn mit den genannten Mitwirkungspflichten können die erwähnten Ziele erreicht werden. Erforderlich ist die gesetzliche Regelung, wenn kein gleich wirksames, aber für den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht (vgl. etwa BVerfG NJW 2018, 2109, 2112 mit Verweis auf BVerfGE 113, 167, 259; 135, 90, 118). Vorliegend ist – wie das BVerfG zu Recht ausführt – nicht evident, dass weniger belastende Mitwirkungshandlungen oder positive Anreize dasselbe bewirken könnten. Mithin ist die Mitwirkungsregelung erforderlich. Schließlich müsste sie auch angemessen sein. Das wäre der Fall, wenn der mit ihr verfolgte Zweck in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs stünde (vgl. nur BVerfG NJW 2019, 584, 588). Das BVerfG führt hierzu aus, dass der Gesetzgeber – anders als im Recht der Arbeitsförderung – beim ALG II keinen Berufsschutz normieren müsse, denn das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterschieden sich strukturell. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind. Darüber hinaus sei nicht erkennbar, dass eine der in § 31 I SGB II benannten Mitwirkungspflichten gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 II GG) verstieße. Es sei verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Mitwirkungspflicht eine Erwerbstätigkeit betreffe, die nicht dem eigenen Berufswunsch entspricht. In den allgemeinen Zumutbarkeitsregelungen, die auch für die Mitwirkungspflichten gölten, sei auch der grundrechtliche Schutz der Familie (Art. 6 GG) berücksichtigt.

Zwischenergebnis: Mithin ist die Regelung in § 31 I SGB II, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichtet, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern, verfassungsgemäß.

2. Zwangsmittel zur Durchsetzung der gesetzlichen Mitwirkungspflicht (§ 31a I S. 1 SGB II), sog. Sanktionen
Gemäß § 31a I S. 1 SGB II mindert sich bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II das ALG II in einer ersten Stufe um 30% des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs (zum Regelbedarf s.o.). Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich gem. § 31a I S. 2 SGB II das ALG II um 60% des Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II entfällt das ALG II vollständig (§ 31a I S. 3 SGB II).

Beginn und Dauer der Leistungskürzung sind in § 31b SGB II geregelt. Gemäß § 31b I S. 3 SGB II beträgt der Minderungszeitraum drei Monate. Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, kann gem. § 31b I S. 4 SGB II der Träger die Minderung des Auszahlungsanspruchs in Höhe der Bedarfe nach den §§ 20 und 21 SGB II unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen. Und schließlich gilt: Während der Minderung des Auszahlungsanspruchs besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII (§ 31b II SGB II).

Wie den genannten Bestimmungen zu entnehmen ist, besteht also hinsichtlich der Leistungskürzung und der dreimonatigen Dauer der Kürzung kein Ermessen: Die Behörde hat diese Sanktion festzusetzen und muss dies zudem für die genannte Dauer tun. Lediglich bei den unter 25-jährigen Leistungsberechtigten kann (Ermessen) die Behörde nach einer entsprechenden Abwägung aller Einzelfallumstände die Sanktion auf sechs Wochen verkürzen. 

Das BVerfG hat hierzu entschieden, dass das Anliegen des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden sei, da der Gesetzgeber damit ein legitimes Ziel verfolge. Jedoch genügten die konkreten gesetzlichen Regelungen (also das genannte „Drei-Stufen-Modell“) dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht.

1. Stufe (30%ige Kürzung)
Die in der 1. Stufe (erstmalige Pflichtverletzung) vorgesehene zwingende Leistungskürzung um 30% des Regelbedarfs ist nach Auffassung des BVerfG grds. nicht zu beanstanden, da es zur Abschreckung legitim sei, in dieser Größenordnung zu kürzen. Fraglich ist allerdings, wie es sich auswirkt, dass die Leistungskürzung zwingend und starr für die Dauer von drei Monaten zu erfolgen hat.

a. Zwingende Leistungskürzung
Da § 31a I S. 1 SGB II die Vorgabe macht, dass der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern ist, und daher ein Absehen von der Leistungskürzung zur Abwendung einer außergewöhnlichen Härte nicht in Betracht kommt, könnte die Vorschrift gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Das BVerfG hat hierzu entschieden, dass eine gesetzlich angeordnete Leistungsminderung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs nur zumutbar (d.h. verhältnismäßig i.e.S.) sei, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden könne. Das sei bei § 31a I S. 1 SGB II nicht möglich. Der Gesetzgeber habe außer Betracht gelassen, dass es Ausnahmesituationen gebe, in denen es Menschen zwar an sich möglich sei, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheine.

Stellungnahme: Bei Vorschriften, die eine gebundene Entscheidung vorsehen, steht ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Tat stets im Raum, da bei solchen Vorschriften dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht durch eine grundrechtskonforme Ermessensausübung Rechnung getragen werden kann. Dann aber ist auf Tatbestandsebene eine grundrechtskonforme Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe vorzunehmen, möchte man das Verdikt der Verfassungswidrigkeit vermeiden (vgl. dazu etwa BVerfG NVwZ 2015, 510; NJW 2004, 2663; BVerfGE 59, 336, 350 f. Siehe auch BVerfG NJW 2019, 827, 828 f.). § 31a SGB II enthält insoweit aber keine unbestimmten Rechtsbegriffe, die man verfassungskonform auslegen könnte. Auslegbar ist aber die der Sanktionsregelung zugrunde liegende Regelung des § 31 SGB II über die Pflichtverletzungen, weil dort u.a. von „ausreichendem Umfang“, „zumutbare Arbeit“, „zumutbare Maßnahme“ und von einem „wichtigen Grund“ die Rede ist. Daher ist es durchaus möglich, durch Verneinung einer Pflichtverletzung die Sanktion abzuwehren. Freilich ist dieser Weg nicht gangbar im Falle einer Komplettverweigerung, also in dem Fall, dass ein Anspruchsberechtigter vorsätzlich seine Mitwirkungspflichten verletzt, weil er kein Interesse an einer zumutbaren bzw. der ihm angebotenen zumutbaren Arbeit hat und stattdessen lieber von ALG II leben möchte (bzw. so lange, bis man ihm eine ihm genehme Arbeit anbietet).  

b. Starre Dauer von drei Monaten
Dadurch, dass § 31b I S. 3 SGB II einen starren Minderungszeitraum von drei Monaten nennt, könnte diese Vorschrift (ebenfalls) verfassungswidrig sein. Das BVerfG ist dieser Ansicht. Zwar gebe es einen zu akzeptierenden gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum bei der Frage, wie Pflichtenverstößen zu begegnen sei und wie Sanktionen auszugestalten seien. Der Gesetzgeber habe diesen Gestaltungsspielraum mit der starren Fristenregelung aber überschritten. Er habe außer Betracht gelassen, dass es in Ausnahmesituationen Menschen gebe, denen es zwar möglich sei, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, für die die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheine. Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen müsse, wenn er existenzsichernde Leistungen suspendiere, weil zumutbare Mitwirkung verweigert werde, sei dies nur zumutbar, wenn eine solche Sanktion grundsätzlich ende, sobald die Mitwirkung erfolge. Die Bedürftigen müssten selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten. Sei die Mitwirkung nicht mehr möglich, erklärten sie aber ihre Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig, müsse die Leistung jedenfalls in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreite daher die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und verletze Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG (Rn. 186 ff. der Entscheidung).

2. Stufe (60%ige Kürzung)
Die in der 2. Stufe (erste Wiederholung der Pflichtverletzung) vorgesehene - ebenfalls zwingende - Leistungskürzung um 60% des Regelbedarfs könnte nach dem bisher Gesagten erst recht mit Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG unvereinbar sein. Zwar ist es nach Auffassung des BVerfG nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden könne. Doch sei die Minderung in der Höhe von 60% des Regelbedarfs unzumutbar, weil hier entstehende Belastung weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hineinreiche. Im Übrigen ergäben sich auch bei der Minderung in Höhe von 60% des Regelbedarfs nach § 31a I S. 2 SGB II die genannten Zweifel daran, dass die Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben sei und unabhängig von jeder Mitwirkung starr drei Monate andauern müsse.

3. Stufe (vollständiger Wegfall des ALG II)
Nach § 31a I S. 3 SGB II entfällt bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II das ALG II vollständig. Da sich die Vorschrift (anders als § 31a I S. 1 und S. 2 SGB II) nicht auf die Regelbedarfe nach § 20 SGB II bezieht, entfallen neben den Geldzahlungen für den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Unabhängig davon, ob der vollständige Wegfall des ALG II überhaupt geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern (verneinend das BVerfG), ist der vollständige Wegfall der Leistung aufgrund der gravierenden Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz nach Auffassung des BVerfG nicht erforderlich. Es sei in keiner Weise belegt, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Es sei möglich, dass eine Minderung der Regelbedarfsleistungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minderungszeitraumes oder auch eine teilweise Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen und geldwerte Leistungen genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Effekte der Totalsanktion unterblieben. In der Gesamtabwägung ergebe sich, dass der völlige Wegfall aller Leistungen auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar sei.


Ergebnis: Während nach der Entscheidung des BVerfG
  • gesetzlich angeordnete Leistungskürzungen bis maximal 30% des Regelbedarfs möglich sind, sofern sie nicht zwingend erfolgen (sondern Ausnahmen zulassen, um außergewöhnliche Härten zu vermeiden) und auch nicht an die starre Dauer von drei Monaten geknüpft sind (sondern früher enden, wenn sich der Sanktionstatbestand erledigt hat),
  • sind die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60% oder 100% nach Ansicht des BVerfG mit Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG unvereinbar.
Stellungnahme: Bemüht man mit dem BVerfG die Menschenwürde als Prüfungsmaßstab, hätte es streng genommen keine (im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmende) Abwägung geben dürfen, soll die Menschenwürde doch unantastbar und keiner Abwägung offen sein (was selbst das BVerfG in dem hier besprochenen Urteil nochmals klarstellt, siehe Rn. 119 ff. der Entscheidung). Macht das BVerfG zudem deutlich, dass die Gewährleistung aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG sich nicht in einen „Kernbereich“ der physischen und einen „Randbereich“ der sozialen Existenz aufspalten lasse, und stellt fest, dass der Gesetzgeber die Höhe des ALG II bereits als Minimum normiert hat (Rn. 119 der Entscheidung), hätte es des Weiteren überhaupt keine Kürzung des ALG II zulassen dürfen. Indem es eine 30%ige Kürzung grundsätzlich zulässt (Rn. 168 ff. der Entscheidung), die 60%ige Kürzung aber mit dem Argument der hier weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hineingreifenden Belastung für verfassungswidrig erklärt (Rn. 190 ff. der Entscheidung), gibt es zu verstehen, dass es offenbar doch bei der Menschenwürde zwischen einem Randbereich (30%ige Kürzung) und einem Kernbereich (60%ige oder gar 100%ige Kürzung) unterscheidet. Das aber ist nicht nur mit der sonstigen Rechtsprechung des BVerfG unvereinbar, sondern auch mit den Ausführungen bei Rn. 119 der Entscheidung. Denn dort heißt es: „Die Verankerung des Gewährleistungsrechts im Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG bedeutet, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG) den Menschen nicht auf das schiere physische Überleben reduzieren dürfen, sondern mit der Würde mehr als die bloße Existenz und damit auch die soziale Teilhabe als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet wird. Es widerspräche dem nicht relativierbaren Gebot der Unantastbarkeit, wenn nur ein Minimum unterhalb dessen gesichert würde, was der Gesetzgeber bereits als Minimum normiert hat; insbesondere lässt sich die Gewährleistung aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht in einen „Kernbereich“ der physischen und einen „Randbereich“ der sozialen Existenz aufspalten.“
Nicht hinreichend gewürdigt hat das BVerfG zudem die Regelung des § 31a III SGB II. Nach S. 1 dieser Vorschrift kann bei einer Minderung des ALG II um mehr als 30% des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang nämlich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Bei einer Kürzung von Geldleistungen um mehr als 30% des maßgebenden Regelbedarfs können also Sachleistungen (zu denen auch Nahrungsmittelgutscheine gehören) erbracht werden. Warum bei einer Gewährung von Sachmitteln statt von Geldleistungen die Menschenwürde verletzt sein soll, verschließt sich dem Verfasser.
Insgesamt handelt es sich also um eine wenig überzeugende und an dogmatischen Schwächen leidende Entscheidung.
Von den aufgezeigten methodischen und dogmatischen Schwächen und inhaltlich abzulehnenden Aspekten der Entscheidung abgesehen, erscheint es sachangemessen, „notorischen Verweigerern“ Leistungen zu kürzen, und zwar durchaus mittels gestufter Sanktionsregelung. Es kann nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft sein, aus ihren Mitteln vermittlungs- und arbeitsfähigen, jedocharbeitsunwilligenMenschen Transferleistungen zu gewähren. Der Rückgriff auf die - indisponible - Menschenwürde geht insoweit fehl. Denn vermittlungs- und arbeitsfähige, jedoch arbeitsunwillige Menschen werden durch Sanktionen nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgestuft. Ihnen wird nicht in menschenverachtender Weise ihre Menschqualität abgesprochen und sie werden nicht zum Objekt eines beliebigen staatlichen Verhaltens erniedrigt bzw. werden nicht zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt (siehe zu diesen Kriterien R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 232). Demgegenüber uneingeschränkt unterstützungsberechtigt sind Menschen, denen wegen z.B. (erheblicher) psychischer (und/oder physischer) Schwächen und daraus resultierender multipler Vermittlungshemmnissekeine vorwerfbare Mitwirkungsverweigerung anzulasten ist. In diesen Fällen ist eine sanktionierende Leistungskürzung mit Blick auf die Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip nicht angezeigt und auch nicht zulässig. Rechtstechnisch könnte dem mit einem einzufügenden Gesetzesmerkmal wie: „Von einer Leistungskürzung ist abzusehen, wenn anderenfalls eine unzumutbare Härte entstünde“ Rechnung getragen werden - siehe dazu Punkt VI.

V. Folgen der Entscheidung
Das BVerfG verzichtet auf eine Nichtigkeitserklärung, sondern stellt (lediglich) die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Regelungen fest. Mit Verzicht auf die Nichtigkeitserklärung bleiben die betreffenden Vorschriften also zunächst gültig, jedoch mit den vom BVerfG aufgestellten Maßgaben: 
  • Die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung i.H.v. 30% nach § 31a I S. 1 SGB II bleibe mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen müsse, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führte.
  • Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60% sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a I S. 2 und 3 SGB II) seien bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30% des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen dürfe und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden könne, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führte.
  • Die Regelung des § 31b I S. 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs sei bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen könne, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt werde oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärten, ihren Pflichten nachzukommen.
VI. Vorschlag einer gesetzlichen Neufassung
Eine Frist zur Neuregelung hat das BVerfG dem Gesetzgeber nicht aufgegeben. Daraus wird man folgern dürfen, dass das BVerfG die um seine Maßgaben modifizierten Vorschriften auch als „Dauerlösung“ akzeptieren würde. Dementsprechend könnten die Neuregelungen wie folgt aussehen und den Vorgaben des BVerfG entsprechen:

§ 31a Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen
(1) Bei einer (auch wiederholten) Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Von der Leistungsminderung ist abzusehen, wenn anderenfalls eine unzumutbare Härte entstünde. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 kann der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Der Träger hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben.
(3) Für nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte gilt Absatz 1 und 2 bei Pflichtverletzungen nach § 31 Absatz 2 Nummer 1 und 2 entsprechend.

§ 31b Beginn und Dauer der Minderung
(1) Der Auszahlungsanspruch mindert sich mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folgt, der die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderung der Leistung feststellt. In den Fällen des § 31 Absatz 2 Nummer 3 tritt die Minderung mit Beginn der Sperrzeit oder mit dem Erlöschen des Anspruchs nach dem Dritten Buch ein. Der Minderungszeitraum beträgt drei Monate. Die Leistungsminderung endet vor Ablauf dieses Zeitraums, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder der Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen. Das Gleiche gilt, wenn durch eine Fortführung der Leistungsminderung eine unzumutbare Härte entstünde. Die Feststellung der Minderung ist nur innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung zulässig. Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, kann der Träger die Minderung des Auszahlungsanspruchs in Höhe der Bedarfe nach den §§ 20 und 21 unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls generell auf sechs Wochen verkürzen; Satz 6 gilt entsprechend.
(2) Während der Minderung des Auszahlungsanspruchs besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Zwölften Buches.

Rolf Schmidt (9.11.2019)



27.10.2019: Zur Frage, ob eine Pflicht des Staates besteht, Mehrehen in Deutschland anzuerkennen bzw. zuzulassen

Die Zuwanderung von Menschen aus Staaten, in denen die Mehrehe möglich ist, gibt Anlass, der Frage nachzugehen, ob eine Pflicht des Staates besteht, Mehrehen in Deutschland anzuerkennen bzw. zuzulassen. Das betrifft zum einen die Frage, ob im Ausland nach dortigem Recht rechtswirksam geschlossene Mehrehen innerstaatlich anzuerkennen sind, und zum anderen die Frage, ob der deutsche Staat Personen, die in Deutschland die Mehrehe schließen wollen, dies ermöglichen muss.

Begriff der Mehrehe: Zunächst gilt es, den Begriff der Mehrehe zu definieren. Unter den Begriff der Mehrehe (Polygamie; der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und setzt sich zusammen aus „polys“ (viel) und „gamos“ (Ehe)) fallen Lebensmodelle, bei denen die Ehe aus mehr als zwei Personen besteht. Dabei werden zwei Grundmodelle unterschieden: Während eine Polygynie (gyno: die Frau betreffend) vorliegt, wenn ein Mann mit mehreren Frauen verheiratet ist, spricht man umgekehrt von Polyandrie (andro: der Mann) bei einer Ehe zwischen einer Frau und mehreren Männern. Freilich ist die Polygynie die verbreitetere Form; sie kommt hauptsächlich in afrikanischen und asiatischen Kulturkreisen vor und dürfte vornehmlich patriarchisch motiviert sein.
Neben patriarchischen Aspekten spielen aber auch religiöse Aspekte eine Rolle. Nach islamischem Recht darf ein Mann (unter der Voraussetzung der Leistungsfähigkeit) bis zu vier Frauen heiraten, wobei die Polygynie traditionell begründet ist und darauf basiert, dass unverheiratete Frauen einen niedrigeren sozialen (und rechtlichen) Status hatten. Im Judentum ist Polygamie formal verboten, was vereinzelt eine tatsächlich gelebte Polygamie aber nicht verhindert. Der Buddhismus toleriert Polygamie. Im Christentum ist Polygamie nicht vorgesehen.
Insgesamt dürften soziale Sicherung des Familienverbunds, Ertragssteigerung des Familienverbunds, Versorgung von Frauen (die alleinstehend, d.h. ohne die Mehrehe, kein angemessenes Leben führen können) und das Ansehen des Mannes in der (männlich dominierten) Gesellschaft die Hauptgründe einer Polygynie sein.

Anerkennung einer bereits im Ausland nach dortigem Recht wirksam begründeten Mehrehe?: Wurde von in einer Mehrehe lebenden Zuwanderern die Mehrehe rechtswirksam nach dem Recht des Herkunftsstaates geschlossen, stellt sich die Frage, ob eine Pflicht des Staates besteht, diese Mehrehe innerstaatlich anzuerkennen. Folge einer Anerkennung wäre - von einer erleichterten Einbürgerung abgesehen-, dass sämtlichen Ehefrauen die einem Ehegatten zustehenden Rechte zu gewähren wären. Man denke insoweit an familienrechtliche Unterhaltsansprüche gegen den Ehemann, Versorgungsansprüche, Hinterbliebenenversorgung etc. Das BVerwG hat mit Urteil v. 29.5.2018 (Az. 1 C 15.17 – BVerwGE 162, 153 ff.) entschieden, dass eine rechtswirksam im Ausland eingegangene weitere Ehe zwar eine privilegierte Einbürgerung von Ehegatten Deutscher nach § 9 StAG (in der seinerzeit geltenden Fassung) mangels Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse ausschließe. Sie stehe aber einem wirksamen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und damit einem Einbürgerungsanspruch nach § 10 StAG (a.F.) nicht entgegen. 

Einfachgesetzliche Ausgangslage: Gemäß § 1353 I S. 1 BGB kann eine Ehe nur von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts geschlossen werden. Und nach § 1306 BGB darf eine Ehe nicht geschlossen werden, wenn zwischen einer der Personen, die die Ehe miteinander eingehen wollen, und einer dritten Person eine Ehe oder eine Lebenspartnerschaft besteht. Die Schließung einer Mehrehe wäre (sofern eine Ehe bereits besteht) für den/die bereits verheirateten Ehepartner sogar gem. § 172 StGB strafbar.

Beispiel (fiktiv): Der in Deutschland lebende und als Arzt arbeitende Syrer S verschweigt bei der Eheschließung mit einer Deutschen eine zuvor in Damaskus geschlossene Ehe. Da die Standesbehörde (auch aufgrund fehlender Unterlagen) vom Fehlen eines Ehehindernisses ausgeht, wirkt sie bei der Eheschließung mit. – Hier ist S gem. § 172 StGB strafbar. 

§ 172 StGB greift freilich nicht, wenn durch einen Eheschließungsakt die Mehrehe erst begründet werden soll. Die bei der Eheschließung mitwirkenden Standesämter (siehe § 1 II und §§ 11 ff. PStG) werden aber in jedem Fall ihre Mitwirkung verweigern, wenn – wie bei einer Mehrehe – ein Ehehindernis besteht (§ 13 PStG i.V.m. §§ 1353 I S. 1, 1306 BGB) und ihnen dieses bekannt ist.

Beispiel (fiktiv): A, B und C (allesamt bisher unverheiratet) wollen die Mehrehe schließen bzw. schließen sie. – Dieses Verhalten ist nicht von § 172 StGB erfasst (mangels Strafandrohung ist auch der Versuch nicht strafbar).

Von einer möglichen Strafbarkeit nach § 172 StGB abgesehen, steht v.a. die Frage nach einer Einbürgerung bzw. die Versagung eines Antrags auf Einbürgerung im Raum. Auf einfachgesetzlicher Ebene maßgeblich sind im vorliegenden Zusammenhang §§ 8-10 StAG. Ein Ausländer, der rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, kann auf seinen Antrag unter den Voraussetzungen des § 8 StAG eingebürgert werden. Eine privilegierte Einbürgerung besteht gem. § 9 StAG für Ehegatten oder Lebenspartner Deutscher (diese „sollen“  unter den dort genannten Voraussetzungen auf Antrag eingebürgert werden). Für langjährig in Deutschland aufhältige Ausländer enthält § 10 StAG Sonderregelungen. Weitere einschränkende, aber auch privilegierende Vorschriften enthalten §§ 11 ff. StAG.

Dem liegt der Fall BVerwG NVwZ 2018, 1874 zugrunde: Ein in Deutschland lebender, mit einer Deutschen verheirateter und als Bauingenieur arbeitender Syrer (im Folgenden: S) verschwieg bei der Beantragung der Einbürgerung eine in Damaskus geschlossene Zweitehe. Später widerrief die Behörde ihre Einbürgerungsentscheidung, weil S es unterlassen habe, die Behörde von seiner Zweitehe in Kenntnis zu setzen, und diese daher arglistig getäuscht habe.

Die Rücknahmeentscheidung könnte sich auf § 35 StAG stützen (die allgemeine Vorschrift des § 48 VwVfG über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte ist insoweit subsidiär). Die Rücknahmeentscheidung steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, bei dessen Anwendung sämtliche Aspekte, die für und gegen die Rücknahme sprechen, gegen- und untereinander abzuwägen sind. Jedoch schränkt § 35 I StAG das Ermessen ein, weil danach eine rechtswidrige Einbürgerung nur zurückgenommen werden kann, wenn der Verwaltungsakt (d.h. der Einbürgerungsbescheid) durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung oder durch vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben, die wesentlich für seinen Erlass gewesen sind, erwirkt worden ist. Da S die Zweitehe bei der Beantragung der Einbürgerung nicht angegeben hatte, könnte dies in der Tat eine arglistige Täuschung darstellen. Jedoch wäre diese Täuschung nicht beachtlich, wenn die Einbürgerung auch trotz Zweitehe hätte erfolgen müssen. Einfachgesetzlicher Prüfungsmaßstab sind insofern §§ 9, 10 StAG.

So hat das BVerwG entschieden: Selbst, wenn davon ausgegangen werde, im Zeitpunkt der Einbürgerung sei eine Einbürgerung nach § 9 StAG mangels Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse rechtswidrig gewesen und im Zeitpunkt der Einbürgerung habe auch ein Einbürgerungsanspruch nach den §§ 8, 10 StAG nicht bestanden, so sei jedenfalls die Betätigung des Rücknahmeermessens fehlerhaft gewesen. Dem im Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung bestehenden Einbürgerungsanspruch aus § 10 StAG habe nicht die Erwägung entgegengehalten werden können, S könne angesichts der tatsächlichen Situation kein wirksames Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes (§ 10 I S. 1 Nr. 1 StAG) abgeben. Nach § 9 I StAG sollen Ehegatten oder Lebenspartner Deutscher unter den Voraussetzungen des § 8 StAG u.a. dann eingebürgert werden, wenn gewährleistet ist, dass sie sich in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen. Das aber erscheint vorliegend fraglich, weil eine Mehrehe nicht den deutschen Lebensverhältnissen entsprechen könnte. Ausführlich rekurriert das BVerwG diesen unbestimmten Rechtsbegriff (Rn. 18 ff. der Entscheidung). Der Begriff „Einordnung“ lasse Raum für eine Auslegung, die auch jenseits der stets vorauszusetzenden Bereitschaft zur Beachtung von Gesetz und Recht auch eine tätige Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens, die als unverzichtbare außerrechtliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens zu werten sind, verlange (Rn. 20 der Entscheidung). Die von S geschlossene Doppelehe schließe jedenfalls i.S.d. § 9 I StAG eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse aus. In der bundesrepublikanischen Gesellschaft werde die Ehe weiterhin prägend als Einehe verstanden. Ungeachtet aller Wandlungen, die der Ehebegriff in den letzten Jahrzehnten genommen habe, und der verschiedenen Formen des Zusammenlebens von Partnern mit Kindern oder ohne Kinder sei der Grundsatz unangefochten, dass eine Ehe – so sie denn geschlossen werden soll – jeweils nur mit einer Person geschlossen werden kann und soll. § 172 StGB sichere diesen Grundsatz strafrechtlich ab.

Zwischenbewertung: Dass der Grundsatz der Einehe herrschend ist und auch von der einfachgesetzlichen Rechtsordnung (siehe insb. § 1353 BGB; § 172 StGB) getragen wird, ist richtig. Nicht zu folgen ist aber der Behauptung, dieser Grundsatz sei unangefochten. Eine Heranziehung rechtswissenschaftlicher Fachliteratur hätte belegt, dass es durchaus Minderheitsauffassungen zu diesem Thema gibt. Auch, wenn man ihnen nicht zu folgen vermag, so ist die Einehe dennoch nicht „unangefochten“. Wenn das BVerwG zudem bei Rn. 62 ff. der Entscheidung dennoch ausführlich das Verbot der Mehrehe rechtfertigt, erscheint diese Prüfung überflüssig und methodisch falsch, soll der Grundsatz der Einehe laut BVerwG doch angeblich „unangefochten“ sein.
 
Von dieser nicht ganz kohärenten Vorgehensweise abgesehen, stellt das BVerwG aber zutreffend fest, dass sich gem. § 10 I S. 1 Nr. 1 StAG ein Einbürgerungsbewerber zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu bekennen hat. Sollte dies der Fall sein und kein anderer Ablehnungsgrund (i.S.d. §§ 8 ff. StAG) bestehen, wäre die Rücknahmeentscheidung somit ermessensfehlerhaft. Ausführlich prüft das BVerwG daher den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Rn. 51 ff. der Entscheidung). Dieser sei ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Rechtsordnung verwende diesen Begriff in unterschiedlichen Zusammenhängen und Regelungskontexten. Nach Art. 21 II GG seien Parteien verfassungswidrig, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Der Missbrauch bestimmter Grundrechte zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung führe zu deren Verwirkung (Art. 18 S. 1 GG). § 3 I Nr. 1 BVerfSchG mache u.a. die Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, zur Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. Die Zulassung zur Anwaltschaft sei u.a. zu versagen, wenn die antragstellende Person die freiheitliche demokratische Grundordnung in strafbarer Weise bekämpft (§ 7 Nr. 6 BRAO). Im öffentlichen Dienstrecht müssten Ernennungsbewerber und Beamte/Soldaten Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten (hier erfolgt der Verweis auf § 7 I Nr. 2, § 60 I S. 3 BBG, § 33 I S. 3 BeamtStG, §§ 8, 37 I Nr. 2 SG, § 9 Nr. 2 DRiG). Das Aufenthaltsrecht sehe die Ausweisung eines Ausländers nach Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen u.a. vor, wenn dessen Aufenthalt die freiheitliche demokratische Grundordnung gefährdet (§ 53 I AufenthG). Die Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration setze regelmäßig voraus, dass der Ausländer sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (§ 25b I S. 2 Nr. 2 AufenthG). Die politische Betätigung eines Ausländers sei zu untersagen, soweit sie die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (§ 47 II Nr. 1 AufenthG). Zutreffend führt das BVerwG weiter aus, dass in allen der genannten Vorschriften der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung lediglich genannt, jedoch nicht weiter definiert werde, weshalb eine Begriffsbestimmung durch Auslegung vorzunehmen sei. Die Legaldefinition in § 4 II BVerfSchG, die ihrerseits an die Rechtsprechung des BVerfG insb. zum Parteiverbotsrecht anknüpft (seit BVerfGE 2, 1, 12 ff.  und BVerfGE 5, 85, 199 ff.; modifizierend BVerfGE 144, 20 Rn. 535 ff.), zähle auf, was zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung i.S. dieses Gesetzes zählt, und nenne neben ausschließlich auf die Staatsorganisation bezogenen Grundsätzen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. Sie gelte indes nicht in anderen Rechtsgebieten. Jedoch schütze die freiheitliche demokratische Grundordnung in jedem Fall die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt, also die Summe formell und materiell verfassungsmäßiger Rechtssätze, oder das Sittengesetz, verstanden als ethische Normen von solcher Fundamentalität, dass sie dem staatlichen Recht als unverfügbare überpositive Normen vorgegeben sind (hier erfolgt ein Verweis auf Sachs, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 96). Eine Mehrehe (hier: die von S in Syrien geschlossene Zweitehe) stehe einem wirksamen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht entgegen (Rn. 60 ff. der Entscheidung). Zwar widerspreche die Mehrehe den Strukturprinzipien des Art. 6 I GG und S habe das Strukturprinzip der Einehe nicht beachtet. Jedoch sei die Zweitehe in Syrien nach dortigem Recht wirksam geschlossen. S habe nicht gegen die zum Schutz der Einehe geschaffene Strafnorm des § 172 StGB verstoßen. Diese Zweitehe bedeutete selbst bei einem auf Freiwilligkeit gründenden polygamen Zusammenleben im Bundesgebiet keinen Sittenverstoß (BVerwGE 71, 228, 230 f.). Die Ehe werde im Rahmen des ordre public als im Bundesgebiet wirksam anerkannt (hier erfolgt der Verweis auf Coster/Coester-Waltjen, FamRZ 2016, 1618, 1624 f.). Kinder aus einer solchen Ehe würden als eheliche Kinder betrachtet (BVerwGE 71, 228, 231 f.) und genössen jedenfalls den Familienschutz aus Art. 6 I GG (hier erfolgt der Verweis auf von Coelln, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 7). Insoweit habe S das in Deutschland geltende Recht beachtet. Die Ausnutzung etwaiger Lücken im rechtlichen Schutz des Prinzips der Einehe als solche sei kein Handeln, das auf eine Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im vorbezeichneten Sinne schließen lasse. Die Rücknahme der Einbürgerungsentscheidung sei daher fehlerhaft.

Bewertung: Im Ergebnis ist der Entscheidung des BVerwG hinsichtlich der Aufhebung des Rücknahmebescheids beizupflichten. Rechtsmethodisch wäre Ausgangspunkt die Vorschrift des Art. 13 EGBGB. Nach Art. 13 I EGBGB unterliegen die Voraussetzungen der Eheschließung für jeden Verlobten dem Recht des Staates, dem er angehört. Einschränkungen bei fehlender Ehemündigkeit finden sich in Art. 13 III EGBGB. Ist also die Ehemündigkeit gegeben und wurde die Ehe im Ausland rechtswirksam geschlossen, bedeutet dies, dass die Ehe, und damit auch die im Ausland nach dortigem Recht wirksam geschlossene Mehrehe, in Deutschland anzuerkennen ist. Das gilt jedoch gem. Art. 6 EGBGB nur unter dem sog. Ordre-public-Vorbehalt (das BVerwG nennt zwar an zwei Stellen seiner Entscheidung den ordre public, macht diesen aber nicht an Art. 6 EGBGB fest). Danach ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Daher kommt es also entscheidend darauf an, ob eine Mehrehe mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts vereinbar ist, insbesondere mit Art. 6 I GG. Mit der am 9.8.2019 in Kraft getretenen Änderung des StAG hat der Gesetzgeber bestimmt, dass eine Anspruchseinbürgerung an die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse geknüpft ist und der Antragsteller insbesondere nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet sein darf (§ 10 I S. 1 a.E. StAG n.F.). Freilich kann sich diese einfachgesetzliche Regelung nicht über eine anderslautende Verfassungsinterpretation hinwegsetzen, sodass der Blick auf Art. 6 I GG in den Vordergrund rückt. Das heißt: Wäre die Mehrehe mit Art. 6 I GG vereinbar oder verstieße die Verweigerung der Anerkennung der Mehrehe sogar gegen Art. 6 I GG, führte dies zur Pflicht des Staates, eine Mehrehe anzuerkennen und sogar an der Schließung der Mehrehe mitzuwirken. Diese Frage soll Gegenstand der nachfolgenden Bearbeitung sein.

Prüfungsmaßstab Art. 6 I GG: Ausgangspunkt ist der Wortlaut des Art. 6 I GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Eine Definition des Begriffs der Ehe enthält die Norm aber nicht, womit aus rechtsmethodischer Sicht die systematische, v.a. aber die teleologische Auslegung in den Mittelpunkt rücken. Da nach der Rechtsprechung des BVerfG das Institut der Ehe einer Gestaltung (und damit Definition) durch den Gesetzgeber offensteht (für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung ausdrücklich BVerfGE 81, 1, 6 f.: „Jedoch hat der Gesetzgeber das Rechtsinstitut der Ehe in einer seiner Natur und Funktion entsprechenden Weise auszugestalten.“), erscheint die Mehrehe als Form der Ehe i.S.d. Art. 6 I GG nicht von vornherein ausgeschlossen. Jedoch hat das BVerfG unter Verweis auf „unveränderbare Strukturprinzipien“ einer Ehe und in Anknüpfung an die christlich-abendländische Tradition entschieden, dass sowohl die Verschiedengeschlechtlichkeit als auch die Einehe zu ebenjenen unveränderbaren Strukturprinzipien der Ehe zählten (siehe etwa BVerfGE 31, 58, 82; 105, 313, 343).
Demnach ist das Institut der Ehe unter Zugrundelegung traditioneller bürgerlicher Lebensverhältnisse geprägt durch:
  • Verschiedengeschlechtlichkeit
  • Monogamie
  • auf Dauer angelegt mit dem Ziel der gemeinsamen Lebensgestaltung, der gegenseitigen Rücksichtnahme und Achtung sowie der Pflicht zur Beistandsleistung, Hilfe und Gefahrenabwehr
  • freiwilliger Entschluss beider Partner zur Eheschließung und zur Fortpflanzung bzw. zur Familiengründung
  • Gleichberechtigung der Ehepartner
  • staatlicher Mitwirkungsakt (feststellender Verwaltungsakt des Standesbeamten, dass die Ehe geschlossen wurde)
Ob die zunächst angesprochene Verschiedengeschlechtlichkeit zu den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien einer Ehe gehört, ist unklar. Das BVerfG war bzw. ist bislang dieser Meinung. Es begründet das Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit mit der „idealtypischen Funktion der Ehe“, der Möglichkeit zur Gründung einer Familie, die auf natürliche Weise aus biologischen Gründen nur verschiedengeschlechtlichen Paaren gegeben sei. Die Ehe sei „von Natur aus“ auf die potentiell aus ihr hervorgehende Familie und die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen, ausgerichtet und gelte als „Keimzelle einer jeden menschlichen Gemeinschaft“ (BVerfGE 6, 55, 71; relativierend immerhin BVerfGE 133, 59, 83). Die Ehe als rechtliche Form einer umfassenden Bindung zwischen Mann und Frau sei alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft und als solche Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern (so ausdrücklich BVerfGE 76, 1, 51 - Familiennachzug). Die h.L. knüpft daran an und propagiert, dass die Erzeugung von Nachkommen und die Familiengründung geradezu der Zweck sowie die „natürliche Folge“ einer Ehe seien (Vgl. Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 4; Gade/Thiele, DÖV 2013, 142, 143 f.; Kreß, ZRP 2012, 234, 235). Das BVerfG betont schließlich, dass die Verschiedengeschlechtlichkeit daher zu den „unveränderlichen Strukturprinzipien“ einer Ehe gehöre und somit mit Blick auf die Institutsgarantie des Art. 6 I GG unantastbar sei (BVerfGE 105, 313, 345; vgl. auch BVerfG NJW 1993, 3058; BVerwG NVwZ 1997, 189, 190; BVerfGE 115, 1, 19; Pieroth/Kingreen, KritV 2002, 219, 239; Scholz/Uhle, NJW 2001, 393, 394). 

Das überzeugt nicht. Denn wie schon bei R. Schmidt, Grundrechte, 16. Auflage 2014 aufgezeigt, steht außer Zweifel, dass das Institut der Ehe auch zeugungsunfähigen Personen offensteht, solange sie nur verschiedengeschlechtlich sind, obwohl die „idealtypische Funktion der Ehe“ – die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen und eine Familie zu gründen – hier ganz offensichtlich ebenso wenig erreicht werden kann wie bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Es wäre aber absurd, zeugungsunfähigen Menschen das Institut der Ehe zu verschließen. Aus diesen Überlegungen heraus folgt, dass die Begründung des BVerfG auf einem anachronistischen Eheverständnis beruht, das sich modernen Familienstrukturen verschließt und daher keine Überzeugungskraft beanspruchen kann. Zudem ist die „Verschiedengeschlechtlichkeit“ verfassungstextlich nicht als „unveränderliches Strukturprinzip“ festgeschrieben, sondern lediglich der aufgezeigten, von einer bürgerlichen Tradition geleiteten Verfassungsinterpretation entsprungen, die jedoch (und das wird vom BVerfG insoweit unberücksichtigt gelassen) gerade aufgrund der auch sonst vom BVerfG betonten Gestaltungsoffenheit (siehe BVerfGE 81, 1, 6 f.) und der Normgeprägtheit des Art. 6 I GG einem Bedeutungswandel unterworfen ist. Gerade Gestaltungsoffenheit und Normgeprägtheit des Art. 6 I GG führen dazu, den Begriff der Ehe unter Berücksichtigung moderner gesellschaftlicher Anschauungen zu interpretieren, ohne gegen die „unveränderlichen Strukturprinzipien“ der Ehe zu verstoßen oder den Verfassungstext ändern zu müssen. Der Umstand, dass eine Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts in vielen anderen (ebenfalls „christlich geprägten“) Staaten (vgl. etwa Island, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal) zulässig ist, stellt einen starken Indikator für ein sich wandelndes gesellschaftliches Selbstverständnis dar, was die in Deutschland (bislang) vorhandenen (Verfassungs-)Vorbehalte als unbegründet erscheinen lässt. Schließlich greifen die teilweise angeführten Argumente, der historische Gesetzgeber sei ganz selbstverständlich von der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner ausgegangen und habe diese zur Grundlage seines Eheverständnisses gemacht (so Uhle, in: BeckOK, GG, Art. 6 Rn. 4), schon deshalb nicht, weil es in der Debatte im Parlamentarischen Rat primär um die Frage ging, generell den Schutz von Ehe und Familie in das Grundgesetz aufzunehmen (Leibholz/v. Mangoldt, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge Bd. 1, 1951, S. 93-99). Der zunächst vom Grundsatzausschuss gebilligte Wortlaut: „Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“ (Leibholz/v. Mangoldt, a.a.O., S. 98) wurde später vom Hauptausschuss ausdrücklich nicht angenommen. Dort verständigte man sich vielmehr auf die Fassung: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ (Leibholz/v. Mangoldt, a.a.O., S. 99). Einen Willen des historischen Gesetzgebers, eine Ehe könne nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden, hätte man daher nur dann annehmen können, wenn er den vom Grundsatzausschuss gebilligten Textentwurf übernommen hätte. Da er diesen aber gerade nicht übernommen, sondern sich für eine offene Formulierung in Art. 6 I GG entschieden hat, kann dem Willen des historischen Gesetzgebers also gerade nicht entnommen werden, dass er einen Verfassungs- bzw. Bedeutungswandel des Ehebegriffs für alle Zeiten ausschließen wollte (siehe R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 20c).

Dass auch das BVerfG die Möglichkeit eines Verfassungswandels im Sinne eines Interpretationswandels anerkennt, ist nicht zu bestreiten. Während es im Jahre 1957 noch entschied, dass die §§ 175, 176 StGB a.F., die die Homosexualität zwischen Männern unter Strafe stellten, verfassungsgemäß seien, weil homosexuelle Handlungen unter Männern gegen das Sittengesetz verstießen (BVerfGE 6, 389, 413 ff. – Homosexuelle), hat es im Jahre 2002 das LPartG, das die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare vorsah, (ebenfalls) für verfassungsgemäß erachtet. Insbesondere sei Art. 6 I GG nicht verletzt. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 I GG hindere den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleichkämen. Dem Institut der Ehe drohten keine Einbußen durch eine (gleichwertige) Lebenspartnerschaft (BVerfGE 105, 313, 331 ff. – Lebenspartnerschaftsgesetz). Daraus folgt: Würde das BVerfG nicht die Möglichkeit eines Verfassungswandels im Sinne eines Interpretationswandels (hier: das Sittengesetz als dynamischer Prozess) anerkennen, hätte es das LPartG „als Verstoß gegen das Sittengesetz“ ansehen müssen und hätte es nicht für verfassungsgemäß erachten dürfen (vgl. auch Kretschmann, Bundesrat, Stenographischer Bericht, 959. Sitzung, 7.7.2017, S. 330) – siehe R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 20d).

Anknüpfend an den dynamischen Lebensprozess hat das BVerfG denn auch Verstöße gegen Art. 3 I, III S. 1 GG unter dem Aspekt der mittelbaren Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung festgestellt hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung im Beamtenrecht, hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft bei der Gewährung von Familienzuschlag im Beamtenrecht und hinsichtlich der (ehemaligen) Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft im Grunderwerbsteuerrecht nach § 3 Nr. 4 GrEStG a.F. (jeweils eine am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG zu messende Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung). Schließlich hat das BVerfG die unterschiedliche Behandlung im Einkommensteuerrecht beanstandet, was zur Anwendung des sog. Ehesplittingtarifs auf Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft geführt hat. Mittlerweile hat der Gesetzgeber eine vollständige Gleichbehandlung in sämtlichen steuerlichen Belangen vorgenommen. Schließlich ist im Adoptionsrecht infolge eines Urteils des BVerfG die Möglichkeit der Sukzessivadoption durch Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich eingeführt worden. Auch im Übrigen macht das BVerfG deutlich, dass es der biologischen Elternschaft gegenüber der sozial-familiären keinen generellen Vorrang einräumt. Und im Transsexuellenrecht ist aufgrund eines Urteils des BVerfG § 8 I Nr. 2 Transsexuellengesetz, der die Änderung des Personenstands bei einem verheirateten Transsexuellen nur zuließ, wenn dieser sich zuvor hatte scheiden lassen, aufgehoben worden (siehe zu den jeweiligen Nachweisen R. Schmidt, Familienrecht, 10. Auflage 2018, Rn. 20e).

Berücksichtigt man also die auch sonst vom BVerfG anerkannte „Normgeprägtheit“ und „Gestaltungsoffenheit“ des Art. 6 I GG und erinnert an die vom BVerfG ebenfalls zugelassene Möglichkeit, verfassungsrechtliche Begriffe unter Berücksichtigung wandelnder gesellschaftlicher Lebensformen neu zu definieren bzw. Definitionsmerkmale neu zu interpretieren, war der einfache Gesetzgeber daher frei, nicht mehr auf der bürgerlichen Zwängen und Traditionen unterworfenen Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner zu beharren, sondern sich offen zu zeigen für moderne gesellschaftliche Strukturen unter Berücksichtigung der Gestaltungsoffenheit und der Normgeprägtheit des Art. 6 I GG und des dadurch ermöglichten aufgezeigten Verfassungswandels. Im Sinne der hier (vom Verfasser bereits in der 2. Auflage seines Buches zum Familienrecht) vertretenen Auffassung hat denn auch der Bundestag in Wahrnehmung der Normgeprägtheit und der Gestaltungsoffenheit des Art. 6 I GG am 20.7.2017 ein „Eheöffnungsgesetz“ erlassen und u.a. § 1353 I S. 1 BGB geändert, der nun nicht mehr an die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner anknüpft, sondern in offener Weise formuliert, dass die Ehe von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen wird.

Steht Art. 6 I GG der Eheschließung zwischen Menschen desselben Geschlechts nicht entgegen, stellt sich die Frage, ob das auch für die Mehrehe gelten kann. Letztlich wird man an diese Frage ebenso methodisch geordnet, d.h. durch Verfassungsinterpretation unter Heranziehung der anerkannten Auslegungsmethoden, herangehen müssen. Sicherlich wäre die Vorstellung der Anerkennung von Mehrehen unter Zugrundelegung der christlich-abendländischen Tradition sowie der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse „befremdlich“. Aber galt dies vor einigen Jahrzehnten nicht auch für die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen? Anerkennt man mit der hier vertretenen Auffassung die Figur des Verfassungswandels und die Gestaltungsoffenheit des Art. 6 I GG, dürfte es unter Zugrundelegung der sozialen Funktion der ehelichen Gemeinschaft sogar schwerfallen, methodisch einwandfrei die Mehrehe vom Schutz des Art. 6 I GG auszunehmen, spielt sie dem vom BVerfG aufgestellten traditionellen Leitbild von der „idealtypischen Funktion der Ehe“ und der „Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen und eine Familie zu gründen“, geradezu zu. Fürsorge, Beistandspflicht und Verantwortung sind in einer Mehrehebeziehung ebenso möglich wie in einer „traditionellen“ Ehe. Jedenfalls verstößt nach der oben aufgezeigten Auffassung des BVerwG das Bekenntnis zur Mehrehe nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes. Insoweit besteht zumindest deswegen kein Grund, ihre Anerkennung zu versagen. Freilich „relativiert“ das BVerwG den Eindruck, es „billige“ die Mehrehe, indem es am Ende der Entscheidung formuliert, dass es dem Gesetzgeber freistehe, die Anspruchseinbürgerung bei bestehender Mehrehe auszuschließen, etwa indem er nach dem Vorbild des (inzwischen aufgehobenen) § 9 I Nr. 2 StAG auch für die Anspruchseinbürgerung vom Ausländer eine „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ verlange (Rn. 67 der Entscheidung). Wie aufgezeigt, ist der Gesetzgeber durch Gesetz v. 4.8.2019 dieser „Aufforderung“ bzw. „Freigabe“ gefolgt und hat gem. § 10 I S. 1 a.E. StAG n.F. zur Einbürgerungsvoraussetzung gemacht, dass der Antragsteller die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet, insbesondere er nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet ist. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass eine einfachgesetzliche Vorschrift nicht Prüfungsmaßstab sein kann; allein entscheidend ist, inwieweit der verfassungsrechtliche Ehebegriff die Mehrehe erfasst. Diese Frage muss anhand einer Verfassungsinterpretation unter Beachtung der Strukturprinzipien und des Zwecks einer Ehe beantwortet werden. Und hier wird nun die Schwäche der traditionellen Interpretation evident: Stellt man auf die „idealtypische Funktion“ der Ehe ab, d.h. die „Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen und eine Familie zu gründen“, müsste man eine Mehrehe gerade anerkennen, ist bei ihr die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen und eine Familie zu gründen, sogar noch gesteigert. Auch der Versorgungsgedanke ist (im Vergleich zur Einehe) jedenfalls dann erhöht, wenn sämtliche Ehepartner berufstätig sind. Möchte man daher die Mehrehe ablehnen, muss man andere Argumente bemü-hen. Zu diesen zählt etwa die Frage nach der Elternschaft bei einer Mehrehe. Sol-len die Kinder neben den leiblichen Eltern auch die anderen Ehegatten als Elternteil haben? Was soll bei einer solchen juristischen Elternschaft nach einer etwaigen Scheidung gelten? Und bei welcher Ehegattenzahl will man die Grenze setzen? Verneint man danach das Ehegrundrecht, bleibt immerhin das Familiengrundrecht (BVerwG a.a.O. Rn. Rn 61).  Auch ist nach dem BVerwG die Mehrehe – soweit sie auf Freiwilligkeit beruht – nicht sittenwidrig, verstößt nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und wird im Rahmen des ordre public als im Bundesgebiet wirksam anerkannt (s.o.).

Abzulehnen ist jedenfalls der Gesetzesvorschlag Bayerns (BR-Dr. 249/18) „zur Bekämpfung der Mehrehe“. Zu begrüßen ist allein das Ziel, Rechtsklarheit und -sicherheit im Umgang mit Mehrehen zu schaffen. Nach der hier vertretenen Auffassung verfassungswidrig ist aber die vorgeschlagene Regelung (d.h. die Ergänzung des Art. 13 EGBGB um einen neuen Absatz 4), die Mehrehe aufzuheben, sofern die Ehepartner ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Konkret heißt es im Gesetzesvorschlag: „Haben beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, so ist eine nach ausländischem Recht geschlossene Ehe nach deutschem Recht aufzuheben, wenn bei der Eheschließung zwischen einem der Ehegatten und einer dritten Person bereits eine Ehe oder Lebenspartnerschaft bestand.“ Die Verfassungswidrigkeit knüpft an den Umstand, dass ein Familienverbund auseinandergerissen würde mit unverhältnismäßigen Folgen für vorhandene Kinder. Auch die von der Nichtigkeitserklärung betroffenen Ehepartner (insb. Frauen) würden in nicht zu rechtfertigender Weise um ihre Ehegattenrechte (und ihre Gleichheitsrechte) gebracht.

Rolf Schmidt (27.10.2019)

 

15.09.2019: Zur Weite des prozessualen Tatbegriffs beim Strafklageverbrauch

Im Fernsehkrimi „Der kleine Mann“ von Ferdinand von Schirach, ausgestrahlt im ZDF am 13.9.2019, ging es um den sog. Strafklageverbrauch, d.h. um den verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf (Art. 103 III GG). So konnte im Fall der Täter eines schweren Betäubungsmitteldelikts (hier: § 30a BtMG, der eine Mindeststrafe von 5 Jahren Freiheitsstrafe vorsieht) nicht wegen dieses Delikts angeklagt bzw. verurteilt werden, weil andere Taten, die der Täter in diesem Zusammenhang ebenfalls verwirklicht hatte, bereits rechtskräftig geworden waren. Das Verfahren war daher einzustellen. Im Folgenden soll näher untersucht werden, ob dem gefolgt werden kann. 

Ausgangslage: Gemäß Art. 103 III GG darf niemand „wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“. Das durch diese Norm verfassungsrechtlich verankerte sog. Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem crimen iudicetur - sog. Strafklageverbrauch) bedeutet materielle Rechtskraft und bezieht sich auf den Inhalt der strafgerichtlichen Entscheidung. Es besagt, dass eine Tat, die bereits Gegenstand eines durch Sachurteil (oder Strafbefehl) abgeschlossenen Verfahrens war, nicht noch einmal Gegenstand eines Strafverfahrens und eines Sachurteils werden darf. Daher wäre es an sich auch treffender, von einem Doppelbestrafungs- und Doppelverfolgungsverbot zu sprechen.

Nach diesem Grundsatz stellt eine rechtskräftige Entscheidung für ein späteres Verfahren über die gleiche Tat ein (unbehebbares) Verfahrenshindernis dar; das Verfahren ist dann gem. § 260 III StPO einzustellen. Dies betrifft sowohl den Fall der Verurteilung als auch den eines Freispruchs. Entscheidend für den Strafklageverbrauch ist also die Frage, was unter „Tat“ zu verstehen ist. Der Tatbegriff ist aber auch aus anderen Gründen entscheidend, sodass sich insgesamt folgender Überblick ergibt (siehe Hartmann/Schmidt, StrafProzR, 7. Aufl. 2018, Rn. 18):

  • Nach dem Anklagegrundsatz (Akkusationsprinzip) darf das Gericht nur im Rahmen der angeklagten Tat tätig werden (§§ 151, 155 I StPO), sodass sich der Eröffnungsbeschluss nur auf das Verhalten beziehen darf, das dem Beschuldigten in der Anklageschrift vorgeworfen wird. Der Tatbegriff begrenzt also den Verhandlungsstoff.
  • Nur die im Eröffnungsbeschluss (§ 207 StPO) bezeichnete Tat ist Gegenstand der Urteilsfindung durch das Gericht (§ 264 I StPO). Ergeben sich in der Hauptverhandlung neue, in der Anklageschrift und im Eröffnungsbeschluss nicht bedachte Aspekte, ist zu unterscheiden, ob es sich nur um neue rechtliche Momente der angeklagten Tat oder um eine andere Tat handelt. Liegt eine andere Tat im Sinne des Strafprozessrechts vor, ist zu deren Einbeziehung in den Stoff der Hauptverhandlung eine Nachtragsanklage erforderlich (§ 266 StPO). Ändert sich lediglich die rechtliche oder tatsächliche Betrachtungsweise im Hinblick auf die angeklagte Tat, genügt ein rechtlicher Hinweis nach § 265 I und II StPO. Dieser rechtliche Hinweis muss im Protokoll vermerkt werden; schweigt das Protokoll, gilt er als nicht erfolgt (Beweiskraft des Protokolls).
  • Der Tatbegriff beschreibt des Weiteren die Rechtskraft und den Strafklageverbrauch. Ob der Grundsatz ne bis in idem (Art. 103 III GG) durch eine erneute Strafverfolgung verletzt wird, hängt davon ab, ob in einem neuen Verfahren „dieselbe Tat“ im Sinne des Strafprozessrechts verfolgt wird.
Zwar normiert Art. 103 III GG den Strafklageverbrauch mit seinen weit reichenden Auswirkungen (s.o.), die Bestimmung enthält aber keine Definition des Tatbegriffs. Klar ist nur, dass es um ein prozessuales Verständnis geht. Eine Übertragung des Tatbegriffs, der im materiellen Strafrecht in der Konkurrenzlehre (§§ 52, 53 StGB) geläufig ist, ist damit nicht ohne weiteres möglich (aber auch nicht ausgeschlossen).

Nach der Definition des BGH (BGHSt 32, 215, 216; 35, 60, 62; 41, 292, 298; 43, 252, 255; 45, 211, 212. Vgl. auch OLG Oldenburg StraFo 2006, 412; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 304; BVerfGE 56, 22, 28) umfasst eine Tat im prozessualen Sinne das gesamte Verhalten des Beschuldigten, soweit es mit dem durch die Strafverfolgungsorgane (in der Anklage, im Eröffnungsbeschluss oder im Urteil) bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis „nach der allgemeinen Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang bildet“. In einer anderen Entscheidung des BGH heißt es: „...liegt eine Tat im prozessualen Sinne vor, wenn zwischen den einzelnen Verhaltensweisen des Täters eine innere Verknüpfung dergestalt besteht, dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde“ (BGHSt 41, 385, 388. Vgl. auch BGH NStZ-RR 2009, 289).

Damit steht zumindest fest, dass der BGH den Begriff der prozessualen Tat (sehr viel) weiter versteht als den der materiellen Tat. Wann aber ein „einheitlicher Lebensvorgang“, der zu einer Tat im prozessualen Sinne führt, anzunehmen ist, ist wiederum ebenso unklar wie die Frage, wann eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs anzunehmen ist. Dabei können die Bejahung bzw. Verneinung große Auswirkungen, insbesondere für den Beschuldigten hinsichtlich des Strafklageverbrauchs, haben. Entscheidende Kriterien sind nach dem BGH Tatort, Tatzeit, Tatobjekt sowie als normatives Kriterium die Angriffsrichtung der Tat.

Dem zu besprechenden Kriminalfall „Der kleine Mann“ von Ferdinand von Schirach (ausgestrahlt im ZDF am 13.9.2019) lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Der stellvertretende Supermarktleiter T wird wegen seiner geringen Körpergröße von anderen bestenfalls ignoriert, meistens belächelt, manchmal auch verhöhnt. Als er eines Tages zufällig Zeuge eines Drogendeals wurde und sah, wie der Drogenkäufer einen Rucksack mit 5 kg Kokain unter einem Abfallcontainer des Supermarktes deponierte, begab er sich – nachdem er sich „Mut angetrunken hatte“ – am späten Abend dorthin und nahm den Rucksack an sich. Noch bevor er den Bereich verlassen konnte, erschien der Drogenkäufer, um die Ware abzuholen. T ergriff sofort die Flucht und erreichte sein Auto. Die weitere Flucht mit dem Auto konnte er aber nur ermöglichen, indem er dem ihn verfolgenden Drogenkäufer Pfefferspray ins Gesicht sprühte, sodass dieser „gefechtsunfähig“ wurde. Auf der Fluchtfahrt verlor er infolge überhöhter Geschwindigkeit und seiner BAK von 1,6 ‰ die Kontrolle über sein Fahrzeug und kam auf einer Verkehrsinsel zum Stehen.

Lösung: Hier hat T zunächst den Tatbestand des § 30a II Nr. 2 BtMG verwirklicht. Er hat sich Betäubungsmittel in nicht geringer Menge verschafft und dabei mit dem Pfefferspray einen sonstigen Gegenstand mit sich geführt, der seiner Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt ist (Anm.: Hätte es sich um ein „Tierabwehrspray“ gehandelt, wäre wegen der anderen Zweckbestimmung das Merkmal des „Bestimmtseins“ und damit der Tatbestand des § 30a BtMG zu verneinen gewesen). Wegen des Pfeffersprayeinsatzes hat er den Tatbestand des § 224 I Nr. 2 Var. 2 StGB (Pfefferspray als gefährliches Werkzeug) bzw. § 224 I Nr. 1 Var. 2 StGB (Pfefferspray als gesundheitsschädlicher Stoff) verwirklicht. Sodann hat T mit der Fluchtfahrt den Tatbestand des § 315c I Nr. 1a StGB (jedenfalls aber den des § 316 StGB) verwirklicht.

Wegen der Schwere des Betäubungsmitteldelikts und der damit verbundenen Annahme einer Fluchtgefahr (nach § 30a BtMG beträgt die Strafandrohung „Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren“, wodurch regelmäßig Fluchtgefahr i.S.d. § 112 II Nr. 2 StPO angenommen wird) wird gem. § 112 I StPO Untersuchungshaft angeordnet. Während der Untersuchungshaft ergeht vom Amtsgericht außerdem ein Strafbefehl wegen des Pfeffersprayeinsatzes und der Trunkenheitsfahrt (siehe § 407 StPO). T verzichtet auf die Einlegung eines Einspruchs (§ 410 StPO), wodurch der Strafbefehl rechtskräftig wird.

Besteht auf der Basis der BGH-Rechtsprechung nun zwischen den einzelnen Verhaltensweisen des T (BtM-Delikt, Pfeffersprayeinsatz, Trunkenheitsfahrt) eine innere Verknüpfung dergestalt, dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde, liegt eine Tat im prozessualen Sinne vor. Folge wäre, dass durch die eingetretene Rechtskraft des Strafbefehls Strafklageverbrauch eingetreten wäre. Der Eröffnung der Hauptverhandlung wegen des BtM-Delikts stünde ein Verfahrenshindernis entgegen. Das Strafverfahren wäre gem. § 260 III StPO zwingend einzustellen.

Stellungnahme: Im oben erwähnten Fall „Der kleine Mann“ wurde eine Tat im prozessualen Sinne bejaht. Das mag erstaunen und dem „natürlichen Rechtsgefühl“ widersprechen, ist aber nachvollziehbar, wenn man die vom BGH aufgestellten Grundsätze heranzieht und überlegt, dass der Pfeffersprayeinsatz und die Trunkenheitsfahrt in engem Sachzusammenhang mit dem BtM-Delikt standen. Denn ohne das BtM-Delikt wäre es zum einen zu diesen Taten nicht gekommen und zum anderen standen sie in engem räumlichem, zeitlichem und innerem Zusammenhang mit dem BtM-Delikt. Freilich eine andere Frage ist es, ob man die Rechtsprechung des BGH zur Weite des prozessualen Tatbegriffs nicht prinzipiell ablehnen möchte und den Begriff der prozessualen Tat wie den der materiellen Tat versteht. Denn beim materiellen Tatbegriff sind mehraktige Geschehensabläufe immer dann separat zu beurteilen, wenn die einzelnen Geschehnisse keine natürliche Handlungseinheit darstellen. Eine natürliche Handlungseinheit liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs, etwa bei Messerstichen innerhalb weniger Sekunden oder bei einem gegen eine aus der Sicht des Täters nicht individualisierte Personenmehrheit gerichteten Angriff, willkürlich und gekünstelt erschiene (BGH NStZ 2016, 594, 595; NStZ 2006, 284, 286). Bei mehreren Handlungen, die sich gegen verschiedene Rechtsgüter richten, ist zudem niemals von nur einer Tat zu sprechen. So liegt es im oben erwähnten Fall „Der kleine Mann“: Das BtM-Delikt, die gefährliche Körperverletzung und die Trunkenheitsfahrt sind verschiedene Taten; sie richten sich gegen verschiedene Rechtsgüter. Nach der hier vertretenen Auffassung erstreckt sich der Strafklageverbrauch nicht auf Handlungen, die sich gegen andere Rechtsgüter richten. Daher erstreckte sich der Strafklageverbrauch in Bezug auf die gefährliche Körperverletzung und die Trunkenheitsfahrt nicht auf das BtM-Delikt. Dem steht auch Art. 103 III GG nicht entgegen, da diese Verfassungsbestimmung nicht zu der weiten Interpretation des Tatbegriffs zwingt, wie sie vom BGH angenommen wird. Denn Art. 103 III GG spricht schließlich von „derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“, wodurch eine Inbezugnahme auf den materiellen Tatbegriff jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint.

Rolf Schmidt (15.09.2019)



02.09.2019: Manipulation am EAN- bzw. GTIN-Code im Kaufhaus als Betrug und Urkundenfälschung?

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.03.2019 – 1 Rv 3 Ss 691/18

Mit Beschluss v. 13.03.2019 hat das OLG Karlsruhe (1 Rv 3 Ss 691/18) entschieden, dass das Austauschen des EAN- bzw. GTIN-Codes im Freizeitmarkt als Betrug und Urkundendelikt zu werten sei. Ob der Beschluss überzeugt und welche Voraussetzungen für die genannten Straftaten vorliegen müssen, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Strafrecht Besonderer Teil II, 20. Aufl. 2018, Rn. 70 ff. ausgeführt, setzt die Tathandlung des Diebstahlstatbestands (§ 242 I StGB) den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams voraus. Insbesondere die Frage, ob neuer Gewahrsam begründet wird, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung bzw. nach sozial-normativen Gesichtspunkten. Allgemein wird die Begründung neuen Gewahrsams mit folgender Formel beschrieben:  „Neuer Gewahrsam wird begründet, wenn der Täter die tatsächliche Sachherrschaft derart erlangt hat, dass er sie ohne Behinderung durch den bisherigen Gewahrsamsinhaber ausüben kann“ (BGH NStZ 2014, 41; vgl. auch BGH NStZ 2008, 624, 625; LG Zwickau NJW 2006, 166; Sch/Sch-Bosch, § 242 Rn. 38; Lackner/Kühl-Kühl, § 242 Rn. 15).
Geht es um kleine, leicht zu transportierende Sachen wie Schmuck oder Bargeld, lässt die h.M. auf der Basis der Apprehensionstheorie ein zum Gewahrsamswechsel führendes Ergreifen (und Festhalten) der fremden Sache genügen. Hintergrund ist, dass der bisherige Gewahrsamsinhaber die vom Täter durch das Ergreifen und Festhalten geschaffene Gewahrsamssphäre seinerseits aufheben müsste, um Gewahrsam wiederzuerlangen. Schwierigkeiten bereiten regelmäßig die Fälle, in denen der Täter während des Ergreifens der fremden Sache sich noch im Machtbereich des bisherigen Gewahrsamsinhabers befindet. Im Besonderen geht es um Diebstahl in Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden. So genügt bei kleinen, unauffälligen, leicht beweglichen Sachen nach der Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache (so ausdrücklich BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18). Speziell in den Kaufhausfällen dürfte daher auch ein Ergreifen und Festhalten (und natürlich erst recht ein Einstecken in die Tasche) bspw. von USB-Sticks oder Speicherkarten zur Vollendung des objektiven Diebstahlstatbestands führen. Bei handlichen, leicht zu transportierenden Gegenständen ist sowohl nach der Verkehrsauffassung als auch nach sozial-normativer Zuordnung (bereits) das Einstecken in die eigene Kleidung, in die mitgeführte Hand-, Einkaufs- oder Aktentasche, einen mitgeführten Beutel oder Rucksack oder eine mitgeführte Sporttasche etc. auch innerhalb des fremden Herrschaftsbereichs als Vollendung anzusehen. Die h.M. bezeichnet dies als Gewahrsamswechsel im „Tabubereich“ oder als „Schaffung einer Gewahrsamsenklave“. Hinsichtlich des Einsteckens in die Kleidung wird zur Begründung angeführt, dass die Körpersphäre mit einem Tabu umgeben sei (Persönlichkeitsrecht). Wollte der alte Gewahrsamsinhaber die Sache zurückerlangen, müsste er wiederum ggf. mit Gewalt in den fremden Tabubereich eindringen, wobei er erfahrungsgemäß auf heftigen Widerstand stoßen würde. Und in Bezug auf Beutel, Taschen oder Rucksäcke außerhalb des Tabubereichs wird angeführt, dass solche Behältnisse i.d.R. geeignet seien, einen unproblematischen Abtransport der Beute zu ermöglichen und zudem den Berechtigten von einem ungehinderten Zugriff auf seine Ware auszuschließen; dieser müsste seinerseits in die Herrschaftsgewalt des Täters eingreifen, um wieder über den Gegenstand verfügen zu können (BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18: Zwei Flaschen Bacardi in mitgeführte Sporttasche). Aus diesem Grund tritt in solchen Fällen der Gewahrsamswechsel mit der Begründung einer Gewahrsamsenklave ein (vgl. BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18). Dies hat beispielsweise in den Kaufhausfällen die Konsequenz, dass derjenige, der ein Zigarettenpäckchen, eine kleinere Spirituosenflasche („Magenbitter“), Speichersticks, Süßigkeiten u.Ä., aber auch Spirituosenflaschen in Normalgröße (BGH 6.3.2019 – 5 StR 593/18) oder ein Notebook (BGH NStZ 2015, 276) auf die oben beschriebene Weise an sich bringt, die Wegnahme und damit den Diebstahl noch vor Erreichen der Kasse bzw. des Ausgangs vollendet, und zwar unabhängig davon, ob er dabei beobachtet oder erst später am Ausgang durch einen alarmauslösenden (elektromagnetischen) Sicherheitsmechanismus ertappt wird. Wegen der Vollendung ist auch ein strafbefreiender Rücktritt durch freiwillige Rückgabe noch vor der Kasse (oder durch Zurücklegen ins Regal) ausgeschlossen (vgl. § 24 StGB); ein Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue ist vom Gesetz bei § 242 StGB nicht vorgesehen (freilich wird in der Praxis in so einem Fall der Inhaber des Ladens wohl keine Strafanzeige stellen). Vor allem aber ist der Zeitpunkt der Vollendung wichtig, wenn der Täter im Zusammenhang mit dem Diebstahl gegen eine Person Gewalt verübt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben anwendet. Dann kann Raub oder räuberische Erpressung vorliegen.

Von nicht unerheblicher Relevanz sind auch die Fälle, in denen der Täter am Preisetikett manipuliert, die Ware umverpackt oder Verpackungen mit zusätzlichen Waren versieht. Denkbar (und gerichtlich entschieden) sind in diesem Zusammenhang etwa
  • Der Täter öffnet die Packung und legt weitere Ware (Zubehör o.Ä.) hinein.
  • Der Täter tauscht den gesamten Inhalt (gegen höherwertigere Ware) aus.
  • Der Täter labelt Ware um.
  • Der Täter versieht Ware mit einem anderen EAN- bzw. GTIN-Code.
Legt der Täter die so manipulierte Ware an der Kasse vor und scannt der Kassierer/die Kassiererin das Produkt, ohne dass ihm oder ihr die Manipulation auffällt, stellt sich die Frage, ob hierin ein Diebstahl oder ein Betrug zu sehen ist. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass in all den genannten Fällen der Täter zunächst (d.h. vor Erreichen der Kasse) mangels Schaffung einer Gewahrsamsenklave noch keinen Gewahrsam an den fraglichen Artikeln begründet. Der Gewahrsamswechsel findet erst an der Kasse statt. Nicht eindeutig ist in diesem Zusammenhang, ob die Artikel dann im Wege der Wegnahme (= § 242 StGB) oder der täuschungsbedingten Verfügung (= § 263 StGB) erlangt werden. Das war auch die Frage im vorliegend zu besprechenden Fall des OLG Karlsruhe. Der Entscheidung lag folgender (abgewandelter) Sachverhalt zugrunde:

In einem Freizeitmarkt werden u.a. Gartenschlauchtrommeln als Set angeboten. Als Einheit zusammengebaut werden Trommel, Schlauch und Spritzdüse mit Duschkopf zu einem – in Abhängigkeit der jeweiligen Qualitätsstufe – Gesamtpreis von 39,90 € bis 59,90 € angeboten. Am Duschkopf ist mittels Schlaufe ein Label angebracht. Auf dem Label aufgedruckt ist die 13-stellige EAN bzw. GTIN nebst Strichcode. Zweck dieses Identifikationsverfahrens ist u.a., dass an der Kasse lediglich der Strichcode gescannt werden muss, um den Preis aufzurufen und den Verkauf im Warenwirtschaftssystem zu verbuchen. T hat Interesse an dem teuersten Set, fasst dabei aber den Entschluss, den (lediglich gesteckten) Duschkopf des günstigsten Sets abzuziehen und auf den Schlauch des teuersten Sets aufzustecken. Sodann begibt er sich zum Kassenbereich und legt das Set auf das Kassenband. Die Kassiererin scannt das Label und nennt T einen Preis von 39,90 €. Nach Bezahlung begibt sich T in Richtung Ausgang, wo er aber von der Kaufhausdetektivin D, die das Geschehen beobachtete, abgefangen wird.

Lösung: Durch das beschriebene Verhalten könnte in vermögensrechtlicher Hinsicht T Betrug oder Diebstahl begangen haben.  
  • Denkbar wäre es, an der Kasse einen Diebstahl anzunehmen, indem man wie bei den Trickdiebstählen an einen erschlichenen Gewahrsamswechsel denkt: Überlässt bspw. jemand einem anderen einen Gegenstand lediglich zur Ansicht bzw. Anprobe, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er damit zugleich den Gewahrsam daran aufgeben wollte (siehe dazu etwa BGH NStZ 2016, 727). Es findet vielmehr lediglich eine Gewahrsamslockerung statt, die vom Täter ausschließlich zu dem Zweck erschlichen wurde, den Gegenstand in die Hände zu bekommen, um damit das Weite zu suchen. Daher kann regelmäßig nicht von einer Vermögensverfügung seitens des Personals gesprochen werden. Es liegt mithin eine (die Gewahrsamslockerung ausnutzende) Wegnahme vor (siehe den Fall bei R. Schmidt, Strafrecht BT II, Rn. 593). Diese Überlegung ist auf den vorliegenden Fall aber nicht übertragbar. Denn das Kassenpersonal möchte i.d.R. nicht lediglich den Gewahrsam lockern, sondern diesen aufgeben. Folglich scheidet insoweit ein Diebstahl aus. Möglicherweise gelangt man aber zur Wegnahme, indem man mit der Lehre vom bedingten Einverständnis operiert. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich das Einverständnis des Kassierers/der Kassiererin zur Gewahrsamsübertragung nur auf den ordnungsgemäßen Inhalt der Verpackung bzw. die Ordnungsgemäßheit der Preisauszeichnung oder des EAN-/GTIN-Codes beziehe (das Einverständnis zum Gewahrsamswechsel ist bedingt durch die Ordnungsgemäßheit der zum Gewahrsamswechsel führenden Umstände, dazu R. Schmidt, Strafrecht BT II, Rn. 63 f.). Da es daran fehlt, gelangt dieser Ansatz zu dem Ergebnis, dass es am Verfügungswillen i.S.d. § 263 StGB und damit am Einverständnis des Gewahrsamswechsels fehlt, was in der Folge zur Annahme eines Gewahrsamsbruchs i.S.d. § 242 StGB führt (Für Diebstahl im Falle des ergänzten Inhalts Vitt, NStZ 1994, 133, 134; Wessels/Hillenkamp/Schur, Strafrecht BT 2, Rn. 635; Roßmüller/Rohrer, Jura 1994, 471, 473 f.; dagegen soll auch nach diesen Stimmen Betrug anzunehmen sein, wenn der Täter, statt nur den Inhalt zu ergänzen, den Inhalt komplett ausgetauscht hat; dann sei von einer irrtumsbedingten Vermögensverfügung auszugehen, sodass für § 242 StGB kein Raum sei).
  • Richtigerweise wird man in solchen Fällen aber einen Betrug annehmen müssen. An der Kasse kommt es nämlich – wie oben beschrieben – zu einem willentlichen Gewahrsamswechsel durch den Kassierer/die Kassiererin: Er/sie verfügt (täuschungsbedingt) in der Weise, wie das Produkt/der Karton in sein/ihr Blickfeld gerät, also als Ganzes und als Einheit. Zur Irrtumsbejahung genügt die Vorstellung, dass mit dem Gegenstand „alles in Ordnung“ ist (wie hier OLG Düsseldorf NJW 1988, 922; Fahl, JuS 2004, 885, 886 und NStZ 2014, 244, 247).
Im vorliegenden Fall hat das OLG Karlsruhe zutreffend entschieden, dass die Kassiererin die Schlauchtrommel im Zuge des Bezahlvorgangs freiwillig an T ausgehändigt und damit den Gewahrsam an dieser Ware übertragen habe. Der Verfügungswille der Kassiererin sei bei der Gewahrsamsübertragung auf die Schlauchtrommel konkretisiert gewesen. Durch die Übereignung und Übergabe des Trommelsets hat der Betreiber des Freizeitmarktes auch einen Vermögensschaden erlitten, der im Differenzbetrag besteht. Im Ergebnis ist daher T wegen Betrugs strafbar.

Neben dem verwirklichten Betrug kommt Urkundenfälschung gem. § 267 I Var. 2 StGB in Betracht. Nach allgemeiner Auffassung ist Urkunde die verkörperte (d.h. mit einer Sache fest verbundene) Gedankenerklärung, die geeignet und bestimmt ist, im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen, und die ihren Aussteller (den Erklärenden) erkennen lässt (vgl. BGHSt 3, 82, 84 f.; 4, 248, 285; 13, 235, 239; OLG Köln NJW 2002, 527; OLG Düsseldorf NJW 1997, 1793, 1794; Hecker, JuS 2002, 224, 225). Bei dem Trommelset könnte es sich um eine zusammengesetzte Urkunde handeln. Von zusammengesetzten Urkunden spricht man, wenn die verkörperte Gedankenerklärung (Beweiszeichen) mit einem anderen Gegenstand (Augenscheinsobjekt; Bezugsobjekt) fest zu einer Beweiseinheit verbunden wird und gerade dadurch erst die Urkundeneigenschaft erlangt (MüKo-Erb, § 267 Rn. 53 ff.; Sch/Sch-Heine/Schuster, § 267 Rn. 36a; Wessels/Hettinger/Engländer, BT 1, Rn. 896; Lackner/Kühl-Heger, § 267 Rn. 8; AG Waldbröl NJW 2005, 2870). Im Wirtschaftsverkehr ist die Beweiseinheit von wortvertretendem Symbol (Beweiszeichen, s.o.) und Bezugsobjekt relevant. Beispiele hierfür sind die Plombe am Stromzähler, der Prüfstempel des Fleischbeschauers, das mit amtlichem Siegel versehene Kennzeichen am Kfz und das Lichtbild im Ausweis. Diese Beweiszeichen bilden zusammen mit dem jeweiligen Bezugsobjekt Urkunden. So ist das Preisetikett an einem Artikel isoliert betrachtet ein praktisch bedeutungsloses Zeichen, da es lediglich einen Preis aufzeigt. Wird es allerdings (etwa durch ein Kunststoffband oder durch Einschweißen in eine Klarsichtfolie) fest mit der Ware verbunden, bedeutet diese Verbindung, dass der Hersteller (Garantiefunktion) für die Ware einen bestimmten Preis festgesetzt hat (Perpetuierungs- und Beweisfunktion). Vertauscht nun bspw. ein Kunde das Preisschild einer teuren Ware (hier: grüne Hose) mit dem Preisschild einer billigen (hier: blaue Hose), verfälscht er gem. § 267 I Var. 2 StGB die zusammengesetzte Urkunde (grüne Hose mit Preisschild). Bezüglich der blauen Hose, an der kein Interesse besteht, wird § 267 I Var. 2 StGB mangels Täuschungsabsicht im Rechtsverkehr nicht verwirklicht. Durch die Entfernung der beiden Preisschilder kommt außerdem eine Urkundenunterdrückung gem. § 274 I Nr. 1 StGB in Betracht. Sie ist im ersten Fall (das Entfernen des Preises an der grünen Hose) zu bejahen und tritt als subsidiär zurück. Bezüglich der blauen (billigen) Hose, an der das Schild der teuren Ware angebracht wurde, fehlt es an der subjektiv erforderlichen Absicht des § 274 I Nr. 1 StGB. Ferner kommt eine Strafbarkeit wegen (versuchten) Betrugs und (vollendeter) Sachbeschädigung in Betracht (siehe R. Schmidt, Strafrecht BT I Rn. 1264).
Ähnliches gilt für den Fall, dass der Täter die Ware mit einem anderen EAN- bzw. GTIN-Code versieht. So bildeten auch im vorliegenden Fall das Beweiszeichen (der Sticker mit dem GTIN-Code) und das Trommelset (Bezugsobjekt) eine Beweiseinheit. Die feste Verbindung führte zur Urkundeneigenschaft (Im Originalfall fehlte es an der festen Verbindung des von T zusammengesetzten Sets, sodass lediglich eine Urkundenunterdrückung am Originalset gem. § 274 I Nr. 1 StGB vorlag). Mithin hat T durch das Auswechseln des Beweiszeichens den Tatbestand des § 267 I Var. 2 StGB erfüllt.

Rolf Schmidt (02.09.2019)



01.09.2019: Notwehr gegen Drohnen?

AG Riesa, Urt. v. 24.04.2019 – 9 Cs 926 Js 3044/19 (MMR 2019, 548)

Mit Urteil v. 24.04.2019 hat das AG Riesa (9 Cs 926 Js 3044/19) entschieden, dass das Überfliegen eines eingehegten Grundstücks mit einer zur Observation bzw. Ausspähung geeigneten Drohne in 5-15 m Höhe eine Notstandslage i.S.d. § 228 BGB begründe. Schieße dann der Betroffene die Drohne ab, sei er wegen § 228 BGB gerechtfertigt, und zwar auch dann, wenn der Wert der Drohne bei 1.500 € liege; der Abwehrschaden stehe zu der von der Drohne ausgehenden Gefahr nicht außer Verhältnis. Jedenfalls dann, wenn die Drohne nicht vom Eigentümer operiert werde, sei eine Notwehr gem. § 32 StGB nicht gegeben, da diese Vorschrift nur Verteidigungshandlungen gestatte, die sich ausschließlich gegen Rechtsgüter des Angreifers richteten. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 309 beschrieben, steht bei Befolgung des dreistufigen Deliktsaufbaus auf der ersten Stufe die Erfüllung des gesetzlichen Tatbestands. Der Tatbestand beschreibt typisches Unrecht in einer abstrakten Weise und der Gesetzgeber geht dabei davon aus, dass derjenige, der den Tatbestand erfüllt, auch rechtswidrig handelt. Aus diesem Grund ist die Rechtswidrigkeit im Regelfall durch die Erfüllung des Tatbestands indiziert. Gleichwohl gibt es Situationen, in denen die Erfüllung eines Tatbestands kein Unrecht darstellt, weil dem Täter ein Erlaubnissatz zur Seite steht. Kann sich derjenige, der einen gesetzlichen Straftatbestand erfüllt, also auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund stützen, begeht er kein Unrecht. Rechtfertigungsgründe können sich nicht nur aus dem StGB ergeben, sondern auch aus anderen Teilrechtsgebieten. Denn auch für die Rechtfertigungsgründe gilt der Grundsatz der „Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“: Was zivil- oder verwaltungsrechtlich erlaubt ist, kann strafrechtlich nicht verboten sein. Erlaubnisse und Freistellungen, aber auch Rechtfertigungsgründe aus dem Zivilrecht und dem öffentlichen Recht können daher auch im Strafrecht als Rechtfertigungsgründe fungieren. Daran knüpft das AG Riesa an, indem es § 228 BGB als Rechtfertigungsgrund heranzieht. Ob aber der zivilrechtliche Notstand gem. § 228 BGB tatsächlich der richtige Rechtfertigungsgrund ist oder ob auf den strafrechtlichen Notstand gem. § 34 StGB oder gar auf Notwehr gem. § 32 StGB abzustellen gewesen wäre, bedarf der näheren Untersuchung. Eine kurze Übersicht über diese Rechtfertigungsgründe soll die Unterscheide aufzeigen:
  • Notwehr nach § 32 StGB: Unter „Notwehr“ versteht das Gesetz die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (vgl. § 32 II StGB). Dieser Rechtfertigungsgrund beruht auf der Erwägung, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht.
  • Erforderlich ist zunächst eine Notwehrlage, d.h. ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut.
    • Unter einem Angriff versteht man das willensgetragene Verhalten eines Menschen, welches ein rechtlich geschütztes Interesse zu verletzen droht oder verletzt. Ein Angriff eines Tieres kann also grds. keine Notwehrlage begründen.
    • Als notwehrfähiges Rechtsgut kommt jedes rechtlich geschützte Interesse oder Gut des Notwehrübenden oder eines anderen in Betracht. Dazu zählen jedenfalls alle Individualrechtsgüter, u.a. Leben, Leib, Freiheit, Eigentum, Ehre und das Persönlichkeitsrecht.
    • Gegenwärtig ist ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch andauert. Sog. Dauergefahren sind also nicht geeignet, das Notwehrrecht auszulösen.
    • Rechtswidrig ist der Angriff, wenn er im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.
  • Notwehrhandlung: Jede mit Verteidigungswillen ausgeübte Verteidigungshandlung, die (objektiv) erforderlich und (normativ) geboten ist, um den Angriff abzuwehren.
    • Verteidigung ist jedes Verhalten, das sich (grds.) gegen die Rechtsgüter des Angreifers richtet und der Beendigung des Angriffs dient
    • Erforderlich ist grundsätzlich jede Handlung, welche zu einer wirksamen Verteidigung beiträgt, eine möglichst sofortige Beendigung des Angriffs erwarten lässt und die endgültige Beseitigung der Gefahr am besten gewährleistet. Eine Güterabwägung findet nicht statt („Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen“). Stehen dem Notwehrübenden allerdings mehrere gleich wirksame Abwehrmittel zur Verfügung, muss er dasjenige wählen, das den geringsten Schaden verursacht (Vorrang des relativ mildesten Mittels).
    • Obwohl eine Güterabwägung nicht stattfindet, wird das Notwehrrecht nicht grenzenlos gewährleistet. Vielmehr muss die Verteidigungshandlung geboten sein. So wird dem Verteidiger das „schneidige“ Notwehrrecht insbesondere dann versagt, wenn er sich rechtsmissbräuchlich verhält – sozialethische Schranke des Notwehrrechts.
  • Notstand nach § 228 BGB: Der auf § 228 BGB gestützte Notstand wird Defensivnotstand (oder auch Verteidigungsnotstand) genannt, weil der Täter sich durch die Einwirkung auf eine fremde Sache verteidigt, von der die Gefahr droht. Bei diesem Notstand sind die Schutzinteressen des Bedrohten höher zu bewerten als das Interesse des Eigentümers an der Erhaltung der Sache, deren Zustand, Einsatz oder Verhaltensweise andere gefährdet und zu Abwehrmaßnahmen zwingt.
  • Die Notstandslage besteht in einer von einer fremden Sache ausgehenden drohenden Gefahr für ein Rechtsgut oder ein rechtliches Interesse.
    • Unter einer Gefahr ist ein durch eine beliebige Ursache eingetretener ungewöhnlicher Zustand zu verstehen, in welchem nach den konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist.
    • Die Gefahr muss nicht gegenwärtig sein. Es genügt, wenn sie droht. Das ist der Fall, wenn eine auf tatsächliche Umstände gegründete Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens vorhanden ist. Auch eine Dauergefahrgenügt, also ein Zustand (auch von längerer Dauer), bei dem eine auf Umständen begründete Wahrscheinlichkeit eines jederzeitigen Schadenseintritts besteht (Palandt-Ellenberger, § 228 BGB Rn. 4).
    • Die drohende Gefahr muss von einer fremden Sache ausgehen. Der Sachbegriff ist mit dem der §§ 90, 90a BGB identisch. Auch Tiergefahren sind damit erfasst. Fremd ist die Sache, wenn sie im (Mit-)Eigentum eines anderen steht. Gleich zu behandeln ist eine herrenlose Sache, an der ein Aneignungsrecht besteht.
    • Notstandsfähig sind Rechtsgüter aller Art.
  • Die Notstandshandlung besteht in der Beschädigung oder Zerstörung der fremden Sache, von der die Gefahr ausgeht. Das Beschädigen oder Zerstören muss aber auch erforderlich sein. Das ist – ähnlich wie bei § 32 StGB – immer dann anzunehmen, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht, um die drohende Gefahr erfolgreich abzuwenden.
  • Schließlich verlangt § 228 BGB, dass der durch die Notstandshandlung angerichtete Schaden „nicht außer Verhältnis zur Gefahr“ stehen darf. Das ist der Fall, wenn das geschützte Rechtsgut nicht wesentlich weniger wert ist als die beeinträchtigte Sache.
Hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses gilt:
  • § 32 StGB geht nach h.M. § 34 StGB vor, weil er eine abschließende Regelung in Bezug auf einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff darstellt und zudem (anders als § 34 StGB) keine Interessenabwägung verlangt (wie hier Sch/Sch-Perron, § 34 Rn. 6; NK-Neumann, § 34 Rn. 13; Fischer, § 34 Rn. 22). § 32 StGB ist jedoch in zeitlicher Hinsicht strenger, da er die Gegenwärtigkeit des Angriffs voraussetzt; § 34 StGB lässt nach h.M. auch eine Dauergefahr zu.
  • § 228 BGB geht § 34 StGB vor, weil er speziell Gefahren erfasst, die von einer fremden Sache ausgehen; § 34 StGB erfasst dagegen alle Gefahren. Umgekehrt muss die Gefahr bei § 34 StGB gegenwärtig sein; bei § 228 BGB genügt es, wenn sie droht. Da die h.M. aber auch bei § 34 StGB eine Dauergefahr genügen lässt, ist der Unterschied insoweit nivelliert. Die von der Sache ausgehende Gefahr macht also den entscheidenden Unterschied zu § 34 StGB aus.
  • Da die abzuwendende Gefahr bei § 228 BGB von einer Sache ausgeht und diese nicht rechtswidrig angreifen kann, ist schließlich der Rechtfertigungsgrund der Notwehr bei Sach- oder Tiergefahren ausgeschlossen.
In Kenntnis dieser Voraussetzungen sollte sich die Problematik der vorliegend zu besprechenden Entscheidung erschließen. Dem Urteil des AG Riesa lag folgender (geänderter) Sachverhalt zugrunde: O sonnt sich in ihrem Garten, der von einem 2-3 m hohen Sichtschutz umgeben ist. Nachbar T steuert die von seiner Cousine geliehene, mit einer hochauflösenden Kamera ausgestattete Drohne über die Grundstücksgrenze, um von oben Fotoaufnahmen von O zu fertigen. O gelingt es, einen Gegenstand nach oben zu werfen und die Drohne zum Absturz zu bringen. Der Schaden beträgt 1500 €.

Lösung: O hat vorsätzlich den Tatbestand der Sachbeschädigung gem. § 303 I StGB verwirklicht. Möglicherweise war die Tat aber gerechtfertigt. Das AG Riesa hat (nach kurzer Abgrenzung zu § 34 StGB) den Rechtfertigungsgrund des § 228 BGB für einschlägig erachtet. § 32 StGB hat es verneint mit dem Argument, dass diese Vorschrift grundsätzlich nur den Eingriff in die Rechtsgüter des Angreifers gestatte. Vorliegend habe aber die Drohne im Eigentum eines Dritten gestanden. Damit komme vorliegend jedenfalls § 228 BGB zur Anwendung, dessen Voraussetzungen auch vorlägen. Die Gefahrenabwehrhandlung (und damit die Sachbeschädigung) habe nicht außer Verhältnis zum geschützten Rechtsgut, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, gestanden.

Bewertung: Dem Urteil ist zwar im Ergebnis (Rechtfertigung der Sachbeschädigung), aber nicht mit Blick auf § 228 BGB zu folgen. Zwar ist die Annahme, dass gegen Rechtsgüter Dritter eine Verteidigungshandlung grundsätzlich nicht ausgeübt werden dürfe, zutreffend, aber eben nur im Grundsatz. Denn die vom AG Riesa angeführte h.M. macht gerade eine Ausnahme von diesem Grundsatz, wenn der Angreifer sich – wie vorliegend – beim Angriff fremder Sachen bedient. Hier könne – so die h.M. – Notwehr auch in Bezug auf diese Sachen zulässig sein (sog. Drittwirkung der Notwehr, vgl. BGHSt 5, 245, 248; Sch/Sch-Perron/Eisele, § 32 Rn. 32 f.; Fischer, § 32 Rn. 24; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 497). Dem ließe sich zwar entgegenhalten, dass Beschädigungen fremder Sachen i.d.R. hinreichend über die Notstandsvorschriften abgedeckt seien und eine Anwendung der Notwehrregeln daher systemwidrig und abzulehnen sei. Allerdings richtet sich die Abwehrhandlung nun einmal gegen einen menschlichen Angriff, wofür § 32 StGB die Spezialregelung darstellt. Das mag anhand eines Beispiels erläutert werden:

Beispiel: T hat den Staffordshire Bullterrier seines Freundes F für ein paar Tage in Obhut. Als er während eines Gassigangs auf O trifft, der ihn neulich wegen eines Drogengeschäfts bei der Polizei anzeigte, hetzt er kurzerhand den Hund auf O. Diesem gelingt es jedoch, den Hund mit seiner mitgeführten Schusswaffe zu töten. 
 
Hier hat O den objektiven und subjektiven Tatbestand der Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) erfüllt. Er könnte aber infolge Notwehr gerechtfertigt sein. Zwar darf sich die Notwehrhandlung grds. nur gegen den Angreifer und nicht gegen Rechtsgüter Dritter richten, eine Ausnahme gilt nach h.M. aber dort, wo sich der Angreifer fremder Sachen bedient. Das überzeugt. Angreifer ist vorliegend T. Dieser bediente sich dabei nur des Hundes, setzte diesen sozusagen als Instrument ein. Die Tötung des Hundes diente der Abwehr dieses Angriffs. Dass der Hund im Eigentum eines Dritten stand, ändert daran nichts (Drittwirkung der Notwehr).

Folgt man dieser Auffassung, ist O gem. § 32 StGB gerechtfertigt, anderenfalls gem. § 228 BGB oder § 34 StGB.


Zum Ausgangsfall: Entgegen dem AG Riesa (und der ihm zustimmenden Besprechung v. Hecker, JuS 2019, 913, 914) passt § 228 BGB nicht, da nach dieser Vorschrift die Gefahr von der Sache ausgehen muss. Von der Drohne ging keine Gefahr aus, sondern vom Nachbarn, der sie steuerte. Wollte man dies anders sehen, müsste man erklären, wie von einer Sache eine Gefahr für das allgemeine Persönlichkeitsrecht ausgehen soll. Sind es nicht vielmehr die dahinter stehenden Menschen, die eine Gefahr für das allgemeine Persönlichkeitsrecht anderer Menschen begründen und die sich dabei lediglich Maschinen und Geräte bedienen? Schützt Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG nicht ausschließlich vor Angriffen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Menschen? Diese Fragen beantwortet ein Blick auf dieses Grundrecht: Inhaltlich besagt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass der Einzelne grds. selbst entscheiden soll, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart und hieraus gewonnene Daten verwendet werden. Das impliziert die Befugnis, sich unerbetener (heimlicher) Wahrnehmungen seiner Person (etwa im heimischen Garten) bzw. generell der Erhebung, Offenbarung und Verwendung erhobener persönlicher Daten erwehren zu können. Letztlich geht es – gerade bei Bildaufnahmen – also darum, Aspekte der Persönlichkeit, die ihren Bezug in der Menschenwürde finden, vor den Blicken anderer zu schützen. Völlig zu Recht sind daher nicht nur die Intimsphäre, sondern auch das Recht am eigenen Bild, das bereits durch unbefugtes Fotografieren verletzt wird (vgl. dazu OLG Hamburg StraFo 2012, 278, 279), als notwehrfähige Individualrechtsgüter anerkannt. Angriffssubjekt kann daher immer nur ein Mensch sein, der in die Persönlichkeitsrechte eingreift und sich – wenn es um unbefugtes Fotografieren geht – einer Kamera bedient, nicht die Kamera selbst. 

Nach der hier vertretenen Auffassung greift daher § 228 BGB ebenso wenig wie der allgemeine § 34 StGB. Vielmehr konnte sich O auf § 32 StGB stützen: Es lag ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff des T auf das notwehrfähige allgemeine Persönlichkeitsrecht der O in der Ausgestaltung des Rechts am eigenen Bild vor. T verwendete die Drohne lediglich als „Werkzeug“, um seinen Angriff ausüben zu können. Insoweit gilt nichts anderes als im obigen Beispiel, in dem jemand einen Hund auf einen Menschen oder ein Tier hetzt. Auch hier steht die h.M. auf dem Standpunkt, dass der Mensch der Angreifer ist, was den Anwendungsbereich des § 32 StGB eröffnet, wenn im Rahmen einer Abwehrhandlung das gehetzte Tier verletzt oder getötet wird. Die vom AG Riesa vorgenommene unterschiedliche Betrachtung im „Drohnenfall“ überzeugt nicht.

Schließlich steht der Annahme von Notwehr nicht entgegen, dass die Drohne nicht im Eigentum des T stand. Zwar darf nach h.M. gegen Rechtsgüter Dritter eine Verteidigungshandlung grundsätzlich nicht ausgeübt werden.  Etwas anderes gilt nach h.M. jedoch dann, wenn der Angreifer sich beim Angriff fremder Sachen bedient. Hier ist Notwehr auch in Bezug auf diese Sachen zulässig (sog. Drittwirkung der Notwehr, s.o.). Denn die Abwehrhandlung der O war gegen T und gegen die von ihm ausgehende Rechtsverletzung gerichtet, nicht gegen die Drohne als solche. Diese war nur das Instrument der Rechtsverletzung. 

Ergebnis: Die von O begangene Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) war durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt. 

Abschließender Hinweis: Zwar hat sich die Kontroverse im Ergebnis nicht ausgewirkt, da hinsichtlich des § 228 BGB der Wert der Drohne nicht außer Verhältnis zum geschützten Rechtsgut stand und hinsichtlich des § 32 StGB der Angriff des T gegenwärtig war. Ergebnisrelevant wäre die Kontroverse aber dann gewesen, wenn der Wert der beschädigten/zerstörten Sache außer Verhältnis zu dem des Erhaltungsgutes gestanden hätte. Dann wäre eine Rechtfertigung nur über § 32 StGB möglich gewesen, da dieser Rechtfertigungsgrund (jedenfalls im Grundsatz) keine Güterabwägung verlangt (da das AG Riesa MMR 2019, 548, 549 ff. Notwehr ganz offenbar ausgeschlossen hat, wäre es wohl zu einem Schuldspruch gelangt, wenn der Wert der Drohne um einiges höher gewesen wäre; bei der Annahme von Notwehr ist die Grenze, bei der die Gebotenheit („krasses Missverhältnis“) in Frage gestellt werden müsste, weitaus höher). Umgekehrt käme nur eine Rechtfertigung über § 228 BGB in Betracht, wenn es an der Gegenwärtigkeit des Angriffes bzw. der Gefahr fehlte.

Rolf Schmidt (01.09.2019)



24.08.2019: Ausweitung der Figur der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte?

BVerfG, Beschluss v. 22.05.2019 – 1 BvQ 42/19 (NJW 2019, 1935)

Mit Beschluss v. 22.05.2019 hat das BVerfG (1 BvQ 49/19) im Rahmen einer einstweiligen Anordnung, bei der es um die Entsperrung eines Facebook-Accounts ging, möglicherweise die bisherige Grundrechtsdogmatik in Bezug auf die Privatrechtsgeltung in Frage gestellt. Im Mittelpunkt steht ein Rechtsstreit zwischen dem Betreiber eines sozialen Netzwerks, das (auch) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland über erhebliche Marktmacht verfügt, und einem Nutzer dieses Netzwerkes. Das BVerfG macht zunächst deutlich, dass nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG die Grundrechte in solchen Streitigkeiten im Wege der mittelbaren Drittwirkung Wirksamkeit entfalten können (BVerfG NJW 2019, 1935, 1936 mit zahlreichen Nachweisen, u.a. auf das Lüth-Urteil BVerfGE 7, 198, 205 f.). Das ist insoweit nichts Neues. Dann aber formuliert es, dass sich dabei aus Art. 3 I GG jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben können, und verweist dabei auf seinen Stadionverbots-Beschluss (BVerfGE 148, 267, 283 f.). Ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Forderungen sich insoweit auch für Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad ihrer marktbeherrschenden Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf ebenjene Plattform und von den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergäben, sei jedoch weder in der Rechtsprechung der Zivilgerichte noch in der Rechtsprechung des BVerfG abschließend geklärt. Die verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen seien insoweit noch ungeklärt (BVerfG NJW 2019, 1935, 1936). Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 105 ff. dargestellt, stellen die Grundrechte im klassischen Sinne Abwehr-, Leistungs- und Teilhaberechte im Verhältnis zwischen Bürger und Staat dar. Art. 1 III GG stellt dies verfassungsrechtlich klar, indem er die Grundrechtsgeltung nur auf Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bezieht. Private Rechtssubjekte können (von dem Sonderfall der Beleihung einmal abgesehen) danach keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten sein und folgerichtig auch nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) Grundrechte anderer Privater verletzen. Gleichwohl können einzelne Grundrechte kraft grundgesetzlicher Anordnung unmittelbar Einfluss auch auf die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander haben. So ordnet Art. 9 III S. 2 GG an, dass Abreden, die das Grundrecht der Koalitionsfreiheit einschränken oder behindern, nichtig sind. Hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Dieser Effekt wird als unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte bezeichnet (BVerfGE 93, 352, 360 f.; Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 56 ff.; vgl. dazu auch R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 700 ff.). In der Sache wird durch Art. 9 III S. 2 GG klargestellt, dass der Koalitionsfreiheit Vorrang vor der Vertragsfreiheit beigemessen wird.

Aber auch über den Fall der unmittelbaren Grundrechtsgeltung hinaus üben die Grundrechte, die ja nicht nur subjektive Rechte gegenüber dem Staat begründen, sondern auch eine objektive Wertordnung verkörpern (R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 106 mit Verweis auf Rn. 21 ff. mit Verweis auf BVerfGE 7, 198, 203 ff.), Einfluss auf die gesamte (Zivil-)Rechtsordnung aus. Sie gelten daher für alle Bereiche des Rechts als Richtlinie und Impuls und damit auch mittelbar im Verhältnis der Bürger untereinander (allgemeine Ansicht, vgl. etwa BVerfG NJW 2018, 1667, 1668 - Stadionverbot; BGH NJW 2015, 489, 491; BGH NJW 2018, 1884, 1886 - jeweils jameda.de; vgl. auch BVerfG NJW 2015, 2485 f.; grundlegend BVerfGE 7, 198, 203 ff. - Lüth). Diesbezüglich hat sich der Begriff „mittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ etabliert. Möglich ist es aber auch, von „mittelbarer Horizontalwirkung der Grundrechte“ zu sprechen, was sogar zutreffender ist, gerade weil man davon ausgeht, dass die Grundrechte nicht nur im „vertikalen“ Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Bürger und Staat gelten, sondern wegen der objektiven Wertordnung, die die Grundrechte entfalten, auch im „horizontalen“ Verhältnis der Bürger untereinander. In der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG ist indes zu beobachten, dass das Gericht bei der Prüfung, ob die Fachgerichte die Bedeutung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise berücksichtigt haben, teilweise nicht (mehr) explizit den Begriff der „mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“ verwendet (so die Analyse von Kulick, NJW 2016, 2236 ff. im Hinblick insbesondere auf BVerfGE 142, 74, 101 ff.; 129, 78, 101; siehe aber auch BVerfG NJW 2018, 1667, 1668 - Stadionverbot und den vorliegend zu besprechenden Beschluss BVerfG NJW 2019, 1935, 1936 - Sperrung eines Facebook-Accounts, in dem das Gericht hinsichtlich der Geltung des Art. 3 I GG zwischen Privaten ausdrücklich von „mittelbarer Drittwirkung“ spricht), sondern zunächst die streitentscheidende Norm verfassungskonform (d.h. am Maßstab der einschlägigen Grundrechte) auslegt, um sodann festzustellen, ob die zu überprüfenden Urteile der Fachgerichte dieser verfassungskonformen Auslegung entsprechen (R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 106).

Gleichgültig, welcher Terminologie (expliziter Verweis auf die Figur der „mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“ oder „zweistufige verfassungskonforme Auslegung“) man sich anschließt, entfalten die Grundrechte eine Doppelfunktion (Abwehrrechte einerseits und Statuierung objektiver Wertvorgaben andererseits). Ein Gericht, das über einen Rechtsstreit zwischen Privaten entscheidet, muss daher bei jeder Entscheidung prüfen, ob und inwieweit das anzuwendende Gesetz (insbesondere dort normierte Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe) grundrechtlich beeinflusst ist (R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 107).

Diese Grundrechtsdogmatik könnte durch den vorliegend zu besprechenden Beschluss des BVerfG, der mehrmals Bezug nimmt auf den Stadionverbots-Beschluss BVerfG NJW 2018, 1667, ins Wanken geraten sein. Dem Beschluss lag folgender (vereinfachter) Sachverhalt zugrunde: Die politische P-Partei greift zum Zweck der Stellungnahme zum aktuellen politischen Tagesgeschehen und der Berichterstattung über ihre Parteiarbeit auf das in Deutschland weit verbreitete soziale Netzwerk „Facebook“ zurück. Sie veröffentlichte unter dem in ihrem Namen betriebenen Nutzeraccount einen Link zu einem Artikel auf ihrer Internetseite, auf der es u.a. heißt:

„Im Zwickauer Stadtteil Neuplanitz gibt es zahlreiche Menschen, die man landläufig wohl als sozial und finanziell abgehängt bezeichnen würde. Während nach und nach immer mehr art- und kulturfremde Asylanten in Wohnungen in den dortigen Plattenbauten einquartiert wurden, die mitunter ihrer Dankbarkeit mit Gewalt und Kriminalität Ausdruck verleihen, haben nicht wenige Deutsche im Viertel kaum Perspektiven (…).“

Unmittelbar nach der Veröffentlichung teilte der Betreiber des Netzwerkes der P mit, dass der Beitrag als „Hassrede“ gegen die Gemeinschaftsstandards verstoße. Die Sichtbarkeit des Beitrags sei daher eingeschränkt und das Veröffentlichen von Beiträgen für 30 Tage gesperrt worden. Auf Einspruch der P, der unter Verweis auf die Meinungsfreiheit der P begründet wurde, erfolgte sodann die Löschung des Nutzerkontos, dessen Inhalt seitdem nicht mehr verfügbar ist. Nach erfolglosen Bemühungen um zivilrechtlichen Rechtsschutz beantragte die P daher beim BVerfG den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Sie rügte eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 5 I, 21 I S. 1 i.V.m. Art. 3, 2 I, 38 und 19 IV GG.

Analyse: Bemerkenswert sind einige Formulierungen des Beschlusses, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Denn sie betreffen (wie schon einige Formulierungen im Stadionverbots-Beschluss) das Verhältnis zwischen unmittelbarer und mittelbarer Grundrechtsgeltung bzw. -wirkung und scheinen dieses aufzuweichen. Das zumindest legt die Formulierung, es könnten sich „jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben“ (siehe BVerfG NJW 2018, 1667, 1669 - Stadionverbot und BVerfG NJW 2019, 1935, 1936 - Sperrung eines Facebook-Accounts), nahe. Dadurch, dass das BVerfG diese Formulierung jenseits seiner Ausführungen zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte verwendet, wird klar, dass etwas anderes gemeint sein muss. Die Formulierung kann man so interpretieren, dass das BVerfG im Bereich der Gleichheitsrechte eine unmittelbare Drittwirkung andeutet (siehe auch Muckel, JA 2019, 710, 711 ff.). In seinem Beschluss über die Verfassungsmäßigkeit von Stadionverboten scheint sich das BVerfG dem jedenfalls nicht zu verschließen, wenn es formuliert: „Ein allgemeiner Grundsatz, wonach private Vertragsbeziehungen jeweils den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterlägen, folgt demgegenüber aus Art. 3 I GG auch im Wege der mittelbaren Drittwirkung nicht. Über eventuell weitergehende Anforderungen aus speziellen Gleichheitsrechten wie Art. 3 II und III GG ist hier nicht zu entscheiden.“ (BVerfG NJW 2018, 1667, 1669). Man wird dieser Formulierung durchaus entnehmen können, dass das BVerfG jedenfalls dann, wenn auf der einen Seite des Privatrechtsverhältnisses eine „sozial mächtige“ („marktbeherrschende“) Partei steht und es sich um eine für die andere Partei (grundrechts-)wesentliche Angelegenheit handelt, nicht abgeneigt ist, den speziellen Gleichheitsrechten aus Art. 3 II und III GG eine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten beizumessen. So kann man auch BVerfG NJW 2019, 1935, 1936 (Sperrung eines Facebook-Accounts) interpretieren, zumal das BVerfG dort ausdrücklich auf BVerfG NJW 2018, 1667, 1669 verweist. Im Beschluss über die Sperrung eines Facebook-Accounts heißt es zudem: „Dabei können sich aus Art. 3 I GG jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben. Ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Forderungen sich insoweit auch für Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad deren marktbeherrschender Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf eben jene Plattform und den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergeben, ist jedoch weder in der Rechtsprechung der Zivilgerichte noch in der Rechtsprechung des BVerfG abschließend geklärt. Die verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen sind insoweit noch ungeklärt“ (BVerfG NJW 2019, 1935, 1936).

Damit dürfte klar sein, dass es das BVerfG jedenfalls in Konstellationen, in denen auf der einen Seite des Privatrechtsverhältnisses eine „sozial mächtige“ („marktbeherrschende“) Partei steht und es sich um eine für die andere Partei (grundrechts-)wesentliche Angelegenheit handelt, nicht bei der mittelbaren Drittwirkung der Gleichheitsrechte bewenden lassen möchte. Anderenfalls hätte es die Aussagen, dass sich „jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben“, „...noch nicht abschließend geklärt“ und „Die verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen sind insoweit noch ungeklärt“ nicht getätigt. Diese Aussagen geben Anlass zu der bereits genannten Einschätzung, dass das BVerfG in den genannten Konstellationen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte jedenfalls auf dem Gebiet der Gleichheitsrechte favorisiert (siehe auch Muckel, JA 2019, 710, 711 ff.). Folge wäre, dass sich einer gleichheitswidrigen Verwehrung von z.B. Zugangs- und Teilhabeansprüchen, die an das Geschlecht, die Abstammung, die ethnische Herkunft, die Sprache, die Heimat, den Glauben und/oder die religiösen oder politischen Anschauungen oder an eine Behinderung anknüpft, unmittelbar mit Art. 3 II und III GG begegnen ließe. Und selbst Art. 3 I GG wäre unmittelbar anwendbar und führte zu einer Beschränkung der Vertragsfreiheit. Es bestünde also ein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Zugangs- und Teilhabeanspruch zu privaten Einrichtungen und Veranstaltungen (jedenfalls in den genannten Konstellationen, insbesondere, wenn es um kommunikative Grundrechtsentfaltung geht wie in Internetforen und sozialen Netzwerken), wenn eine Verwehrung des Zugangs bzw. der Teilhabe einen Verstoß gegen Art. 3 I, II, III GG bedeutete. Die Betreiber der genannten Einrichtungen wären - (zunächst) bezogen auf Gleichheitsgrundrechte - unmittelbar grundrechtsverpflichtet (in der Literatur wird von „situativer staatsgleicher Grundrechtsbindung privater Akteure“ gesprochen, Michl, JZ 2018, JZ 2018, 910; siehe auch Seyderhelm NVwZ 2019, 962; Muckel, JA 2019, 710, 713). Es stellt sich aber die Frage, ob sich dadurch im Vergleich zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte wirklich ein höheres Schutzniveau für Kunden, Gäste, Internetnutzer etc. ergibt und sich nur auf diese Weise ein Zulassungs- bzw. Zugangsanspruch herleiten lässt. Das darf bezweifelt werden. Denn auch unter Anwendung der Figur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte findet eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsgüter statt: Der Gewährleistungsgehalt der Grundrechte wirkt über das Medium der Vorschriften, die das einzelne Rechtsgebiet betreffen (also über das bereichsspezifische einfache Recht). Das gilt insbesondere für die Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe (siehe dazu die Übersicht bei R. Schmidt, Grundrechte, 24. Aufl. 2019, Rn. 108). Im vorliegenden Zusammenhang wären die widerstreitenden Grundrechte im Rahmen des § 3 II Nr. 2 und Nr. 3 NetzDG (Sperrung bzw. Löschung von rechtswidrigen bzw. offensichtlich rechtswidrigen Inhalten) gegeneinander und untereinander abzuwägen. Wer ein Internetforum betreibt, dieses der breiten Öffentlichkeit zugänglich macht und dieser eine Diskussionsgrundlage schafft, ist aufgrund seiner „Marktmacht“ und der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte daran gehindert, sachgrundlos den Zugang zu verwehren bzw. lediglich unerwünschte oder ihm nicht gelegene Einträge zu löschen. Zwar kann sich der Forumsbetreiber auf ein Art. 14 I GG zuzuordnendes „virtuelles Hausrecht“ stützen, er muss andererseits aber auch unter Heranziehung der Figur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte die Kommunikationsgrundrechte der Beitragsersteller aus Art. 5 I GG beachten. Zugangsverweigerungen, Sperrungen und Löschungen sind also unter Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsgüter lediglich dann rechtmäßig, wenn Forumseinträge wiederum (mittelbar) Grundrechte anderer oder sonstige Verfassungsgüter verletzen. Die mittelbare Verletzung von Grundrechten anderer wird man insbesondere bei Vorliegen von Schmähkritik, also bei einer Äußerung, bei der nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht, annehmen müssen. Denn in diesem Fall überwiegen die Persönlichkeitsrechte des von der Schmähkritik Betroffenen. Das gilt insbesondere dann, wenn der die Schmähkritik Übende unter einem Pseudonym auftritt und den Geschmähten unter dessen Klarnamen diskreditiert. Erst recht ist ein Einschreiten des Forumsbetreibers geboten, wenn Straftaten (insbesondere Ehrdelikte gem. §§ 185 ff. StGB; Straftaten nach §§ 130, 130a, 131, 86, 86a, 91 StGB) verwirklicht werden. Im Übrigen hat sich der Forumsbetreiber zurückzuhalten. Eine Verletzung anderer Verfassungsgüter, die ebenfalls zur Sperrung bzw. Löschung berechtigte, wird man insbesondere annehmen müssen, wenn sich die Äußerungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Ist das alles nicht gegeben, bestehen bereits über die Figur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ein Zugangsanspruch und ein Recht, dass weder Postings gelöscht und Accounts gesperrt werden.

Es bleibt also bei der vom Verfasser aufgeworfenen Frage, ob sich durch den „Vorstoß“ des BVerfG (wenngleich nur durch Kammerbeschluss) wirklich eine Ausdehnung der Grundrechtsverpflichtung privater Akteure (so Seyderhelm, NVwZ 2019, 962 f.) bzw. umgekehrt ein höheres Schutzniveau der Kunden, Gäste, Nutzer etc. ergibt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das nicht der Fall. Der Grundrechtsschutz lässt sich im Privatrechtsverhältnis hinreichend über die Figur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte realisieren. Eine unmittelbare Grundrechtsgeltung im Privatrecht - wenn zunächst auch auf die Gleichheitsgrundrechte beschränkt - stellte jedenfalls grundrechtsdogmatisch eine Abweichung zur Regelung des Art. 1 III GG dar, die - mit Ausnahme des Art. 9 III S. 2 GG - lediglich die drei Staatsgewalten unmittelbar grundrechtsverpflichtet. Eine Aufnahme von Privatrechtssubjekten in den Kreis der unmittelbar Grundrechtsverpflichteten wäre mit Blick auf den klaren Wortlaut des Art. 1 III GG weder dogmatisch überzeugend noch inhaltlich erforderlich, da - wie aufgezeigt - die objektive Wertordnung der Grundrechte über die Figur der mittelbaren Drittwirkung einen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der „Vorstoß“ des BVerfG, d.h. eine Ausdehnung der Grundrechtsverpflichtung privater Akteure, wäre allenfalls dann angezeigt, wenn die einfache Rechtsordnung keine Lösungen bereitstellte. Das aber ist nicht der Fall. Eine Analyse der ständigen Rechtsprechung (des BGH) zeigt, dass sich Zugangsansprüche bzw. gegen Rauswurf, Sperrung und Löschung gerichtete Schutzansprüche entweder aus dem bereichsspezifischen Recht oder - in Ermangelung spezieller Regelungen - aus §§ 823, 826, 249 BGB bzw. aus § 1004 BGB analog ergeben können. Bei Anwendung dieser Vorschriften lassen sich die Grundrechtsgewährleistungen hinreichend abbilden. Je größer die „Marktmacht“ des verpflichteten Privatrechtssubjekts ist und je stärker sich der (kommunikative) Öffentlichkeitsbezug darstellt, desto stärker zwingen die mittelbar zu berücksichtigenden Grundrechte der Kunden, Gäste, Teilnehmer oder Nutzer zu einer Zulassung bzw. Duldung eines auch (rechtlich erlaubten, aber z.B. sozial) unerwünschten Verhaltens. 

Rolf Schmidt (24.08.2019)



22.08.2019: Konkurrenzen beim Wohnungseinbruchdiebstahl

BGH, Beschluss v. 27.11.2018 – 2 StR 481/17 (NJW 2019, 1086)

Mit Beschluss v. 27.11.2018 hat der BGH (2 StR 481/17) u.a. über das Konkurrenzverhältnis zwischen vollendetem Wohnungseinbruchdiebstahl und einer zugleich begangenen Sachbeschädigung entschieden. Er hat entschieden, dass bei (vollendetem) Wohnungseinbruchdiebstahl (§ 244 I Nr.  3 Var. 1 StGB) eine zugleich begangene Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) stets im Verhältnis der Tateinheit (§ 52 I StGB) stehe mit der Folge, dass sie nicht im Wege der Gesetzeseinheit in Form der Konsumtion hinter den Wohnungseinbruchdiebstahl zurücktrete. Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.


Ausgangslage: Wie bei R. Schmidt, StrafR AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 1157 dargestellt, verletzt die strafrechtlich zu würdigende Person im Regelfall mehrere Tatbestände oder denselben Tatbestand mehrmals. Dass eine Addition der jeweiligen Strafen nicht in Betracht kommen kann, versteht sich von selbst. Anderenfalls wäre der Täter, der bspw. nachts in eine Lagerhalle einbricht und dort stiehlt, mitunter schwerer zu bestrafen als derjenige, der einen Totschlag begeht, wenn man die jeweiligen angedrohten Freiheitsstrafen für die Verwirklichung der §§ 242 i.V.m. 243, §§ 303 I, 123 I addiert und mit der angedrohten Freiheitsstrafe des § 212 I vergleicht. Daher ist die Frage nach dem Verhältnis der jeweils begangenen Straftaten zueinander zu klären. Mit Hilfe der Lehre von den Konkurrenzen, der eine Bereinigungs- und Klarstellungsfunktion für den Urteilstenor zukommt, wird versucht, herauszuarbeiten, aus welchen Delikten die fragliche Person und mit welchem Strafmaß sie letztlich schuldig zu sprechen ist.

Das StGB regelt die Konkurrenzen in den §§ 52-55. Kern dieser Regelung ist die Unterscheidung zwischen Handlungseinheit und Handlungsmehrheit:
  • Verletzt „dieselbe“ Handlung (Handlungseinheit) mehrere Straftatbestände oder denselben Straftatbestand mehrmals, liegt – sofern kein Fall der „unechten“ Konkurrenz (Gesetzeskonkurrenz) vorliegt – Idealkonkurrenz (= Tateinheit) vor, § 52 I StGB.
  • „Mehrere“ selbstständige Handlungen (Handlungsmehrheit) mit einer mehrfachen Gesetzesverletzung führen dagegen – sofern kein Fall der „unechten“ Konkurrenz (Gesetzeskonkurrenz) vorliegt – zu einer Realkonkurrenz (= Tatmehrheit), §§ 53-55 StGB.
Im vorliegenden Zusammenhang ist allein entscheidend, inwieweit Handlungseinheit zur Tateinheit führen kann. Wie gesagt, führt Handlungseinheit zur Tateinheit, sofern kein Fall der Gesetzeskonkurrenz vorliegt. Gesetzeskonkurrenz bedeutet, dass von mehreren dem Gesetzeswortlaut nach verwirklichten Straftatbeständen einige nicht anwendbar sind, weil der deliktische Gehalt einer Tat jeweils schon durch ein anderes Gesetz erschöpfend erfasst wird (R. Schmidt, StrafR AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 1177). Gesetzeskonkurrenz ist in die Fallgruppen Spezialität, Subsidiarität und Konsumtion zu unterteilen.
  • Spezialität liegt vor, wenn ein (spezieller) Straftatbestand nicht nur die begrifflich-tatbestandlichen Voraussetzungen eines anderen (allgemeinen) Straftatbestands enthält, sondern darüber hinaus noch wenigstens ein weiteres (zusätzliches) Merkmal, sodass der Täter, der den speziellen Straftatbestand verwirklicht, zwangsläufig auch den in Betracht kommenden allgemeinen Straftatbestand erfüllt (BGH NJW 1999, 1561; BGHSt 49, 34, 37; Lackner/Kühl, Vor § 52 Rn. 25; Fischer, Vor § 52 Rn. 40; Roxin, AT II, § 33 Rn. 177; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 1097; Walter, JA 2005, 468).
Beispiele: Die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) hat die (einfache) Körperverletzung (§ 223 StGB) zum Grundtatbestand. Gleiches gilt hinsichtlich des Wohnungseinbruchdiebstahls (§ 244 I Nr. 3 StGB bzw. § 244 IV StGB) in Relation zum (einfachen) Diebstahl (§ 242 StGB)
  • Von Subsidiarität spricht man, wenn ein Gesetz nur für den Fall Geltung beansprucht, dass kein anderes eingreift (LK-Rissing-van Saan, Vor § 52 Rn. 125 ff.; Fischer, Vor § 52 Rn. 41). Die Subsidiarität ist teilweise ausdrücklich (durch eine Subsidiaritätsklausel) geregelt („formelle Subsidiarität“), teilweise ergibt sie sich aber auch aus dem Sinnzusammenhang („materielle Subsidiarität“) (Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 1101).
Beispiele: § 246 I StGB ordnet an, dass die Unterschlagung nur greift, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist (formelle Subsidiarität). Fahrlässigkeitsdelikte (etwa § 222 StGB) treten hinter Vorsatzdelikten (etwa § 212 StGB) zurück (materielle Subsidiarität).
  • Konsumtion liegt nach h.M. vor, wenn der Täter einen Straftatbestand verwirklicht, der weder im Wege der Spezialität noch im Wege der Subsidiarität verdrängt wird, der aber – trotz anderer Schutzrichtung – neben einem anderen Straftatbestand regelmäßig und typischerweise – nicht notwendigerweise – mit verwirklicht und mit der Bestrafung aus dem vorrangigen Tatbestand mit abgegolten wird (Vgl. BGH NJW 2002, 150, 151; BGHSt 46, 24, 25; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 1103 ff.; Fischer, Vor § 52 Rn. 20; Lackner/Kühl, Vor § 52 Rn. 27; Walter, JA 2005, 468, 469).  Es handelt sich hierbei regelmäßig um die sog. mitbestrafte Begleittat (vgl. LK-Rissing-van Saan, Vor § 52 Rn. 144 ff.; SK-Jäger, Vor § 25 Rn. 102 ff.; Fischer, Vor § 52 Rn. 41).
Bei der vorliegend zu besprechenden Entscheidung geht es genau um die Frage nach der Konsumtion bei Diebstahlsdelikten. Der Entscheidung lag folgender (sehr vereinfachter) Sachverhalt zugrunde: T bricht nachts in ein Einfamilienhaus ein, um zu stehlen. Zu diesem Zweck hebelt er ein Kellerfenster auf und beschädigt es hierdurch stark. Er entwendet Bargeld, Schmuck und andere Wertgegenstände.

Lösung: Hier hat T neben dem Wohnungseinbruchdiebstahl (§§ 244 I Nr. 3 StGB bzw. § 244 IV StGB) auch eine Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) und einen Hausfriedensbruch (§ 123 I StGB) begangen. 
  • Nach (bislang) h.L. stell(t)en diese Taten typische Begleittaten des Einbruchdiebstahls dar; sie werden bzw. wurden daher von §§ 244 I Nr. 3 StGB bzw. § 244 IV StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz (hier: Konsumtion) verdrängt. Denn typischerweise verwirklicht der Täter im Fall des Wohnungseinbruchdiebstahls (§ 244 I Nr. 3 StGB bzw. § 244 IV StGB) auch die Tatbestände des Hausfriedensbruchs (§ 123 I StGB) und der Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) (vgl. LK-Rissing-van Saan, Vor §§ 52 ff. Rn. 118; SK-Hoyer, § 243 Rn. 58; Sch/Sch-Bosch, § 243 Rn. 59; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 1103 ff.; skeptisch BGH NJW 2002, 150, 151). Diese werden gemäß dem oben Gesagten im Wege der Gesetzeskonkurrenz (hier: Konsumtion) verdrängt; lediglich, wenn §§ 123 I, 303 I StGB im Einzelfall nicht typische Begleittaten des Wohnungseinbruchdiebstahls sind, besteht Tateinheit (s.o.). 
  • Jedoch steht der BGH (nunmehr) auf dem Standpunkt, dass eine im Rahmen eines Wohnungseinbruchdiebstahls zugleich begangene Sachbeschädigung stets im Verhältnis der Tateinheit stehe und nicht im Wege der Gesetzeseinheit in Form der Konsumtion hinter den Wohnungseinbruchdiebstahl zurücktrete (BGH NJW 2019, 1086, 1087 ff.). Zur maßgeblichen Begründung führt der BGH aus, dass die Sachbeschädigung nur bei Annahme von Tateinheit strafschärfend berücksichtigt werden könne (BGH NJW 2019, 1086, 1090). 
Stellungnahme: Dem BGH ist zwar im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zu folgen. Denn beschädigt der Täter beim Wohnungseinbruchdiebstahl bspw. das Kellerfenster, kann dies bei der Strafzumessung auch ohne Annahme von Tateinheit berücksichtigt werden. § 244 I Nr. 3 StGB enthält einen Strafrahmen von 6 Monaten bis 10 Jahren; bei § 244 IV StGB sind es sogar 1 Jahr bis 10 Jahre. Diese großen Strafrahmen geben genügend Raum für die Berücksichtigung des mit der Sachbeschädigung zusätzlich verbundenen Unrechts (siehe § 46 StGB). So kann der Täter bspw. zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt werden, wenn er beim Einbruchdiebstahl das Kellerfenster aufhebelt und dadurch beschädigt, statt zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 2 Monaten, wenn er lediglich durch ein unverschlossenes Kellerfenster durchsteigen muss. Gleichwohl ist dem BGH aus einem anderen Grund zu folgen: Nur durch die Annahme von Tateinheit kann im Urteilstenor klargestellt werden, dass der Täter im Rahmen des Wohnungseinbruchdiebstahls auch eine Sachbeschädigung begangen und damit ein anderes Rechtsgut verletzt hat, das mit dem Zueignungsdelikt des Diebstahls nichts zu tun hat. Nähme man Konsumtion an, ginge dies aus dem Urteilstenor nicht hervor. Richtig ist es daher, dass der BGH der Annahme einer Konsumtion bereits seit einiger Zeit skeptisch gegenübersteht und Tateinheit favorisiert mit der Begründung, beim Einbruchdiebstahl werde keineswegs typischerweise auch eine Sache beschädigt. Beim Einsteige- und Nachschlüsseldiebstahl liege dies auf der Hand. Überdies habe die fortgeschrittene technische Entwicklung dazu geführt, dass zum Verschließen oder Sichern von Sachen zunehmend auch elektronische Sicherungssysteme verwendet würden, die sich mit Magnetstreifen und Codekarten – also intelligent und nicht mit Gewalt – bedienen ließen. Daher sei das Aufbrechen von Türen keineswegs mehr typischerweise Begleittat eines Einbruchdiebstahls, sondern stehe in Tateinheit (Idealkonkurrenz) mit diesem (BGH NJW 2002, 150, 151 f.).

Jedenfalls ist Tateinheit oder Tatmehrheit statt Konsumtion anzunehmen, wenn die Sachbeschädigung gerade nicht typische Begleittat zum Einbruchdiebstahl ist. In derartigen Fällen stehen – bei Befolgung der BGH-Rechtsprechung – die §§ 123 I, 303 I StGB in Tateinheit (Idealkonkurrenz) zu §§ 242, 243 (ergänze: auch zu § 244 I Nr. 3 bzw. § 244 IV StGB) (R. Schmidt, StrafR BT II, 20. Aufl. 2018, Rn. 181a).

Beispiel (vgl. BGH NJW 2002, 150): T bricht nachts in einen Laden für Mobiltelefone ein, um sich dort zu bedienen. Dabei verwüstet er noch nebenbei den Laden und führt einen Sachschaden herbei. Lösung: Hier ist die Sachbeschädigung gerade nicht typische Begleiterscheinung des Einbruchdiebstahls, sondern steht je nach innerer Tatseite in Tatmehrheit oder Tateinheit zu diesem.

Auch für den Fall, dass die während des Einbruchdiebstahls verursachten Sachschäden den Wert des Diebesguts erheblich übersteigen, steht die Sachbeschädigung in Tateinheit mit dem Einbruchdiebstahl, weil anderenfalls der Verschiedenheit der Rechtsgüter nicht genügend Rechnung getragen würde (R. Schmidt, StrafR BT II, 20. Aufl. 2018, Rn. 181b). 

Beispiel: T schlitzt mit einem Messer das Stoffdach eines Cabriolets auf, um das im Innenraum befindliche mobile Navigationsgerät (Wert: 50 €) zu stehlen.

Fazit: Nach der zutreffenden Auffassung des BGH stehen ein vollendeter Wohnungseinbruchdiebstahl und eine zugleich begangene Sachbeschädigung stets im Verhältnis der Tateinheit (§ 52 I StGB) zueinander mit der Folge, dass die Sachbeschädigung nicht im Wege der Gesetzeseinheit in Form der Konsumtion hinter den Wohnungseinbruchdiebstahl zurücktritt.

Rolf Schmidt (22.08.2019)



19.08.2019: Zur Problematik der Adoption von Kindern des nichtehelichen Lebenspartners


BVerfG, Beschluss v. 26.03.2019 – 1 BvR 673/17 (NJW 2019, 1793)

Mit Beschluss v. 26.03.2019 hat das BVerfG (1 BvR 673/17) im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde, die gegen einen BGH-Beschluss (siehe BGH NJW 2017, 1672) eingelegt worden war, über die Frage der Verfassungskonformität der Regelungen des Adoptionsrechts entschieden. Denn die §§ 1754 I, II BGB und 1755 I S. 1, II BGB machen die Möglichkeit einer zur gemeinsamen Elternschaft führenden Stiefkindadoption davon abhängig, dass der Adoptionswillige mit dem Elternteil verheiratet ist. Dies könnte eine Verletzung der Grundrechte der nicht miteinander verheirateten Personen (d.h. des Elternteils und des Adoptivwilligen) und des Kindes darstellen. Das BVerfG hat entschieden, dass § 1754 I, II BGB und § 1755 I S. 1, II BGB mit Art. 3 I GG insoweit unvereinbar seien, als danach ein Kind von seinem mit einem rechtlichen Elternteil in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Stiefelternteil unter keinen Umständen adoptiert werden kann, ohne dass die verwandtschaftliche Beziehung zum rechtlichen Elternteil erlischt. Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Der Begriff der Adoption entstammt dem lateinischen Begriff adoptio („Annahme an Kindes statt“) und bedeutet die rechtliche Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses ohne Rücksicht auf die biologische Herkunft. Mithin geht es um die Übernahme einer elterlichen Verantwortung. Das BGB-Familienrecht unterscheidet – flankiert durch das Adoptionsvermittlungsgesetz – zwischen der Annahme Minderjähriger (§§ 1741-1766 BGB) und der Annahme Volljähriger (§§ 1767-1772 BGB). Nach der Grundsatznorm des § 1741 I S. 1 BGB ist die Annahme als Kind unter zwei Voraussetzungen zulässig: Sie muss dem Wohl des Kindes dienen und es muss zu erwarten sein, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. Über das Vorliegen dieser Voraussetzungen und damit über die Annahme insgesamt entscheidet gem. § 1752 I BGB das Familiengericht durch Beschluss (Adoptionsdekret). Adoptionssachen sind Familiensachen gem. §§ 111 Nr. 4, 186 ff. FamFG. Zuständig sind die Familiengerichte (§§ 23a I S. 1 Nr. 1, 23b I GVG). Das genannte (sozial zu verstehende) Eltern-Kind-Verhältnis zwischen dem Annehmenden und dem Kind muss entweder bereits bestehen oder es muss die ernsthafte Aussicht seiner Entstehung vorhanden sein. Das Gericht darf die Annahme erst aussprechen, wenn nach seiner Überzeugung diese Voraussetzungen feststehen (BT-Drs. 7/5087, S. 9 - siehe R. Schmidt, Familienrecht, 10. Aufl. 2018, Rn. 593). Weiterhin muss das Gericht bei seiner Entscheidung über das Vorliegen der Adoptionsvoraussetzungen alle (sonstigen) wesentlichen Umstände berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere die Eignung des Bewerbers. Vor allem darf die Adoption nur dann beschlossen werden, wenn sie dem Kindeswohl dient. Das ist trotz Vorliegens der Eignungsvoraussetzungen auf Seiten des Bewerbers nur der Fall, wenn zu erwarten ist, dass die Adoption zu einer erheblichen und nachhaltigen Verbesserung der persönlichen Verhältnisse und/oder der Rechtsstellung des Kindes führt (Diederichsen, in: Palandt, 66. Aufl. 2019, § 1741 Rn. 3; siehe auch OLG Düsseldorf NJW 2017, 2774 ff., das zudem klarstellt, dass die Annahme nicht zum Wohl des Kindes erforderlich sein muss, sondern nach § 1741 I S. 1 BGB dem Kindeswohl dienen muss). Der Kreis der Annahmeberechtigten ist in §§ 1741 ff. BGB festgelegt, die an das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Ehe anknüpfen (folgende Darstellung nach R. Schmidt, Familienrecht, 10. Aufl. 2018, Rn. 597):

  • Wer nicht verheiratet ist, kann ein Kind nur allein annehmen (§ 1741 II S. 1 BGB). Eine gemeinschaftliche Adoption durch ein unverheiratetes Paar ist also nicht möglich. Der Annehmende muss das 25. Lebensjahr vollendet haben (§ 1743 S. 1 BGB).
  • Möchte ein Ehepaar ein Kind annehmen, kann es dies grds. nur gemeinschaftlich (§§ 1741 II S. 2, 1754 I BGB – „Normalfall“ einer Adoption). Dabei muss ein Ehegatte das 25. Lebensjahr, der andere das 21. Lebensjahr vollendet haben (§ 1743 S. 2 BGB). Die Annahme eines Kindes durch einen Ehegatten allein ist also grds. nicht möglich. Ein Ehegatte kann ein Kind aber dann allein annehmen, wenn der andere Ehegatte das Kind nicht annehmen kann, weil er geschäftsunfähig ist oder das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 1741 II S. 4 BGB).
  • Möglich für Ehepartner ist auch eine sog. Stiefkindadoption: Für den Fall, dass ein Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung leiblicher Vater/leibliche Mutter eines Kindes war, kann der andere Ehegatte das Kind seines Ehegatten allein annehmen (§ 1741 II S. 3 BGB). Dies setzt grds. die Einwilligung des anderen Ehegatten (§ 1749 I S. 1 BGB) und des anderen Elternteils (§ 1747 BGB) voraus, unter den Voraussetzungen des § 1746 BGB auch die des Kindes. 
  • Auch kann ein Ehegatte das von dem anderen Ehegatten vor der Eheschließung angenommene Kind adoptieren, sog. Sukzessivadoption (§ 1742 BGB). Zwar entspricht eine „Weiterreichung“ eines adoptierten Kindes nicht unbedingt dessen Wohl, aber dadurch, dass gem. § 1742 BGB das Kind das gemeinsame Kind der Ehegatten wird, ist eine Gefährdung des Kindeswohls grundsätzlich nicht zu befürchten. Denn das adoptierte Kind wird ja nicht „weitergereicht“, sondern erhält einen zusätzlichen Adoptivelternteil.
Nach diesen eindeutigen gesetzlichen Regelungen ist eine gemeinschaftliche Adoption durch ein unverheiratetes Paar also ebenso wenig möglich wie die gemeinschaftliche Adoption durch Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem LPartG. Für Letztere hat der Gesetzgeber 2017 aber die Möglichkeit geschaffen, vor dem Standesamt ihre Lebenspartnerschaft in eine Ehe umzuwandeln (§ 20a LPartG – vgl. dazu R. Schmidt, Familienrecht, 10. Aufl. 2018, Rn.  6, 20h und 443). Machen die Lebenspartner von dieser Möglichkeit Gebrauch, bestehen für sie auch im Adoptionsrecht prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten wie für heterosexuelle Paare, und damit besteht für sie auch die Möglichkeit der gemeinsamen Adoption.

Bei nicht miteinander verheirateten oder verpartnerten Personen (also bei Personen, die weder in ehelicher Lebensgemeinschaft noch in eingetragener Lebenspartnerschaft miteinander leben) bedeuten die genannten Regelungen der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB, dass ein Partner zwar das Kind des anderen adoptieren kann, jedoch nur mit der Folge, dass dadurch das Verwandtschaftsverhältnis des anderen zu seinem Kind erlischt. Das führt zu der eingangs aufgeworfenen Frage nach der Verfassungskonformität, worüber das BVerfG zu befinden hatte.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: M und F leben in nichtehelicher Lebensgemeinschaft. F ist Mutter zweier minderjähriger Kinder, die sie aus der damaligen Ehe mit dem bereits vor einigen Jahren verstorbenen D mit in die Beziehung gebracht hat. M möchte nunmehr die beiden Kinder adoptieren mit der Maßgabe, dass diese die rechtliche Stellung als gemeinschaftliche Kinder von M und F erlangen. Die zuständige Behörde weist M und F darauf hin, dass eine Adoption der beiden Kinder durch M zwar grundsätzlich möglich sei, dann aber F ihr Verwandtschaftsverhältnis zu ihren beiden Kindern verliere. M und F stellen daher einen entsprechenden Antrag vor dem Familiengericht, der jedoch erfolglos bleibt. Beschwerde vor dem OLG und Rechtsbeschwerde vor dem BGH (siehe NJW 2017, 1672) bleiben ebenfalls erfolglos.

Lösung des BGH: Auf der Basis des geschriebenen Rechts unter Zugrundelegung der wörtlichen Auslegung sind die Gerichtsentscheidungen nach Auffassung des BGH nicht zu beanstanden. Wer nicht verheiratet ist, kann gemäß der Regelung des § 1741 II S. 1 BGB ein Kind nur allein annehmen. Mit der Annahme erlischt gem. § 1755 I S. 1 BGB das Verwandtschaftsverhältnis des angenommenen Kindes zu seinen Eltern/seinem Elternteil. Im Fall der Adoption durch M verlöre F also ihre rechtliche Stellung als Elternteil. Um diese Folge zu vermeiden, wären M und F mithin gezwungen, zunächst miteinander die Ehe einzugehen. Denn für den Fall, dass ein Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung leiblicher Vater/leibliche Mutter eines Kindes war, kann der andere Ehegatte das Kind seines Ehegatten allein annehmen (§ 1741 II S. 3 BGB). Mit dieser sog. Stiefkindadoption erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Eheleute (§ 1754 I BGB).   

Der BGH begründet seine Entscheidung mit dem Wortlaut der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB, deren Sinn und Zweck und systematischer Stellung sowie mit dem Willen des Gesetzgebers, der bewusst keine Sukzessivadoption bei nicht miteinander verheirateten bzw. verpartnerten Paaren geregelt habe, was insgesamt eine teleologische Reduktion der Vorschriften nicht zulasse. Auch verstießen die Regelungen und die sie anwendenden Gerichte nicht gegen Grundrechte. So seien Art. 6 I GG (Recht auf Familie), Art. 6 II S. 1 GG (Elternrecht), Art. 3 I GG (allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz; Diskriminierungsverbot) und Art. 2 I i.V.m. 6 II S. 1 GG (Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung) nicht verletzt.
  • Art. 6 I GG sei nicht verletzt, weil nach der Rspr. des BVerfG jedenfalls bei einer lediglich tatsächlichen (aber nicht rechtlichen) Lebens- und Erziehungsgemeinschaft eine Versagung einer Adoption nicht in Art. 6 I GG eingreife.
  • Das Elternrecht aus Art. 6 II S. 1 GG sei nicht verletzt, weil M aufgrund seiner lediglich sozialen Elternschaft nicht in den persönlichen Schutzbereich falle. 
  • Art. 3 I GG sei nicht verletzt, weil die zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft auf der einen Seite und nichtehelicher Lebensgemeinschaft auf der anderen Seite differenzierende Adoptionsregelung weder willkürlich sei noch einen Sachgrund für die Unterscheidung vermissen ließe. Trotz sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandels, wonach immer mehr Kinder aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften hervorgingen, ändere sich nichts daran, dass sich eine Ehe von einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft deutlich abhebe.
  • Schließlich sei Art. 2 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG auf Seiten der Kinder nicht verletzt, weil der Gesetzgeber den ihm insoweit bei der Frage nach dem Maß der Schutzpflicht zustehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum nicht verletzt habe. 
Da der BGH keine Verfassungswidrigkeit erblickte, sah er auch von einer Richtervorlage gem. Art. 100 I GG ab.

Wegen des Einflusses, den die EMRK auf die nationale Rechtsordnung ausübt, sah sich der BGH schließlich veranlasst, die Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 8 I EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens) zu prüfen. Denn jedenfalls schützt Art. 8 I EMRK auch tatsächliche Familienzusammenschlüsse (BGH NJW 2017, 1672, 1675 unter Verweis auf EGMR FamRZ 2008, 377, 378). Unter Anwendung der Schrankenregelung in Art. 8 II EMRK erblickte der BGH aber keinen Verstoß der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB gegen Art. 8 I EMRK.

Bewertung : Gerade aufgrund der sich wandelnden gesellschaftlich-familiären Strukturen („Patchworkfamilien“, „Regenbogenfamilien“, Möglichkeiten der Ei- und Samenspende, Drei-Eltern-IVF, biologische und soziale Vaterschaft, Adoptionswunsch von gleichgeschlechtlichen Paaren und nichtehelichen Lebensgemeinschaften) hätte es sich aufgedrängt, (auch im Adoptionsrecht) den Schutz aus Art. 6 I GG auf moderne gesellschaftliche Strukturen zu erstrecken und faktische Familienstrukturen einzubeziehen. Da die fraglichen Regelungen der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB einer solchen Auslegung des Art. 6 I GG nicht gerecht werden, hätte sich schon allein deswegen eine konkrete Normenkontrolle (Richtervorlage) gem. Art. 100 I GG entgegen der Auffassung des BGH angeboten. Hinzu kommt, dass entgegen der Auffassung des BGH Art. 2 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG auf Seiten der Kinder sehr wohl verletzt ist. Zwar ist allgemein (und insbesondere auch vom BVerfG) anerkannt, dass der Gesetzgeber bei der Frage nach dem Maß von staatlichen Schutzpflichten einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum hat, dieser Spielraum ist aber überschritten, wenn eine Differenzierung von zwei vergleichbaren Sachverhalten ohne hinreichenden Sachgrund erfolgt. Vorliegend geht es um die unterschiedliche Behandlung von Kindern mit nur einem Elternteil, der in einer (neuen) Ehe (oder Lebenspartnerschaft nach dem LPartG) lebt, und Kindern, deren Elternteil mit seinem neuen Partner zusammenlebt, ohne mit diesem eine rechtliche Beziehung in Form einer Ehe oder Lebenspartnerschaft eingegangen zu sein. Abgesehen vom Verlust des Verwandtschaftsverhältnisses zu ihrem (bisherigen) Elternteil verlieren die betroffenen Kinder ihr gesetzliches Erbrecht nach §§ 1922 ff. BGB, ihre Sorgerechtsansprüche gem. §§ 1626 ff. BGB und ihre Unterhaltsansprüche nach §§ 1601 ff. BGB, wenn der (bisherige) Elternteil der Adoption durch seinen nichtehelichen Lebenspartner zustimmt. Warum in diesen Fällen für die betroffenen Kinder unterschiedliche Wirkungen einer Adoption hinzunehmen sind, ist nicht ersichtlich; mithin fehlt ein Sachgrund für die unterschiedliche Adoptionsregelung. §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB verstoßen damit (auch) gegen Art. 2 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG. Eine konkrete Normenkontrolle wäre damit (in zweifacher Hinsicht) angezeigt gewesen (siehe bereits R. Schmidt, Familienrecht, 10. Aufl. 2018, Rn. 599e).

Das BVerfG hatte gleichwohl aufgrund einer Verfassungsbeschwerde Gelegenheit, in der Sache zu entscheiden (BVerfG NJW 2019, 1793 ff.). Es hat entschieden, dass weder das Elterngrundrecht (Art. 6 II GG) noch das Recht der anzunehmenden Kinder auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung (Art. 2 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG) noch das Familiengrundrecht (Art. 6 I GG) für sich genommen verletzt seien (BVerfG NJW 2019, 1793, 1794 ff.). Argumentativ steht es diesbezüglich auf der Linie des BGH: 
  • Art. 6 II GG setze Elternschaft voraus. Der Adoptionswillige sei aber vor der Adoption kein Elternteil und daher auch nicht Träger dieses Grundrechts. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass er mit dem Elternteil und dessen Kind in sozial-familiärer Gemeinschaft lebe. Da Art. 6 II GG Elternschaft voraussetze und vor einer Elternschaft daher auch nicht anwendbar sei, könne die Verfassungsbestimmung mithin kein Grundrecht auf Elternschaft begründen. Das Elterngrundrecht des (anderen) Elternteils sei nicht verletzt, da insoweit kein Grundrechtseingriff vorliege. Es sei zwar richtig, dass die Verwandtschaft zum Kind erlöschen würde, wenn der Adoptionswillige das Kind adoptierte. Zur Adoption komme es grundsätzlich aber nicht, wenn der rechtliche Elternteil dies nicht wolle (BVerfG NJW 2019, 1793, 1794).
  • Das dem Kind nach Art. 2 I GG i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG zustehende Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung sei durch die gesetzliche Begrenzung der Stiefkindadoption nicht verletzt, da das Kind ja einen Elternteil habe. Aus dem Recht auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung ergebe sich kein Anspruch darauf, dass der Gesetzgeber die Erlangung eines zweiten rechtlichen Elternteils ermögliche (BVerfG NJW 2019, 1793, 1795 mit Verweis auf BVerfGE 133, 59, 76). 
  • Das Familiengrundrecht aus Art. 6 I GG sei durch die gesetzlichen Adoptionsgrenzen ebenfalls nicht verletzt. Zwar schütze dieses Grundrecht auch die tatsächliche (d.h. soziale) Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern mit Kindern als Familie, weshalb es weiter reiche als das Elterngrundrecht und daher betroffen sei, wenn die Adoption verwehrt bleibe, bzw. dazu führe, dass der Elternteil durch die Adoption sein Verwandtschaftsverhältnis zum Kind verliere, jedoch gebiete es das Familiengrundrecht nicht, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer weiteren Elternschaft schaffen müsse (BVerfG NJW 2019, 1793, 1795).Die Berücksichtigung der als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten heranzuziehenden EMRK und der Rechtsprechung des EGMR (hier erfolgt der Verweis auf BVerfGE 111, 307, 317; 138, 296, 355 f.; 141, 186, 218) führe zu keinem anderen Ergebnis (BVerfG NJW 2019, 1793, 1795). Zwar sei der Prüfungsmaßstab des Art. 8 I EMRK eröffnet und es gebe auch eine Entscheidung des EGMR, in der dieser eine Verletzung des Art. 8 I EMRK festgestellt habe (Hier erfolgt der Verweis auf EGMR FamRZ 2008, 377). Jedoch habe dieser Entscheidung eine Erwachsenenadoption zugrunde gelegen und sie sei somit nicht übertragbar.  
  • Die Rechte der Kinder aus Art. 6 V GG seien nicht betroffen. Träger dieses Grundrechts seien nur Kinder, deren Eltern im Zeitpunkt der Geburt nicht miteinander verheiratet waren. Zwar sei auch im Fall eines in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Kindes der Elternteil nicht mit dem Adoptionswilligen verheiratet. Seien die Kinder jedoch aus einer Ehe ihrer leiblichen Eltern als eheliche Kinder hervorgegangen, greife Art. 6 V GG nicht (BVerfG NJW 2019, 1793, 1795). 
  • Schließlich bestätigte das BVerfG die Rechtsauffassung des BGH zu Art. 3 I GG, die daran anknüpft, dass die zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft auf der einen Seite und nichtehelicher Lebensgemeinschaft auf der anderen Seite differenzierende Adoptionsregelung nicht willkürlich und auch nicht unverhältnismäßig sei. Jedoch führten die Regelungen zu Ungleichbehandlungen, weil vollständig ausgeschlossen sei, dass ein Kind von seinem mit einem Elternteil in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Stiefelternteil adoptiert werden könne, ohne dass die verwandtschaftliche Beziehung zum Elternteil erlösche, wohingegen ein Kind durch den mit einem Elternteil verheirateten Stiefelternteil ohne Erlöschen der Verwandtschaft zum bleibenden Elternteil adoptiert und damit gemeinschaftliches Kind beider Eltern werden könne (BVerfG NJW 2019, 1793, 1795). Diese Ungleichbehandlung sei nicht zu rechtfertigen. Zwar sei es ein legitimes Mittel, eine Stiefkindadoption zum Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption nur dann zuzulassen, wenn die Beziehung zwischen Elternteil und Stiefelternteil (besser müsste man vom Adoptionswilligen sprechen, denn noch ist dieser ja nicht Stiefelternteil) längeren (und rechtlich stabilen) Bestand verspricht, jedoch sei der vollständige Ausschluss der Adoption von Stiefkindern in allen nichtehelichen Familien nicht gerechtfertigt, da die gesetzlichen Regelungen Stiefkindern in nichtehelichen Familien, auch wenn diese tatsächlich ebenso stabil sind wie eheliche Familien, eine Adoption durch den Stiefelternteil strikt vorenthielten. Für den Ausschluss der Stiefkindadoption in nichtehelichen Stiefkindfamilien bestehe gemessen an Regelungsgegenstand und Regelungsziel kein hinreichend gewichtiger Sachgrund (BVerfG NJW 2019, 1793, 1802). Die Regelungen seien daher verfassungswidrig. Der Gesetzgeber habe bis zum 31.3.2020 Zeit, eine Neuregelung zu treffen, mittels derer der Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption auf andere, verhältnismäßige Weise gesichert werde (BVerfG NJW 2019, 1793, 1802).
Stellungnahme: Das BVerfG hat das vom Verfasser in der 10. Auflage 2018 seines Werkes zum Familienrecht angeführte Argument der unterschiedlichen Behandlung von Kindern mit nur einem Elternteil, der in einer (neuen) Ehe (oder Lebenspartnerschaft nach dem LPartG) lebt, und Kindern, deren Elternteil mit seinem neuen Partner zusammenlebt, ohne mit diesem eine rechtliche Beziehung in Form einer Ehe oder Lebenspartnerschaft eingegangen zu sein, letztlich bestätigt. Sehr ausführlich prüft das BVerfG die Ungleichbehandlung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit (statt sich auf die Willkürformel zu beschränken) und wägt Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Es kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die Verwehrung der Adoption durch einen nichtehelichen Lebenspartner es ausschließe, dass dieser die Sorge für die Entfaltung des Kindes in vollem Umfang übernehmen könne. Die mit der Verwehrung der rechtlich vollwertigen Elternstellung verbundenen Beschränkungen elterlicher Befugnisse erschwerten das familiäre Zusammenleben des Kindes mit seinen Eltern, wodurch eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber Kindern bestehe, bei denen der Adoptionswillige mit dem leiblichen Elternteil verheiratet sei. Wie aufgezeigt, überzeugt diese Entscheidung gerade mit Blick auf die sich wandelnden gesellschaftlich-familiären Strukturen, bei denen es um tatsächlich gelebte Einstands- und Verantwortungsgemeinschaften geht. Nach Schaffung einer neuen Rechtslage durch den Gesetzgeber dürfte die zum Schutz des Kindeswohls erforderliche Verbindlichkeit dadurch gewährleistet sein, dass das Kind die rechtliche Stellung eines gemeinsamen Kindes des Elternteils und des Annehmenden und umgekehrt der Annehmende gemeinsam mit dem leiblichen Elternteil die elterliche Sorge erlangt, was durch eine entsprechende Änderung u.a. des § 1754 BGB zu bewerkstelligen wäre.

Eine Gesetzesinitiative liegt bereits vor.

Rolf Schmidt (19.08.2019)



12.08.2019: Zur Problematik der Teilverwirklichungsregel beim unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung

BGH, Beschluss v. 17.07.2018 – 2 StR 123/18 (NStZ 2019, 79)

Mit Beschluss v. 17.07.2018 hat der 2. Strafsenat des BGH (2 StR 123/18) über die Frage entschieden, ob der Täter, der dem unter 14 Jahre alten Opfer ein doppelseitiges Klebeband auf den Mund geklebt, es in sein Auto gezerrt, dort auf die Rückbank verbracht hatte und im Begriff gewesen war, davonzufahren, um das Opfer an einem anderen Ort zu vergewaltigen, bereits damit zum sexuellen Missbrauch von Kindern (und zur sexuellen Nötigung im besonders schweren Fall) angesetzt hatte, obwohl es dem Opfer gelang, die hintere Tür zu öffnen und das Auto zu verlassen. Der BGH hat – nach Anhörung des Generalbundesanwalts – entschieden, dass der Angeklagte mit dem Einsatz von Gewalt bereits ein Tatbestandsmerkmal der sexuellen Nötigung nach § 177 StGB verwirklicht habe und jedenfalls insoweit in das Versuchsstadium gelangt sei. Dagegen lasse sich nicht feststellen, dass er mit der Verbringung des Opfers in sein Kraftfahrzeug auch bereits zum sexuellen Missbrauch eines Kindes nach § 176a StGB angesetzt habe. Ob der Beschluss überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Es gibt Situationen, in denen der Täter eine bestimmte Straftat begehen möchte, aus tatsächlichen Gründen den angestrebten Erfolg aber nicht verwirklichen kann. Der Tatverlauf ist vielmehr im Versuch „stecken geblieben“. Da der Täter jedoch auch in diesen Fällen durch sein Verhalten kriminelles Unrecht zum Ausdruck bringt, hat der Gesetzgeber es in bestimmten Fällen für erforderlich gehalten, die Strafbarkeit des Täters anzuordnen, obwohl es noch zu keiner Rechtsgutverletzung bzw. Tatvollendung gekommen ist (siehe R. Schmidt, StrafR AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 630). Da nicht jedes Verhalten im Vorfeld der eigentlichen Tatbegehung strafbar sein kann, andererseits aber zumindest dann, wenn die Rechtsgutverletzung unmittelbar bevorsteht, eine strafrechtliche Sanktionierung angebracht sein kann, hat der Gesetzgeber ein differenziertes System geschaffen. Grundgedanke ist, dass jede vorsätzliche Straftat verschiedene Etappen bis zu ihrem Abschluss durchläuft. So führt der Weg vom (1) Entschluss des Täters, eine bestimmte Straftat zu begehen, über (2) die Vorbereitungshandlung, (3) den Beginn der Ausführung (Versuch), (4) den Abschluss der Tatbestandshandlung und den Eintritt des Erfolgs (Vollendung) bis (5) hin zur Beendigung (vgl. u.a. Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 48. Aufl. 2018, Rn. 839). Während der Tatentschluss für sich genommen straflos ist, verhält es sich bei den Vorbereitungshandlungen in bestimmten Fällen anders. Der Versuch, der sich nach § 22 StGB dadurch kennzeichnet, dass der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt, ist hingegen strafrechtlich relevant: Handelt es sich bei der anvisierten Tat um ein Verbrechen, ist der Versuch stets strafbar (§ 23 I Halbs. 1 StGB). Hinsichtlich Vergehen ist der Versuch nur dann strafbar, wenn der betreffende Straftatbestand dies ausdrücklich anordnet (§ 23 I Halbs. 2 StGB). Ob eine Straftat ein Verbrechen oder ein Vergehen ist, richtet sich nach der abstrakt angedrohten Mindeststrafe (vgl. § 12 StGB).

Das zentrale Kriterium bei der Frage nach der Strafbarkeit des Versuchs formuliert § 22 StGB (s.o.). Diese Vorschrift kombiniert subjektive und objektive Elemente. Das subjektive Element ergibt sich aus der Formulierung: „nach seiner Vorstellung“ und das objektive aus „unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt“. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Ansatzformel und deren Anwendung durch die Rechtsprechung setzt der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung an, wenn sein Verhalten nach dem Gesamtplan zeitlich/räumlich so eng mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung verknüpft ist, dass es bei ungestörtem Fortgang ohne längere Unterbrechung im Geschehensablauf unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestands führen soll (vgl. BGH NStZ 2019, 79; NStZ 2015, 207 f.; NJW 2014, 1463; NStZ 2014, 447, 448; NStZ 2013, 156, 157). Das Merkmal „unmittelbar“ wird vom BGH bisweilen auch mit „ohne (wesentliche) Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung einmünden“ beschrieben. Denn oft liest man, dass ein Versuch vorliege, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht´s los“ überschreite und objektiv derart zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetze, dass sein Tun ohne (wesentliche) Zwischenakte in die Rechtsgutverletzung bzw. Erfüllung des Tatbestands übergehe (so eine Zusammenschau aus z.B. BGH NStZ 2019, 79; NStZ 2015, 207 f.; NJW 2014, 1463; NStZ 2013, 579; NStZ 2013, 156, 157; NStZ 2011, 400, 401; NStZ 2006, 331 f.; NJW 2002, 1057; NStZ 2001, 415; NStZ 2001, 475, 476; BGHSt 48, 34, 36 ff.; 37, 294, 297 f.; 26, 201, 203). Mit dieser „Zwischenaktformel“ versucht der BGH, den strafbaren Versuch von nicht strafbaren Vorbereitungshandlungen abzugrenzen, was insbesondere erforderlich wird, wenn objektiv noch keine Rechtsgutverletzung eingetreten ist bzw. der Täter noch kein objektives Tatbestandsmerkmal erfüllt hat (siehe dazu R. Schmidt, StrafR AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 672). Aber auch die Zwischenaktformel ist nicht stets geeignet, eine konturscharfe Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuch zu ermöglichen. Das liegt insbesondere daran, dass der Begriff des (wesentlichen) Zwischenakts ebenso einer wertenden Betrachtung unterworfen ist. Jedenfalls liegt nach der genannten Rechtsprechung des BGH ein Versuch i.d.R. dann vor, wenn der Täter bereits mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung begonnen bzw. ein Tatbestandsmerkmal erfüllt hat (Teilverwirklichung des Tatbestands). Diese (vermeintlich überzeugende) Lösung hat aber ihre Tücken, wie der vorliegend zu besprechende Fall BGH NStZ 2019, 79 zeigt. 

Sachverhalt (leicht abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): T beabsichtigte, ein Kind zu vergewaltigen. Er ergriff in einem bewohnten Ortsteil die 13-jährige O, klebte ihr Klebeband auf den Mund und zerrte sie in sein Auto, um mit ihr zur Tatausführung an einen abgelegenen Ort zu fahren und dort die Tat zu vollziehen. Jedoch gelang es O, die Tür zu öffnen und aus dem Fahrzeug zu fliehen, als T im Begriff war, loszufahren.

Durch das beschriebene Verhalten könnte T sich wegen Versuchs einer sexuellen Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben. Daneben kommt eine Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. §§ 176a II Nr. 1 Var. 1, 22, 23 I, 12 I StGB in Betracht.

Strafbarkeit nach §§ 176a II Nr. 1 Var. 1, 22, 23 I, 12 I StGB
T beabsichtigte, mit O den Beischlaf zu vollziehen und damit den Tatbestand des § 176a II Nr. 1 Var. 1 StGB zu verwirklichen. Er müsste gem. § 22 StGB aber auch nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben, was nach ständiger Rechtsprechung des BGH der Fall ist, wenn das Täterverhalten ohne wesentliche Zwischenakte in die Rechtsgutverletzung bzw. Erfüllung des Tatbestands übergeht, jedenfalls aber dann, wenn der Täter ein Tatbestandsmerkmal erfüllt hat.

Ein Tatbestandsmerkmal des § 176a II Nr. 1 Var. 1 StGB hat T nicht erfüllt. Ein Versuch liegt daher nur vor, wenn T nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tat angesetzt hat. Hierzu hat der BGH entschieden, dass zum Zeitpunkt des Sichbemächtigens und Ins-Auto-Zerrens, um an einen abgelegenen Ort zu fahren, auch für T unklar gewesen sei, wo dieser Ort sein sollte und wie lange die Fahrt dorthin dauern würde. Denn T sei ortsfremd gewesen und ihm hätten Ortskenntnisse zur Umgebung des Ergreifungsortes gefehlt. Eine Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sei damit nicht gegeben (BGH NStZ 2019, 79).

Strafbarkeit nach §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB
Da T den beabsichtigten Beischlaf mit O auch gegen deren Willen vollziehen wollte, kommt auch eine versuchte sexuelle Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB in Betracht. Auch hier müsste T gem. § 22 StGB nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben, was – wie aufgezeigt – nach ständiger Rechtsprechung des BGH der Fall ist, wenn das Täterverhalten ohne wesentliche Zwischenakte in die Rechtsgutverletzung bzw. Erfüllung des Tatbestands übergeht, jedenfalls aber dann, wenn der Täter ein Tatbestandsmerkmal erfüllt hat.

T hat ein Tatbestandsmerkmal erfüllt; durch das Anbringen von Klebeband und das Zerren in den Pkw hat er Gewalt angewendet i.S.d. § 177 V Nr. 1 StGB. Demzufolge müsste er nach der vom BGH vertretenen Teilverwirklichungsregel wegen versuchter sexueller Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar sein.

Gleichwohl kommt der BGH zu einem anderen Ergebnis. T habe mit dem Einsatz von Gewalt bereits ein Tatbestandsmerkmal der sexuellen Nötigung nach § 177 StGB verwirklicht und sei jedenfalls insoweit in das Versuchsstadium gelangt (BGH NStZ 2019, 79). Danach ist T also wegen versuchter sexueller Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. §§ 177 I, V Nr. 1, 22, 23 I, 12 I i.V.m. § 177 VI S. 2 Nr. 1 StGB strafbar.

Bewertung: Das erstaunt. Denn ebenso wie bei der Frage nach der Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist bei der Frage nach dem Versuch einer sexuellen Nötigung in einem besonders schweren Fall unklar, welche wesentlichen Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung noch erforderlich gewesen wären (sehr kritisch auch Eidam, NStZ 2019, 79, 80). Zwar hat T durch das Anbringen von Klebeband und das Zerren in den Pkw Gewalt angewendet, wo und wann aber die Tat hätte ausgeführt werden können und welche Zwischenschritte noch erforderlich gewesen wären, war T zu diesem Zeitpunkt unklar. Die unterschiedliche Bewertung im Vergleich zur verneinten Strafbarkeit wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern überzeugt daher nicht, ist aber Ergebnis der Anwendung der Teilverwirklichungsregel (siehe Eidam, NStZ 2019, 79, 80). Ein Lösungsansatz, der solche Wertungswidersprüche vermeidet, bestünde darin, ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung – und damit einen Versuch – auch bei Verwirklichung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals erst dann anzunehmen, wenn ein von der Strafnorm geschütztes Rechtsgut unmittelbar gefährdet ist. Bemächtigt sich also ein Täter eines Opfers, um dieses zu vergewaltigen, ist für den Täter zu diesem Zeitpunkt aber noch unklar, wo und wann die Tat ausgeführt werden könnte und welche Zwischenschritte noch erforderlich sind, liegt darin trotz Teilverwirklichung des Tatbestands noch kein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung des § 177 StGB.

Fazit: Die Feststellung, ob der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat oder sich noch im (straflosen) Vorbereitungsstadium bewegt, ist nicht immer klar möglich, weil das gesetzliche Kriterium der Unmittelbarkeit Raum zur wertenden Einzelfallbetrachtung lässt und auch die von der Rechtsprechung verwendete Zwischenaktformel und Teilverwirklichungsregel nur vermeintlich Klarheit schaffen. So ist insbesondere unklar, wann ein Zwischenakt „wesentlich“ sein soll und ob die Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals, das isoliert betrachtet überhaupt nicht zum geschützten Rechtsgut zählt, wirklich geeignet ist, die Annahme eines Versuchs zu begründen. Daher ist es nachvollziehbar, dass in der Abgrenzung strafbarer Versuch/straflose Vorbereitungshandlung regelmäßig der Schwerpunkt jeder Versuchsprüfung liegt. Der vom Verfasser vorgeschlagene Lösungsansatz, der solche Wertungswidersprüche vermeidet, besteht darin, ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung – und damit einen Versuch – auch bei Verwirklichung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals erst dann anzunehmen, wenn ein von der Strafnorm geschütztes Rechtsgut unmittelbar gefährdet ist.

Rolf Schmidt (12.08.2019)


11.08.2019: Aktuelle Tendenzen bei der Annahme eines minder schweren Falls des Totschlags

BGH, Beschluss v. 16.01.2019 - 4 StR 580/18 (NStZ 2019, 408) und BGH, Beschluss v. 22.01.2019 – 1 StR 585/18 (NStZ 2019, 471)

Mit ihren Beschlüssen v. 16.01.2019 und 22.01.2019 haben der 4. und 1. Strafsenat des BGH überaus täterfreundlich minder schwere Fälle des Totschlags angenommen. Ob die Entscheidungen überzeugen, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Während es sich bei § 212 I StGB um einen Straftatbestand handelt,der die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren sanktioniert, stellt § 213 StGB weder einen Tatbestand noch eine unselbstständige Privilegierung zu § 212 StGB dar, sondern eine Strafzumessungsregel für einen minder schweren Fall des Totschlags. Ohne den Verbrechenscharakter der Tat zu ändern (ein Versuch ist somit auch ohne spezielle Strafandrohung möglich), ist nach dieser Vorschrift eine Strafmilderung obligatorisch, wenn das Opfer seine Tötung in bestimmter Weise provoziert hat (Var. 1) oder wenn die Gesamtbewertung der Tat einen „sonst minder schweren Fall“ (Var. 2) ergibt.

Nach h.M. ist ein minder schwerer Fall des Totschlags unter den Voraussetzungen der „Provokation“ stets gegeben. Auf eine Gesamtwürdigung der Tat (wie bei der Var. 2) kommt es demnach nicht an (BGH NStZ 2017, 163; NStZ 2008, 510; NStZ 2004, 500 f.; BGHSt 25, 224; Fischer, § 213 Rn. 2; LK-Jähnke, § 213 Rn. 2; siehe auch BGH NStZ 2019, 210, 211), wobei der BGH hinsichtlich der Beurteilung der „Schwere“ der Misshandlung bzw. Beleidigung durchaus eine Gesamtwürdigung aller, auch in der Vergangenheit liegenden Vorgänge vornimmt (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2015, 218; BGH NStZ 2015, 582; BGH NStZ-RR 2017, 11).

In der Fallbearbeitung ist daher zunächst zu prüfen, ob ein Fall der provozierten Tötung vorliegt. Das Gesetz nennt folgende Voraussetzungen:

Der Täter muss von dem Getöteten durch
  • eine zugefügte Misshandlung (auch seelischer Art) oder
  • eine schwere Beleidigung (i.S.d. §§ 185 ff. StGB) gegenüber
    • dem Täter selbst oder
    • einem seiner Angehörigen (§ 11 I Nr. 1 StGB)
  • ohne eigene Schuld zum Zorn gereizt
  • und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden sein.
Zu den Voraussetzungen im Einzelnen (vgl. BGH NStZ 2019, 408, 409; NStZ 2019, 210, 211; NStZ 2015, 218, 219; 2013, 159, 160; 2009, 91, 92; 2008, 510; 2004, 500 f.; 1998, 84 u. 191 ff.; 1983, 554; 1981, 2311; 1987, 3134; SK-Horn, § 213 Rn. 2 ff.; Lackner/Kühl, § 213 Rn. 2 ff.; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, § 213 Rn. 2 ff.; Fischer, § 213 Rn. 2 ff.): 
  • Als Misshandlung kommen körperliche oder seelische Angriffe in Frage. Ein körperlicher Angriff setzt keinen Körperverletzungserfolg voraus (BGH 12.6.2002 – 5 StR 221/02; BGH 28.5.2002 – 5 StR 196/02; Detter, NStZ 2003, 133). Allerdings muss die eingetretene oder drohende Körperverletzung mehr als nur geringfügig sein (BGH NStZ 2015, 582, 583). Seelische Angriffe kommen insb. bei einem fehlgeschlagenen Angriff auf Leib oder Leben in Betracht, etwa bei einem Messerstich ohne Verletzungsfolgen.
  • Der Begriff der Beleidigung ist nicht i.S.d. § 185 StGB zu verstehen, sondern objektiviert und provokationsspezifisch i.S.d. § 213 Var. 1 StGB. Der BGH führt dazu in ständiger Rechtsprechung aus: „Ob eine ‚schwere Beleidigung‘ vorliegt, beurteilt sich nach einem objektiven Maßstab. Die Handlung muss auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände unter objektiver Betrachtung und nicht nur aus der subjektiven Sicht des Täters als schwer beleidigend zu beurteilen sein (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis u.a. auf BGH NStZ-RR 2017, 11). (...). Maßgebend ist dafür der konkrete Geschehensablauf unter Berücksichtigung von Persönlichkeit und Lebenskreis der Beteiligten, der konkreten Beziehung zwischen Täter und Opfer sowie der tatauslösenden Situation“ (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis u.a. auf BGH NStZ 2015, 582), wobei die Anforderungen an die Schwere der Beleidigung nicht zu gering anzusetzen seien (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2015, 582; BGH NStZ 2015, 218). Dabei macht der BGH deutlich, dass sich die Schwere der Beleidigung auch erst aus fortlaufenden, für sich allein noch nicht schweren Kränkungen ergeben könne, wenn die Beleidigung nach einer Reihe von Kränkungen gleichsam „der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte“ (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2011, 339, 340; BGH NStZ 2015, 218; Fischer, § 213 StGB Rn. 5). Deswegen sei es geboten, in die erforderliche Gesamtwürdigung auch in der Vergangenheit liegende Vorgänge als mitwirkende Ursachen miteinzubeziehen (BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 2015, 218; BGH NStZ 2015, 582; BGH NStZ-RR 2017, 11).
  • Die Misshandlung bzw. die schwere Beleidigung muss von dem Getöteten (also nicht von einem Dritten) ausgegangen sein, kann sich aber auf den Täter oder einen seiner Angehörigen (i.S.d. § 11 I Nr. 1 StGB) beziehen.
  • Ohne eigene Schuld wurde der Täter von dem (später) Getöteten zum Zorn gereizt, wenn er im gegebenen Augenblick „keine genügende Veranlassung“ zu der Misshandlung bzw. schweren Beleidigung (also zu der Provokation) gegeben hat oder jedenfalls die Misshandlung bzw. schwere Beleidigung nicht vorwerfbar veranlasst hat (BGH NStZ 2019, 471 m.w.N.; BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 1983, 554; BGH NStZ 1984, 216; BGH NStZ 1987, 555; BGH NStZ 1998, 191; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, § 213 Rn. 7). Hat also der Täter das spätere Opfer zu dessen Verhalten herausgefordert (BGH NStZ 2008, 510; BGH NStZ 2019, 471), zur Zuspitzung eines Streits, dem die Tat folgt, beigetragen oder dem Opfer vor der Tat (auf sonstige Weise) schuldhaft Veranlassung zur Provokation gegeben (BGH NStZ 2019, 408, 409 mit Verweis auf BGH NStZ 1992, 588), wurde er nicht „ohne eigene Schuld“ gereizt und für § 213 Var. 1 StGB ist kein Raum. Das ist nach der Rechtsprechung des BGH der Fall, wenn das Vorverhalten dem Täter vorwerfbar ist und in qualitativer Hinsicht geeignet ist, die darauf fußende Provokation des Opfers als verständliche Reaktion erscheinen zu lassen (BGH NStZ 2019, 408, 409; siehe auch BGH NStZ 2019, 471). Gleichwohl ist der BGH in der Anwendung dieser Definition (neuerdings) sehr großzügig und gelangt – selbst in zweifelhaften Fällen – häufig zur Bejahung des Merkmals „ohne eigene Schuld“ und damit – zulasten des Opferschutzes – zu einem minder schweren Fall gem. § 213 Var. 1 StGB
Die Frage nach den Kriterien der Tatprovokation war Gegenstand der BGH-Entscheidung v. 16.01.2019 - 4 StR 580/18 (NStZ 2019, 408).Dieser lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): T und seine Arbeitskollegin O waren einige Zeit zusammen. Weil O u.a. ihren früheren Lebensgefährten finanziell unterstützte, kam es öfter zum Streit zwischen T und O, woraufhin sich die beiden denn auch trennten. Gleichwohl besuchte T die O weiterhin. Nach einem Streit in der Wohnung der O, der eskalierte, ergriff O ein Küchenmesser mit ca. 14 cm langer Klinge und verletzte damit T mit einer Stichbewegung leicht an der Beugeseite des rechten Unterarms. T schlug ihr das Messer aus der Hand. Auch durch den Messerangriff nunmehr „rasend vor Wut“ entschloss sich T, O zu töten. Er ergriff das Messer und stach es O in den Hals. Dann warf er O rücklings aufs Bett und stach weitere 17 Mal auf sie ein. Der dadurch bewirkte Blutverlust war bereits tödlich. T ergriff nun aber noch eine metallene Schnur, knotete sie um den Hals der O und würgte sie kräftig. Auch dieses Vorgehen war für sich genommen tödlich.

Die Entscheidung des BGH: Das Landgericht verneinte einen minder schweren Fall nach § 213 Var. 1 StGB und verurteilte T wegen Totschlags gem. § 212 I StGB. Der BGH hob das Urteil auf. Die Urteilsgründe belegten nicht hinreichend, dass T selbst den tatauslösenden Messerangriff des Tatopfers vorwerfbar veranlasst habe. Allgemein führt der BGH zu dem § 213 Var. 1 StGB konstituierenden Merkmal „ohne eigene Schuld“ negativ formulierend aus, dass es daran (nur dann) fehle, wenn der Täter dem Opfer vor der Tat schuldhaft genügende Veranlassung zur Provokation gegeben habe (BGH NStZ 2019, 408, 409 mit Verweis auf BGH NStZ 1992, 588). Sei das Vorverhalten dem Täter vorwerfbar und in qualitativer Hinsicht geeignet, die darauf fußende Provokation des Opfers als verständliche Reaktion erscheinen zu lassen, sei die Tatprovokation nicht „ohne eigene Schuld“ (BGH NStZ 2019, 408, 409). „Ohne eigene Schuld“ liege nicht vor, wenn die dem Täter zugefügte Misshandlung ihrerseits Ausfluss einer angemessenen Reaktion des Opfers auf die ihm zuvor durch den Täter zuteilgewordene Behandlung gewesen sei. Fehle es an der Proportionalität zwischen vorangegangenem Fehlverhalten des Täters und der nachfolgenden Opferreaktion, sei die Schuld des Täters an der Provokation mangels genügender Veranlassung zu verneinen (BGH NStZ 2019, 408, 409).

Dem BGH fehlten Feststellungen des Landgerichts hierüber. Das Landgericht habe sich mit der Frage, ob der Messerangriff der O auf T noch eine angemessene Reaktion auf den vorangegangenen Streit war, nicht auseinandergesetzt. Eine Erörterung hätte sich hier aber aufgedrängt, da ein zu einer Schnittverletzung führender Angriff mit einem Messer mit 14 cm langer Klinge jedenfalls nicht ohne weiteres als verständliche oder als angemessene Reaktion auf einen verbalen Streit angesehen werden kann.

Bewertung: Es mag sein, dass ein zu einer Schnittverletzung führender Angriff mit einem Messer mit einer Klingenlänge von 14 cm nicht ohne weiteres als verständliche oder als angemessene Reaktion auf einen verbalen Streit angesehen werden kann mit der Folge, dass eine Tatprovokation durch O naheliegt. Gleichwohl liegt ein vom BGH nicht erwähnter, aber entscheidender Umstand vor: Nachdem T der O das Messer aus der Hand geschlagen hatte, lag dieses auf dem Boden und wurde von T aufgehoben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte sich T besinnen müssen, zumal er die von O ausgehende Provokation nicht unwesentlich mitverursacht hatte. Schließlich wird man das Merkmal „auf der Stelle“ (dazu sogleich im nächsten Fall) in Frage stellen müssen, worauf der BGH auch nicht eingegangen ist. Jedenfalls aber erfolgte das anschließende Erdrosseln nicht mehr „auf der Stelle“ und ist nicht als minder schwerer Fall i.S.d. § 213 StGB anzusehen. 

Ergebnis: Nach der hier vertretenen Auffassung lag kein Fall des § 213 Var. 1 StGB vor. T hat sich jedenfalls in Bezug auf das Erdrosseln gem. § 212 I StGB strafbar gemacht.

Wie bereits aus dem obigen Fall deutlich geworden ist, muss der Täter schließlich auf der Stelle zur Tat hingerissen worden sein. Auf der Stelle zur Tat hingerissen wurde der Täter, wenn die Tötung auf einem auf die Provokation zurückzuführenden Affekt (affektiver Erregungszustand) beruht und in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur Provokation steht (vgl. BGH NStZ 2015, 582, 583; NStZ 2013, 341; NStZ 2011, 339, 340; NStZ 2004, 500 f.; NStZ 2002, 542), wobei der BGH es neuerdings genügen lässt, wenn zwischen der Tatprovokation und der Tötung des Provokateurs eine gewisse raumzeitliche Zäsur besteht, sofern zwischen beiden Ereignissen nur ein „motivationsspezifischer Zusammenhang“ gegeben ist. Das ist mit der gesetzlichen Formulierung „auf der Stelle“ schwerlich vereinbar und daher abzulehnen. Daher war auch im obigen Fall nach der hier vertretenen Auffassung § 213 Var. 1 StGB abzulehnen. Auch die im BGH-Beschluss v. 22.01.2019 (1 StR 585/18 - NStZ 2019, 471) vertretene Rechtsauffassung überzeugt nicht.

Diesem lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um das Problem zu fokussieren): T war Gast in einer Pension und nahm an einer Silvesterfeier teil, die in den Kellerräumen der Pension stattfand. Dort benahm er sich, unter Alkoholeinfluss stehend, verbal und durch Gesten sexuell ausfällig. So sagte er manchen Frauen, er wolle mit ihnen „ins Bett gehen“, und machte dies durch entsprechende Körperbewegungen deutlich. Gegenüber einer anderen Frau äußerte er, sie habe einen blöden Freund, den er am liebsten umbringen wolle, und er würde es ihr dann „ordentlich besorgen“. Ein anderes Paar belästigte er mit den Worten, wenn nicht der Mann der Frau in den „Mund ficken“ wolle, würde er das tun. Die Aufforderung des O, dies zu unterlassen, ignorierte T, woraufhin O dem T einen Faustschlag auf das linke Auge versetzte. Nunmehr schlugen und traten die beiden hinzugekommenen Brüder des O sowie O selbst auf T ein, selbst nachdem dieser bereits zu Boden gegangen war. Dadurch erlitt T mehrere Einblutungen am Kopf und Oberkörper.
Nachdem die drei Angreifer von T abgelassen hatten, begab dieser sich in sein Zimmer im zweiten Obergeschoss, holte von dort ein Küchenmesser und kam wenige Minuten später gegen 22.00 Uhr in den Flur vor dem Partyraum zurück. Er war wütend und fühlte sich wegen des „Rauswurfs“ gedemütigt; für die Tritte und Schläge wollte er sich rächen. Auf halber Höhe der Kellertreppe stieß er auf einen der beiden Brüder des O, der ihn aufforderte, das Messer wegzulegen. Als O zusammen mit seiner schwangeren Lebenspartnerin L hinzukam, sagte T, er werde L nicht wehtun, er habe ein Problem mit O und dessen Brüdern. O trat in Richtung der rechten Hand des T, in der dieser das Messer hielt, traf sie jedoch nicht. Unvermittelt trat T auf O zu und stach diesem sechsmal u.a. in die linke Achselhöhle, in den Oberbauch und in die rechte Brustkorbseite, wobei er den Herzbeutel traf und die Aorta durchtrennte. Dadurch verstarb O.

Die Entscheidung des BGH: Der BGH ist der Auffassung, dass die Annahme des Landgerichts, T habe sich nicht „ohne eigene Schuld“ zum Zorn reizen und hierdurch zum Totschlag hinreißen lassen, sodass § 213 Var. 1 StGB nicht anwendbar sei, durchgreifenden Bedenken begegne. Ob die Auffassung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden:

Der Tatbestand des § 212 I StGB ist erfüllt. T hat vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft O getötet. Fraglich ist allein, ob ihm wegen der vorangehenden Attacken der drei Brüder der Strafmilderungsgrund aus § 213 Var. 1 StGB zugutekommt. T könnte nämlich ohne eigene Schuld durch eine ihm zugefügte Misshandlung von O zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zu dessen Tötung hingerissen worden sein.

T ist vor seiner Tat von O und dessen beiden Brüdern körperlich misshandelt worden. Diese hatten zu seinem Nachteil eine gefährliche Körperverletzung (§ 224 I Nr. 4 StGB) begangen. Hierdurch wurde T zum Zorn gereizt und zur Tat hingerissen. Fraglich ist aber, ob dies „ohne eigene Schuld“ des T geschah und ob die Tat des T „auf der Stelle“ erfolgte. 

Ohne eigene Schuld wurde der Täter von dem (später) Getöteten zum Zorn gereizt, wenn er im gegebenen Augenblick „keine genügende Veranlassung“ zu der Misshandlung bzw. schweren Beleidigung (also zu der Provokation) gegeben hat oder jedenfalls die Misshandlung bzw. schwere Beleidigung nicht vorwerfbar veranlasst hat (BGH NStZ 2019, 471 m.w.N.; BGH NStZ 2019, 210, 211 mit Verweis auf BGH NStZ 1983, 554; BGH NStZ 1984, 216; BGH NStZ 1987, 555; BGH NStZ 1998, 191; Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, § 213 StGB Rn. 7). Umgekehrt formuliert handelt der Täter nicht „ohne eigene Schuld“, wenn er das spätere Opfer zu seinem Verhalten herausfordert. Das ist nach Auffassung des BGH nicht schon bei jeder Handlung des Täters der Fall, die ursächlich für die ihm zugefügte Misshandlung gewesen ist. Vielmehr müsse er dem Opfer genügende Veranlassung gegeben haben; dessen Verhalten müsse eine verständliche Reaktion auf vorangegangenes Tun des Täters gewesen sein. Dabei sei die Verständlichkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu prüfen (BGH NStZ 2019, 471 m.w.N.).

Sodann stellt der BGH zutreffend fest, dass die Schläge und Tritte der drei Brüder nicht verhältnismäßig waren. Sie seien nicht erforderlich gewesen, um T von weiteren Belästigungen abzuhalten. Als milderen Eingriff nennt der BGH das Herausdrängen des T – gegebenenfalls unter Zerren und Schieben – aus dem Keller. Das Einschlagen und Treten auf den am Boden liegenden T habe nichts mehr mit dem Unterbinden weiterer Ausfälligkeiten zu tun, sondern habe sich selbst als Rache für die vorangegangene „sexuelle Anmache“ dargestellt. Insbesondere hätten sich die Brüder nicht auf § 32 StGB stützen können, da zum Zeitpunkt der Attacke kein Angriff seitens des T vorgelegen habe. Das kann man sicherlich so sehen, jedenfalls aber waren die Schläge und Tritte auf den am Boden liegenden T nicht geboten i.S.d. § 32 I StGB (BGH NStZ 2019, 471).

Wurde T demnach „ohne eigene Schuld“ zum Zorn gereizt, stellt sich schließlich die Frage, ob die Tat des T „auf der Stelle“ erfolgte. Der BGH meint, der zeitliche Abstand von wenigen Minuten habe den motivationspsychologischen Zusammenhang zwischen der Provokation durch die Tritte und Schläge auf der einen und den Messerstichen auf der anderen Seite nicht unterbrochen. Das ist zweifelhaft. Denn T ging zwischenzeitlich in sein Zimmer im zweiten Obergeschoss, fasste offenbar dort erst den Tatentschluss, griff ein Küchenmesser und ging wenige Minuten später in den Flur vor dem Partyraum zurück. Diese Zeitspanne von auch nur wenigen Minuten ist – in Verbindung mit der räumlichen Entfernung – nach der hier vertretenen Auffassung nicht für die Annahme geeignet, T sei auf der Stelle zur Tat hingerissen worden. Für die Bejahung des Merkmals „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ reicht es nicht, wenn die Tötung auf einem auf die Provokation zurückzuführenden Affekt (affektiver Erregungszustand) beruht, sondern die Tötung muss zusätzlich auch in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur Provokation stehen (Vgl. BGH NStZ 2015, 582, 583; NStZ 2013, 341; NStZ 2011, 339, 340; NStZ 2004, 500 f.; NStZ 2002, 542). 

Ergebnis: Die überaus tätergünstige Rechtsprechung des BGH ist mit der gesetzlichen Formulierung „auf der Stelle“ schwerlich vereinbar und daher abzulehnen. Nach der hier vertretenen Auffassung lag gerade kein Fall des § 213 Var. 1 StGB vor. T handelte im Zorn, nahm bedacht Rache und übte Selbstjustiz. Er hat sich wegen der tödlichen Messerstiche gem. § 212 I StGB strafbar gemacht.



Rolf Schmidt (11.08.2019)




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