20.12.2017: Studienplatzvergabe/Numerus clausus bei Medizinstudium
BVerfG, Urteil v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14
Mit Urteil vom 19.12.2017 hat der 1. Senat des BVerfG hinsichtlich der Frage nach der Vereinbarkeit einer Zugangsbeschränkung zum Studium der Humanmedizin mit Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG entschieden, dass
sich zwar die maßgebliche Orientierung der
Vergabeentscheidung an den Ortswunschangaben sowie die Beschränkung der
Bewerbung auf sechs Studienorte verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen
ließen, jedoch die Abiturbestenquote keinen verfassungsrechtlichen Bedenken
begegne. Ob die Auffassung des BVerfG überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Wie
bei R. Schmidt, Grundrechte, Rn 10 ff. erläutert, fungieren die Grundrechte gemäß der Statuslehre Jellineks (Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44 ff.) nicht nur als Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Eingriffe (status negativus), sondern auch als Leistungs- bzw. Teilhaberechte (status positivus) und Mitwirkungsrechte (status activus). Zu beachten ist jedoch, dass die Grundrechte unter Berücksichtigung von Wortlaut und Funktion überwiegend nicht als Anspruchsgrundlagen konzipiert sind und dass sich nur bei einigen Grundrechten aus dem Wortlaut oder zumindest im Wege der Auslegung ein Anspruch ergibt. Art. 12 I GG ist jedenfalls im Rahmen der Berufszulassung als Teilhaberecht allgemein anerkannt.
Art. 12 I S. 2 GG enthält einen Regelungsvorbehalt i.S.e. Gesetzesvorbehalts. Dieser bestimmt, dass (lediglich) die Berufsausübung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden darf. Die Berufswahl wäre demzufolge vorbehaltlos gewährleistet. Beide Aspekte der Berufsfreiheit lassen sich in der Praxis jedoch nicht immer trennen, sodass von einem einheitlichen Grundrecht der Berufsfreiheit ausgegangen werden muss. Daher ist es nur konsequent, den Regelungsvorbehalt des Art. 12 I S. 2 GG auch auf Art. 12 I S. 1 GG (d.h. die Berufswahl) zu erstrecken (st. Rspr. des BVerfG seit dem Apothekenurteil BVerfGE 7, 377, 402; vgl. auch BVerfGE 102, 197, 213 f. – Öffentliche Spielbank; 104, 357 ff. – Ladenschlusszeiten für Apotheken; 105, 252, 264 ff. – Glykolwein; BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 104).
Steht demnach auch die Berufswahl unter (einfachem) Gesetzes- bzw. Regelungsvorbehalt, gilt es, Eingriffe nach diesen Maßstäben zu rechtfertigen. Mit der Formulierung „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes“ ist gemeint, dass nicht nur formelle Gesetze, sondern (auf deren Grundlage) auch nur-materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen und Satzungen als berufsregelnde Rechtsnormen in Betracht kommen. Selbst Verwaltungsakte auf der Grundlage eines der genannten Gesetze können demnach die Berufsfreiheit einschränken. Jedoch muss unter Zugrundelegung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG das ermächtigende formelle Gesetz alle für die Berufsfreiheit wesentlichen Voraussetzungen selbst regeln. Dabei gilt: Je schwerwiegender der Eingriff in die Berufsfreiheit ausfällt, desto detaillierter muss die formell-gesetzliche Regelung sein. Lediglich Randfragen der Berufszulassung und generell Fragen der Berufsausübung können der Exekutive überlassen werden (Aussage der Wesentlichkeitsrechtsprechung).
Ist die Eingriffsgrundlage danach nicht zu beanstanden, ist hinsichtlich der weiteren Prüfung der Rechtfertigung auf die vom BVerfG in seinem Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377 ff.) entwickelte Unterscheidung zwischen drei Eingriffsstufen einzugehen, wonach die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung abhängig von der Stufe sind, auf der sich der Eingriff befindet. Je höher die Stufe ist, desto höher sind die Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit. Im Überblick dargestellt, der auf R. Schmidt, Grundrechte, Rn 801 mit Verweis auf BVerfGE 7, 377, 405 ff. basiert, ergibt sich:
Subjektive und objektive Berufswahlregelungen (Zulassungsvoraussetzungen bzw. Zulassungsschranken) gewinnen insbesondere dann an Bedeutung, wenn öffentliche Ausbildungseinrichtungen durch den Staat rechtlich oder tatsächlich monopolisiert sind. Das ist insbesondere bei staatlichen Hochschulen und Universitäten, aber auch beim Vorbereitungsdienst (Referendariat) der Fall. Wie bereits erläutert, gewährt Art. 12 I GG zwar kein subjektives Recht auf Schaffung unbegrenzter Ausbildungskapazitäten. Etwas anderes gilt aber für den Fall, dass die staatliche Hochschule Leistungen (in Form der Zur-Verfügung-Stellung von Ausbildungsplätzen eines bestimmten Fachs) gewährt bzw. bereits anderen gewährt hat. Hier ist der Staat nach Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG und dem Sozialstaatsprinzip zur Gleichbehandlung verpflichtet und darf ohne sachlichen Grund Dritte nicht von der Leistungsgewährung ausschließen (derivatives Leistungsrecht bzw. Teilhaberecht, siehe R. Schmidt, Grundrechte, Rn 810). Das wurde vom BVerfG in der vorliegenden Entscheidung erneut bestätigt (BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 104 ff.). Ein sachlicher Grund besteht etwa darin, dass vorhandene Ausbildungskapazitäten erschöpft sind, wobei die öffentliche Hand die Ausbildungskapazitäten mindestens an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes ausrichten muss. Ginge man über die vorhandene Kapazität hinaus, würden zum einen die Ausbildung der anderen Studierenden gefährdet und zum anderen die Funktionsfähigkeit von Forschung und Lehre und damit die Qualität der Ausbildung in Frage gestellt werden. Für die Versagung der Zulassung ist aber aufgrund der Grundrechtswesentlichkeit stets eine formell-gesetzliche Rechtsgrundlage erforderlich (ganz h.M. seit BVerfGE 33, 303, 336 f. (erstes Numerus-clausus-Urteil); jüngst BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 116 ff.). Das Erfordernis einer formell-gesetzlichen Grundlage soll gewährleisten, dass die vor dem Hintergrund der Bedeutung der Berufswahl für die Entfaltung der Persönlichkeit sehr bedeutsame Studienplatzvergabe nicht allein der Satzungsautonomie der Hochschule überlassen bleibt (BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 116 ff.). Folgerichtig findet das Hochschulzulassungsrecht seine formell-gesetzliche Grundlage im Hochschulrahmengesetz, in den Hochschulgesetzen der Länder und in den aufgrund der Ermächtigung in den Hochschulgesetzen der Länder erlassenen Rechtsverordnungen und Satzungen. Wendet man die Drei-Stufen-Theorie an und ordnet die Zulassungsbeschränkung (aufgrund der Kontingentierung) der 3. Stufe zu (so BVerfGE 33, 303, 338 – erstes Numerus-clausus-Urteil), ist diese materiell-rechtlich gerechtfertigt, wenn sie dem Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsguts dient und nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten angeordnet wird. Darüber hinaus müssen Auswahl der Bewerber und Verteilung der Studienplätze nach sachgerechten Kriterien erfolgen, damit jeder Studienbewerber die gleiche Chance für das Studium erhält (BVerfGE 33, 303, 338, 345 ff.; 43, 291, 314 ff.; BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 116 ff.).
Dem Urteil des BVerfG liegt folgender Sachverhalt
zugrunde: Der Studiengang Humanmedizin ist deutschlandweit zugangsbeschränkt. Die Zahl der Studienplatzbewerber übersteigt die Zahl der verfügbaren Plätze für Studienanfänger um ein Vielfaches. Die Vergabe der Studienplätze ist durch das Hochschulrahmengesetz des Bundes und einen zwischen den Ländern geschlossenen Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung geregelt, der durch Gesetze der Länder in Landesrecht umgesetzt worden ist. Im Rahmen des Erfordernisses einer Abiturbestnote müssen Bewerber bei der Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) angeben, an welchen Orten sie am liebsten studieren würden; diese Ortspräferenz ist auf sechs Studienorte begrenzt. Wer danach eine „falsche“ Ortsangabe wählt, kann also „leer ausgehen“, obwohl er an sich alle Voraussetzungen erfüllt. Ob das mit Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG (hier: Recht auf gleiche Teilhabe) vereinbar ist, darf bezweifelt werden.
Lösungsgesichtspunkte:
Geht es um die Vergabe von kontingentierten Studienplätzen (etwa im Studienfach der Humanmedizin), muss – mit Blick auf den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG – der parlamentarische Gesetzgeber die bezüglich der Vergabe von Studienplätzen wesentlichen Fragen selbst regeln und die Auswahlkriterien der Art nach selbst festlegen. Allerdings hat das BVerfG ebenso entschieden, dass er den Hochschulen gewisse Spielräume für die Konkretisierung der gesetzlich festgelegten Kriterien lassen dürfe, anhand derer etwa die Eignung von Studienbewerberinnen und -bewerbern beurteilt werden soll. Das folge aus Art. 5 III S. 1 Var. 2 GG, der den Hochschulen das Recht gewähre, ihren Studiengang nach eigenen wissenschaftlichen Kriterien zu prägen und dabei eigene Schwerpunkte zu setzen. Eine solche – begrenzte – Konkretisierungsbefugnis der Hochschulen bestehe insbesondere in den Ausgestaltungsmöglichkeiten hochschuleigener Eignungsprüfungen, die im Rahmen der Auswahlverfahren der Hochschule durchgeführt werden dürften (fachspezifische Studier-fähigkeitstests und Auswahlgespräche). Allerdings verlange der Gesetzesvorbehalt insoweit gesetzliche Sicherungen dafür, dass die Hochschulen Eignungsprüfungen in standardisierten und strukturierten Verfahren durchführen. Dabei genüge es, wenn der Gesetzgeber die Hochschulen zu einer transparenten eigenen Standardisierung und Strukturierung verpflichte, auch um der Gefahr diskriminierender Anwendung vorzubeugen. Der Gesetzgeber müsse gewährleisten, dass in den hochschuleigenen Studierfähigkeitstests und Auswahlgesprächen nur die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber geprüft werde. Die den Hochschulen eingeräumte Konkretisierungsbefugnis dürfe sich dabei ausschließlich auf die – auch im Lichte der fachlichen Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung unter Einbeziehung hochschulspezifischer Profilbildungen zu beurteilende – Eignung der Bewerberinnen und Bewerber beziehen. Das Kriterium der Abiturbestenquote begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Orientiere sich die Vergabeentscheidung aber (maßgeblich) an den Ortswunschangaben und beschränke die Bewerbung auf sechs Studienorte, verletze dies Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG (siehe BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 120 ff.). Diese Grundrechtsverletzung führe aber nicht zur Nichtigkeit der betreffenden bundes- und landesgesetzlichen Vorschriften zur Studienplatzvergabe, sondern es genüge eine Unvereinbarkeitserklärung. Denn zum einen habe der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, und zum anderen würde durch eine Nichtigkeitserklärung ein Zustand geschaffen, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung. Gesetzliche Neuregelungen seien aber bis zum 31.12.2019 zu schaffen. Bis dahin dürften die gegenwärtigen Bewerbungs- und Auswahlverfahren weiterlaufen (BVerfG 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 Rn 252 f.).
Bewertung:
Dem Urteil ist insoweit zuzustimmen, als es die maßgebliche Orientierung der Vergabeentscheidung an den Ortswunschangaben sowie die Beschränkung der Bewerbung auf sechs Studienorte für verfassungswidrig erachtet. Abzulehnen ist das Urteil jedoch insoweit, als es die Abiturnote als Zulassungskriterium nicht in Frage stellt. Zwar mag es sein, dass Abiturbestnoten eine gute Prognose für den Studienerfolg liefern, allerdings sagen Abiturbestnoten sicherlich nichts darüber aus, ob jemand ein guter Arzt bzw. eine gute Ärztin wird. Wie bereits bei R. Schmidt, Grundrechte, 22. Auflage formuliert, sind Zweifel angebracht, ob das Abhängigmachen eines Studienplatzes von einer bestimmten Abiturnote das richtige Mittel ist. Vom Verfasser wurde aufgeworfen, dass alternativ an eine universitäre Zugangsprüfung zu denken wäre, die neben kognitiven und berufsspezifischen Aspekten auch sog. Soft Skills berücksichtigt. Infolge des nunmehr ergangenen BVerfG-Urteils dürfte sich der Gesetzgeber dem annähern.
R. Schmidt
(20.12.2017)
17.12.2017: "Abgestufte" Garantenstellung bei familiären Beziehungen
BGH, Beschl. v. 2.8.2017 – 4 StR 169/17 (NJW 2017, 3609)
Mit Beschluss vom 2.8.2017 hat der 4. Strafsenat des BGH hinsichtlich der Frage nach dem Vorliegen einer Garantenstellung bei einer Eltern-Kind-Beziehung entschieden, dass sie in Abhängigkeit von der interfamiliären Rollenverteilung
stehe. Folgt man dem, hängt die Reichweite der Garantenpflicht von den konkreten Umständen ab. Ob die Auffassung des BGH überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Nach § 13 I StGB ist eine Person trotz Nichthandelns strafbar, wenn sie „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine bestimmte Person eine besondere, über die allgemeine Solidarpflicht des § 323c I StGB hinausgehende Schutzpflicht gegenüber einer anderen Person hat. Man spricht von Garantenstellung bzw. -pflicht des Unterlassungstäters (vgl. nur BGHSt 39, 392, 399 f.; BGH NJW 2000, 3013, 3014; NStZ 2015, 150; NJW 2017, 2052, 2053 f.; NJW 2017, 3609, 3610). Welche konkreten Anforderungen an diese Voraussetzung zu stellen sind, geht aus dem Gesetzestext des § 13 I StGB jedoch nicht hervor. Mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) und die Gleichstellung mit einem Begehungsdelikt wird aber deutlich, dass eine enge Auslegung erforderlich ist.
Begründung einer Garantenstellung: Eine Garantenstellung kann sich aus dem Gesetz, aus Vertrag bzw. tatsächlicher Gewährübernahme, aus vorangegangenem gefährdendem Verhalten (Ingerenz) oder engen Lebensbeziehungen ergeben (vgl. nur BGHSt 2, 150, 153; 19, 167, 168; BGH NStZ 1999, 607; NJW 2002, 1887, 1888; NStZ 2003, 141 ff.; NJW 2003, 3212, 3213; NStZ 2017, 401; NJW 2017, 3609, 3610).
Andere fragen danach, ob dem Täter besondere Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter obliegen, d.h., ob er diese vor jeglichen Gefahren zu beschützen hat (Beschützergarantien/Obhutspflichten) oder ob dem Täter die Verantwortung für bestimmte Gefahrenquellen obliegt, d.h., ob er dafür zu sorgen hat, dass niemand anderes durch sie zu Schaden kommt (Überwachungsgarantien/Sicherungspflichten) (vgl. nur Sch/Sch-Stree/Bosch, § 13 Rn 8 ff.; SK-Rudolphi, § 13 Rn 21 ff.; Roxin, AT II, § 31 Rn 4; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn 1005 ff.; Gropp, AT, § 11 Rn 42 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV; Kühl, JuS 2007, 497, 500 und JA 2014, 507, 510. Vgl. auch BGH NStZ 2012, 319, 320; NJW 2016, 176, 177; NStZ 2017, 401.).
Unabhängig von diesen unterschiedlichen dogmatischen Ansätzen muss sich die für § 13 I StGB erforderliche Rechtspflicht aus einem rechtlich anerkannten Grund herleiten lassen; der Unterlassungstäter muss die Rechtspflicht gehabt haben, den Erfolg abzuwenden. Diese sog. Garantenstellung bzw. -pflicht kann sich insbesondere aus Rechtssätzen ergeben. In Bezug auf familienrechtliche Rechtsbeziehungen gehören zu diesen Rechtssätzen bspw. §§ 1353 ff. BGB (Beistandspflicht in der Ehe ), §§ 1626, 1626a und 1631 BGB (elterliche Sorge), § 1618a BGB (Schutzpflicht von Kindern gegenüber Eltern), §§ 1793, 1800 BGB (Sorgerecht und Personensorge des Vormunds) und § 2 LPartG (Personensorge des Lebenspartners). Diese familienrechtlichen Vorschriften bilden Wertemaßstäbe, die auch bei der Konkretisierung strafrechtlicher Einstands- bzw. Garantenpflichten Wirkung entfalten (siehe BGH NJW 2017, 3609, 3610 in Bezug auf § 1618a BGB, nach der hier vertretenen Auffassung aber verallgemeinerungsfähig).
Aber auch ohne spezielle familienrechtliche Rechtssätze können sich Garantenpflichten aus rechtlich fundierten familienrechtlichen Beziehungen ableiten. Solche Beziehungen können insbesondere unter Verwandten gerader Linie, Geschwistern und Verlobten bestehen. Insoweit ist diese Fallgruppe größtenteils identisch mit der ersten (so müssen sich nicht nur Ehegatten untereinander, sondern es müssen auch die Eltern ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern vor Gefahren schützen). Lediglich, wenn das geschriebene Familienrecht lückenhaft ist (etwa im Verhältnis von Geschwistern untereinander), gewinnt die vorliegende Fallgruppe eigenständige Bedeutung.
Unabhängig von der Einordnung in eine der beiden familienrechtlich orientierten Fallgruppen muss aber die Reichweite der Schutzpflicht vom Einzelfall abhängig gemacht werden. Sie wird maßgeblich insbesondere vom Alter, vom Gesundheitszustand, von den Lebensumständen und dem Zusammenleben der betroffenen Personen bestimmt (BGH NJW 2017, 3609 f.).
Abgesehen von der Einordnung der familienrechtlichen Beziehung in eine der beiden Fallgruppen stellt sich Frage, ob eine effektive Familiengemeinschaft erforderlich ist oder ob eine Garantenpflicht auch dann angenommen werden kann, wenn sich die betreffenden Personen bspw. auseinandergelebt haben oder – im Extremfall – noch nie einander begegnet sind. Mithin geht es um die Frage, ob allein die formale familienrechtliche Stellung ohne Rücksicht auf die persönliche Beziehung eine Garantenpflicht begründet. Während die überwiegende Lehre differenziert und annimmt, dass zumindest Verwandte gerader Linie bei akuten Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit gegenseitigen Schutz und Beistand auch dann schuldeten, wenn sie schon lange nicht mehr zusammenlebten (so Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn 1008; Sch/Sch-Stree/Bosch, § 13 Rn 17 ff.; LK-Weigend, § 13 Rn 26), hat der BGH die Frage nach dem Erfordernis einer effektiven Familiengemeinschaft bislang ausdrücklich offengelassen, weil in den zu entscheidenden Fällen das Verhältnis der Betreffenden über die rein formale familiäre Beziehung hinaus sowohl von besonderer räumlicher als auch persönlicher Nähe geprägt war (siehe BGH NStZ 2017, 401 und BGH NJW 2017, 3609). Nach der hier vertretenen Auffassung begründen die o.g. familienrechtlichen Rechtssätze jedenfalls dann eine Garantenpflicht (und zwar unabhängig davon, ob die Familiengemeinschaft effektiv gelebt wird), wenn es um ein direktes Abstammungsverhältnis geht, also bei Verwandtschaft gerader Linie i.S.d. § 1589 S. 1 BGB (Großeltern-Eltern-Kinder-Kindeskinder und umgekehrt). Bei Ehegatten bzw. Lebenspartnern nach dem LPartG untereinander (§ 1353 BGB, § 2 LPartG) und bei Verwandten der Seitenlinie, also bei Personen, die gemeinsam von einer dritten Person abstammen (§ 1589 S. 2 BGB) wie z.B. Geschwister, Vetter, Cousine, Onkel und Tante, sollte man eine Garantenstellung nur dann annehmen, wenn eine Nähebeziehung tatsächlich besteht. Der Vorteil dieses Standpunkts besteht in der klaren Vorhersehbarkeit des Bestehens einer Garantenpflicht durch die Betroffenen und ist damit Ausdruck des verfassungsrechtlich verankerten Be-stimmtheitsgebots gem. Art. 103 II GG.
Sollte eine Garantenstellung demnach zu verneinen sein, ist der Unterlassungstäter gleichwohl nicht (zwingend) straflos. Es bleibt stets die Möglichkeit der Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c I StGB).
Dem hier zu besprechenden Beschluss des BGH lag folgender Sachverhalt
zugrunde (leicht abgewandelt, um die Problematik zu fokussieren): T leidet an Epilepsie, wodurch es in der Vergangenheit – insbesondere in Stresssituationen – wiederholt zu schweren epileptischen Anfällen kam. Krankheitsbedingt besteht bei ihm eine organische Wesensänderung mit leichten hirnorganischen Defiziten. Sein Denken und Handeln sind verlangsamt; das Umstellen auf neue geistige Inhalte ist ihm erschwert. Auch aus diesem Grund hielten die Eheleute M und F ihren Sohn T, der seit einigen Jahren eine eigene Wohnung (im Hause der Eltern) bewohnt, jedoch regelmäßig zwei- bis dreimal pro Woche seine Eltern besuchte, bewusst aus allen familiären und persönlichen Problemen heraus. So bekam T auch nicht mit, dass bei F u.a. eine anhaltende wahnhafte Störung mit hypochondrischen Inhalten diagnostiziert wurde. Auch M´s fortschreitende Demenz blieb ihm unbekannt. Entgegen der zwischen den Eheleuten getroffenen Vereinbarung versorgte der M seine inzwischen bettlägerige Frau in den letzten vier Wochen vor ihrem Tod weder ausreichend mit Nahrung und Flüssigkeit noch nahm er bei ihr die Körperpflege oder eine medizinische Versorgung vor. T wusste zwar, dass seine Mutter bettlägerig war, bei seinen Besuchen war das Zimmer der M aber stets abgedunkelt, weil sie ausge-schaltetes Licht und zugezogene Vorhänge wünschte. Zuletzt besuchte T seine Mutter am Vorabend ihres Todes. Zu diesem Zeitpunkt lag sie bereits in ihren eigenen Fäkalien. Der hiervon und von den Liegegeschwüren ausgehende Geruch wurde von T wahrgenommen. Spätestens jetzt erkannte er den lebensbedrohlichen Zustand und die Hilfsbedürftigkeit seiner Mutter. Dennoch unterließ er es, die gebotene ärztliche Hilfe herbeizuholen. Hierbei war ihm bewusst, dass seine Mutter versterben könnte. Er nahm diese – von ihm nicht erwünschte – Folge billigend in Kauf. Zum Zeitpunkt ihres Todes wog M nur noch 29 kg; sie verstarb an den Folgen ihrer Lungenentzündung, die sie sich einige Tage zuvor infolge ihrer Bettlägerigkeit und ihres geschwächten Gesamtzustands zugezogen hatte. Es war nicht mehr feststellbar, ob durch ärztliche Maßnahmen am Vortag eine Rettung noch möglich gewesen wäre.
Lösungsgesichtspunkte:
T könnte sich wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben. Fraglich ist allein die für § 13 I StGB erforderliche Garantenstellung bzw. -pflicht. Lässt man die formale Stellung als Sohn (§ 1589 S. 1 BGB) genügen, muss man die Garantenstellung bzw. -pflicht ohne weiteres bejahen. Fordert man hingegen eine effektive Familiengemeinschaft zwischen T und M, ist die Garantenstellung bzw. -pflicht des T zweifelhaft. Obwohl einiges dafür spricht, bei Verwandten gerader Linie eine formale Stellung (i.S.d. § 1618a BGB) genügen zu lassen, kann die Frage dahinstehen, wenn man vorliegend eine effektive Familiengemeinschaft bejaht.
Der BGH hat festgestellt, dass das Verhältnis des T zu seinen Eltern über die rein formale familiäre Beziehung hinaus sowohl von besonderer räumlicher als auch persönlicher Nähe geprägt gewesen sei. T habe im selben Wohnhaus unmittelbar neben seinen Eltern gewohnt und diese mehrmals in der Woche besucht; zudem habe es keine Anzeichen einer Zerrüttung des Verhältnisses zwischen T und seinen Eltern gegeben. Im Hinblick auf die geschuldete familiäre Solidarität habe diese enge innerfamiliäre Beziehung – jedenfalls bei dem vorliegend festgestellten Eintritt einer Lebensgefahr, der denkbar schwersten Rechtsgutsgefährdung – eine Einstandspflicht ausgelöst. Anhaltspunkte dafür, dass T aufgrund seiner Erkrankung in objektiver Hinsicht nicht in der Lage gewesen sei, dieser Erfolgsabwendungspflicht nachzukommen, seien nicht erkennbar.
Der BGH merkt jedoch an, dass M der F nähergestanden habe und daher ihn eine vorrangige Erfolgsabwendungspflicht getroffen habe. Allerdings führe die aus der klaren Rollenverteilung folgende vordringliche Verantwortlichkeit des M nicht zu einer gänzlichen Befreiung des T von seinen Schutzpflichten. Vielmehr habe ihn aufgrund des dargelegten und fortbestehenden Näheverhältnisses zu seinen Eltern eine uneingeschränkte Erfolgsabwendungspflicht getroffen, als M aufgrund seiner demenziellen Erkrankung nicht mehr in der Lage gewesen sei, auf den lebensbedrohlichen Zustand seiner Ehefrau angemessen zu reagieren, und somit als (vorrangiger) Garant ausgefallen sei.
Stellungnahme:
Letztlich folgt aus den Ausführungen des BGH, dass T keine Erfolgsabwendungspflicht i.S.d. § 13 I StGB getroffen hätte, wenn M nicht dement gewesen wäre. Da T aber die Demenz seines Vaters nicht kannte, entschied somit – vom Standpunkt des BGH aus – der Zufall über die Garantenstellung bzw. -pflicht des T. Die BGH-Entscheidung kann daher insoweit nicht überzeugen. Sie kann aber auch insofern nicht überzeugen, als der BGH aufgrund der Rollenverteilung in der Familie eine vordringliche Verantwortlichkeit des M annimmt und bei T eine Garantenstellung nur deswegen anzunehmen vermochte, weil M seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Die damit angenommene „subsidiäre“ Garantenstellung vermag nicht zu überzeugen. Hat der Täter eine Garantenstellung aus einem familienrechtlichen Rechtssatz, kann diese nicht gegenüber anderen Garanten nachrangig sein. Die BGH-Entscheidung ist daher auch aus diesem Grund abzulehnen.
Gleichwohl ist das Ergebnis der Entscheidung richtig, da der BGH letztlich eine Garantenstellung annimmt. Richtig ist auch die st. Rspr. des BGH, wonach der Vorsatz des Täters beim unechten Unterlassungsdelikt sämtliche tatsächlichen Umstände erfassen muss, die seine Garantenstellung begründen, und daraus folgend, dass der Vorsatz nicht ohne weiteres bejaht werden darf, sondern die Feststellung seines (Nicht-)Vorliegens einer genauen Prüfung bedarf (siehe BGH NJW 2017, 3609, 3610 m.w.Nachw.). Deswegen ist es vorliegend möglich, dass T sich trotz gegebener Garantenstellung mangels Vorsatzes nicht wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht hat, sondern lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c I StGB).
Ob T wegen seiner Erkrankung vermindert schuldfähig i.S.d. § 21 war oder ob die Strafbarkeit wegen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung der F zu verneinen ist, geht aus dem Sachverhalt nicht hervor.
R. Schmidt
(17.12.2017)
20.8.2017: Nochmalige Ausweitung des "Rücktrittshorizonts"
BGH, Beschl. v. 7.3.2017 - 3 StR 501/16 (NStZ 2017, 459)
Mit Beschluss vom 7.3.2017 hat der 3. Strafsenat des BGH hinsichtlich der Frage nach dem Vorliegen eines beendeten oder unbeendeten Versuchs entschieden, dass diese bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung bedürfe, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu vom Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig sei, die geeignet seien, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt. Ein solcher Umstand könne geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs getan zu haben. Damit weitet der 3. Senat die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des BGH nochmals aus. Ob die Auffassung des BGH überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage: Nach der gesetzlichen Formulierung in § 24 I S. 1 StGB wird nicht wegen Versuchs bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Ist der Versuch aber fehlgeschlagen, scheidet ein strafbefreiender Rücktritt stets aus. Fehlgeschlagen ist der Versuch, wenn der Täter (nach der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung) davon ausgeht, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln den tatbestandlichen Erfolg nicht oder zumindest nicht ohne zeitlich relevante Zäsur oder nur mit einer grundlegenden Änderung des ursprünglichen Tatplans herbeiführen kann (st. Rspr. des BGH, vgl. nur BGH NStZ 2016, 720; NStZ 2016, 207, 208; NStZ 2015, 571; NStZ 2015, 331; NStZ 2015, 26; NStZ 2014, 634; NStZ-RR 2014, 9 f.; NStZ 2013, 705 f.; NStZ 2013, 156, 157; NStZ-RR 2012, 239, 240; NStZ 2011, 629). Das Abstellen auf die Tätersicht hat seinen Grund darin, dass der Rücktritt das Spiegelbild des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung darstellt und dass es auch hier entscheidend auf die Lagebeurteilung aus Tätersicht ankommt (dazu R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Auflage 2017, Rn. 706).
Besondere Schwierigkeiten bereitet bei der Frage nach dem fehlgeschlagenen Versuch die Konstellation, in der dem Täter nach einem erfolglosen (fehlgeschlagenen) ersten Versuch noch weitere Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung zur Verfügung stehen, er von diesen jedoch absieht. Auch hier könnte man annehmen, der Versuch sei insgesamt noch nicht fehlgeschlagen und der Täter freiwillig (und damit strafbefreiend) vom Versuch zurückgetreten. Stellt man allein auf den ersten erfolglosen Tötungsversuch ab (sog. Einzelaktlösung), ist das Geschehen damit wertungsmäßig zu Ende und der Versuch ist fehlgeschlagen. Ein strafbefreiender Rücktritt (etwa durch Absehen von weiteren Tathandlungen) ist ausgeschlossen. Die Einzelaktlösung wird überwiegend abgelehnt. Sie führe zu einer unangemessenen Rücktrittsbeschränkung. Denn könne der Täter nach dem ersten misslungenen Versuch ohnehin nicht mehr strafbefreiend zurücktreten, sei ihm kein Anreiz gegeben, von weiteren Tatausführungshandlungen abzusehen. Dann könne er die Tat auch zu Ende führen, etwa um das Opfer als späteren Tatzeugen zu beseitigen. Darüber hinaus reiße sie einen einheitlichen Lebensvorgang auseinander. Sie sei daher abzulehnen. Ganz herrschend (v.a. von der Rechtsprechung) wird daher auf die sog. Gesamtbetrachtung abgestellt ("Rücktrittshorizont" - dazu R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Auflage 2017, Rn. 713): Danach ist der Versuch nicht fehlgeschlagen, wenn es dem Täter nach Abschluss der letzten tatbestandlichen Ausführungshandlung (BGH NStZ-RR 2014, 202) aus seiner Sicht möglich ist, die Tat auf eine andere Weise und ohne zeitlich relevante Unterbrechung (Zäsur) doch noch zu vollenden, er aber von weiteren Ausführungshandlungen ablässt und dadurch den Erfolgseintritt verhindert.
Mit den Worten des BGH ausgedrückt: Der Täter kann von der Tat insgesamt mit strafbefreiender Wirkung zurücktreten, wenn das Geschehen aus seiner Sicht nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung als ein einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint, d.h. einen einheitlichen Lebensvorgang im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit darstellt (BGH NStZ 2016, 207, 208; BGH StraFo 2009, 78 f.; NStZ 2008, 393, 394 f.; NStZ 2007, 399; NStZ 2005, 263, 264 f.; BGHSt 41, 368; 43, 381, 387. Vgl. auch BGH 17.11.2016 – 3 StR 402/16 - dazu R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Auflage 2017, Rn. 197a Bsp. 3; BGH 23.11.2016 – 4 StR 471/16).
Insgesamt ist die Gesamtbetrachtung also (sehr) rücktrittsfreundlich. Ob zur Straffreiheit dann das freiwillige Aufgeben weiterer Tathandlungen genügt (vgl. § 24 I S. 1 Var. 1 StGB) oder aber der Täter dem Erfolgseintritt aktiv gegensteuern muss (vgl. § 24 I S. 1 Var. 2 StGB), hängt davon ab, ob der Versuch unbeendet oder beendet ist (dazu R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Auflage 2017, Rn. 713).
Zwischenfazit und Bewertung: Stellt man (mit dem BGH) auf eine Gesamtbetrachtung (den Rücktrittshorizont) ab, ist der Versuch nicht fehlgeschlagen, wenn es dem Täter nach Abschluss der letzten tatbestandlichen Ausführungshandlung aus seiner Sicht möglich ist, die Tat auf eine andere Weise und ohne zeitlich relevante Unterbrechung (Zäsur) doch noch zu vollenden, er aber freiwillig von weiteren Ausführungshandlungen ablässt und dadurch den Erfolgseintritt verhindert. Dann tritt er strafbefreiend vom Versuch zurück.
Indem der BGH also auf eine Gesamtbetrachtung des Geschehensablaufs abstellt, entscheidet er sehr rücktrittsfreundlich, d.h. er nimmt einen strafbefreienden Versuch allein durch bloße Tataufgabe an.
Hier wird aber auch die Schwäche des Rücktrittshorizonts deutlich, da es oft vom Zufall abhängt, ob der erste Angriffsakt zum Erfolgseintritt führt oder nicht. Schlägt bspw. der Täter dem Opfer mit einer 1,6 kg schweren Sektflasche auf den Kopf (siehe den Fall BGH NJW 2016, 2129 - 1. Senat) und führt dieser Schlag den Tod herbei, wäre der Täter wegen eines vollendeten Tötungsdelikts strafbar. Überlebt das Opfer diesen Schlag aber und verzichtet der Täter auf weitere Ausführungshandlungen, soll er auf der Basis der Gesamtbetrachtung strafbefreiend vom Tötungsversuch zurückgetreten sein. Ob die vollendete gefährliche Körperverletzung (hier: §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Var. 2, Nr. 5 StGB) diese Folge kompensiert, darf bezweifelt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Strafsenate des BGH bei der Frage, ob im konkreten Fall ein einheitliches Geschehen bzw. eine zeitliche Zäsur vorliegt, unterschiedlich und nicht immer überzeugend entscheiden. So entscheidet der 5. Senat sehr rücktrittsfreundlich, indem er konstatiert, dass ein strafbefreiender Rücktritt selbst dann in Betracht komme, wenn bei einem versuchten Tötungsdelikt der Täter (hier: ein Messerstecher) zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, jedoch in engstem und räumlichem Zusammenhang nach Erkenntnis seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt. Dann liege ein unbeendeter Versuch vor, der zum strafbefreienden Rücktritt führen könne (BGH NStZ 2012, 688, 689 – mit Verweis auf den 3. Senat BGH NStZ-RR 2012, 106). Und in seinem Urteil v. 22.10.2013 gelangt der 5. Senat, nachdem er einen Fehlschlag verneint hat und so zur Anwendbarkeit des § 24 gelangt ist, sogar zu einem unbeendeten Versuch, von dem der Täter freiwillig zurückgetreten sei (BGH NStZ-RR 2014, 9 f.). Und der 4. Senat nimmt sogar eine „Korrektur“ des Rücktrittshorizonts an, wenn auf dessen Grundlage ungerechte Ergebnisse erzielt würden. So sei der Versuch eines Tötungsdelikts auch dann nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber „nach alsbaldiger Erkenntnis seines Irrtums“ von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (BGH NStZ 2014, 569 f.). Gleiches gelte, wenn der Täter nach gescheiterten Angriffsakten die Ausführung der Tat – wenn auch mit anderen Mitteln – noch für möglich halte. Auch dann sei der Verzicht auf ein Weiterhandeln als freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch zu bewerten (BGH NStZ 2015, 26, 27). Siehe dazu R. Schmidt, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Aufl. 2017, Rn. 714b/714c.
Insgesamt schafft sich damit der 4. Senat in zeitlicher und räumlicher Hinsicht (flexible) Beurteilungsspielräume, um selbst bei längerer Unterbrechung des Tatgeschehens (vgl. BGH NStZ 2010, 146) oder größerer Entfernung vom Tatort noch einen unbeendeten Versuch annehmen zu können. Auch der 2. Senat geht davon aus, dass der Rücktrittshorizont einer „gewissen Beweglichkeit“ zugänglich ist (BGH NStZ-RR 2015, 106). Opferschutz sowie Rechtssicherheit, die ebenfalls Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips sind, sind damit – wie ausgeführt – nicht gegeben.
Vermitteln die bisher erörterten, überaus rücktrittsfreundlichen Entscheidungen des BGH ein Unbehagen, dürfte ein solches erst recht durch die hier besprochene Entscheidung des 3. Senats (BGH NStZ 2017, 459) gegeben sein. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Sachverhalt
(leicht abgewandelt, um die Problematik zu fokussieren): Der alkoholabhängige T legte sich nach dem Genuss größerer Mengen Bier und der Einnahme von Medikamenten gegen 15.00 Uhr in der Wohnung des O schlafen. Gegen 0.20 Uhr wachte er von der Lautstärke des Fernsehers auf, den O in Betrieb hatte. Es kam zwischen T und O zu einem Streit wegen der Lautstärke, der eskalierte und in eine tätliche Auseinandersetzung mit Faustschlägen mündete. Nach einigen Faustschlägen gegen den Kopf des O ergriff T eine zwei bis drei Kilogramm schwere Personenwaage und schlug damit mehrfach mit großer Wucht auf den Kopf des O, wobei er dessen Tod für möglich hielt und billigte. Sodann ergriff er einen etwa 250 Gramm schweren Hammer, mit dem er kraftvoll auf den Kopf des O schlug. Nachdem sich bereits nach dem ersten Schlag der Hammerkopf vom Stiel gelöst hatte, nahm T ein Brotmesser mit einer Klingenlänge von 17,5 cm, mit dem er in der Absicht, O zu töten, diesem einen etwa 20 cm langen Schnitt am Hals vom rechten Ohr bis in die Mitte der linken Halsseite beibrachte. Obwohl er versuchte, den Schnitt tief in den Hals zu führen, drang die Messerklinge aufgrund der gebeugten Kopfhaltung des O nur schräg in die Haut ein, wo sie zwar eine stark blutende klaffende Wunde verursachte, aber keine größeren Gefäße verletzte. Trotz der Verletzungen bestand für O (zunächst) keine konkrete Lebensgefahr.
Obwohl T die Fortführung der Verletzungshandlungen weiterhin möglich war, ließ er von O ab. Zu diesem Zeitpunkt hielt er es für möglich, dass O an den beigebrachten Verletzungen sterben könne. Er begab sich in die Küche und rauchte eine Zigarette. O gab währenddessen röchelnde Geräusche von sich und rief um Hilfe. Daraufhin setzte sich T, der seinen Vorsatz, O zu töten, aufgegeben hatte, neben O und drückte ihm mindestens zwei Mal ein Kissen auf das Gesicht, um die störenden Laute zu unterbinden. Dabei achtete er darauf, dass er das Kissen jeweils zurückzog, wenn er merkte, dass sich O infolge der Atemnot versteifte, um ihn wieder frei atmen zu lassen.
Bis zum Erscheinen der von Nachbarn herbeigerufenen Polizei gegen 1.10 Uhr vernahmen die Nachbarn gelegentlich Hilferufe des O. Dieser überlebte das Geschehen letztlich.
T könnte sich durch das beschriebene Verhalten wegen versuchten Totschlags (§§ 212 I, 22, 23 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 I Nr. 2 Var. 2, Nr. 5, 22, 23 StGB) strafbar gemacht haben. Stellt man zunächst allein auf den Tötungsversuch ab, liegen die strafbarkeitsbegründenden Voraussetzungen vor (diese müssten in der Fallbearbeitung geprüft werden). Fraglich ist allein, ob T durch das Aufgeben weiterer Angriffe strafbefreiend vom Tötungsversuch zurückgetreten ist. Ob zur Straffreiheit das freiwillige Aufgeben weiterer Tathandlungen genügt (vgl. § 24 I S. 1 Var. 1 StGB) oder aber der Täter dem Erfolgseintritt aktiv gegensteuern muss (vgl. § 24 I S. 1 Var. 2 StGB), hängt davon ab, ob der Versuch unbeendet oder beendet ist.
Geht man mit der Vorinstanz, dem LG Stade, davon aus, dass sich T im Augenblick des Verzichts auf eine mögliche Weiterführung der Tat keine Vorstellung von den Folgen seines bisherigen Verhaltens machte, war der Tötungsversuch des T beendet und er konnte nicht mehr strafbefreiend vom Tötungsversuch zurücktreten. Nach Auffassung des 3. Senats, der der Sachrüge des T stattgab, hat das LG jedoch die vom BGH „zur Korrektur des Rücktrittshorizonts“ entwickelten Rechtsgrundsätze nicht beachtet. Nach diesen Rechtsgrundsätzen bedürfe es bei der Frage, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorliegt, bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu vom Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt (BGH NStZ 2017, 459).
Ausgehend von dieser Prämisse liegt im vorliegenden Fall nach Auffassung des 3. Senats die Annahme eines unbeendeten Versuchs nahe, da – anders als zunächst von T angenommen – O nicht alsbald an den mit Tötungsvorsatz beigebrachten Verletzungen verstarb, sondern noch zu Hilferufen in der Lage war, und sich sein – tatsächlich nicht konkret lebensbedrohlicher – Zustand eine geraume Zeitspanne, in der T die Lebenszeichen vernehmen konnte, nicht wesentlich verschlechterte. Daher erscheine es jedenfalls als möglich, dass T im Zeitraum nach der letzten Ausführungshandlung bis zum Eintreffen der Polizei nicht mehr davon ausging, O tödlich verletzt zu haben (BGH NStZ 2017, 459, 460).
Der BGH stellt also offenbar darauf ab, dass sich der Zustand des (im Übrigen wehrlosen) O (aus Sicht des T) nicht verschlechterte und T daher davon ausgehen durfte, noch nicht alles zur Verwirklichung des Tötungstatbestands Erforderliche getan zu haben.
Bewertung:
Der Standpunkt des 3. Senats ist wertungsmäßig sehr befremdlich, aber Resultat der „Korrektur des Rücktrittshorizonts“. Freilich ist diese Annahme nur möglich, wenn man von einer natürlichen Handlungseinheit des Geschehensablaufs ausgeht. Anderenfalls wäre auch vom Standpunkt des 3. Senats aus der Versuch zum Zeitpunkt der Beendigung der Messerattacke beendet gewesen. Nach der hier vertretenen Auffassung war der Tötungsversuch zum Zeitpunkt der Messerattacke durchaus beendet. Denn als T versuchte, den Schnitt tief in den Hals zu führen, musste er davon ausgehen, alles Erforderliche getan zu haben, um den Tod des O herbeizuführen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass das Eindringen eines Brotmessers mit einer Klingenlänge von 17,5 cm in den Hals eine akute Lebensgefahr mit sich bringt. Es war reiner Zufall, dass der Stich in den Hals nicht zum Erfolg führte, was bei der Frage nach dem beendeten Versuch nicht unberücksichtigt bleiben darf. Dass O den Messerstich in den Hals zufällig überlebte, kann T nicht derart entlasten, ihn vom Tötungsversuch freizusprechen.
Auch bei einer Gesamtbetrachtung (Rücktrittshorizont) befand sich T somit im Stadium des beendeten Versuchs. Auf das Nachtatgeschehen kann es daher nicht mehr ankommen. Für den strafbefreienden Rücktritt genügte also – entgegen der Ansicht des 3. Senats – nicht das bloße Absehen von weiteren Angriffshandlungen. T hätte freiwillig die Vollendung der Tat verhindern (§ 24 I S. 1 Var. 2 StGB) oder sich zumindest freiwillig und ernsthaft um die Verhinderung der Vollendung (§ 24 I S. 2 StGB) bemühen müssen.
Ergebnis:
Entgegen der Auffassung des 3. Senats hat sich T durch das beschriebene Verhalten wegen versuchten Totschlags (§§ 212 I, 22, 23 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 I Nr. 2 Var. 2, Nr. 5, 22, 23 StGB) strafbar gemacht.
R. Schmidt (20.8.2017)
26.7.2017: Neues zu illegalen Straßenrennen (§ 315d StGB)
A. Der „Berliner-Todesraserfall“
Mit Urteil vom 22.2.2017 (Az. 535 Ks bzw. 251 Js 52/16 8/16) hat das LG Berlin nach einem Aufsehen erregenden Prozess um die sog. “Berliner Todesraser” entschieden, dass ein Kraftfahrer, der bei einem illegalen Autorennen in einer Ortschaft (hier: Berliner Innenstadt) mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit (hier: ca. das Dreifache über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) einen anderen Menschen tötet, sich wegen Mordes in der Variante der Tötung mit einem gemeingefährlichen Mittel (§ 211 I, II Var. 7 StGB) strafbar machen könne. Ob dieses Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Strafrechtliche Ausgangslage: Um ein Tötungsdelikt nach § 212 StGB (Totschlag) bzw. Mord (§ 211 StGB) zu verwirklichen, muss der Täter subjektiv mindestens mit dolus eventualis handeln (beim Mord kommen ggf. noch subjektive Mordmerkmale hinzu). In Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit stellt der BGH in ständiger Rechtsprechung auf die sog. Billigungstheorie ab. Danach liegt dolus eventualis vor, wenn der Täter
Dagegen liegt bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, dass der als möglich angesehene Erfolg nicht eintritt (vgl. etwa BGH NStZ-RR 2016, 79, 80; NStZ 2015, 580, 581; NStZ 2015, 516; NStZ 2014, 84; NStZ 2013, 159, 160. Grundlegend BGHSt 7, 363, 368 ff. (Lederriemen-Fall); BGHSt 36, 1, 9 f. (HIV-Infizierung). Letztlich gehen diese Überlegungen auf eine Formel von Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, § 59 Anm. V, S. 182 zurück. Dort heißt es: „Kommt man zu dem Ergebnis, daß der Täter auch bei bestimmter Kenntnis gehandelt hätte, so ist der Vorsatz zu bejahen; kommt man zu dem Ergebnis, daß er bei bestimmter Kenntnis die Handlung unterlassen hätte, so ist der Vorsatz zu verneinen“ - siehe R. Schmidt, StrafR BT I, 17. Aufl. 2017, Rn. 20).
Allerdings ist diese Rechtsprechung nicht frei von Einwänden. So wird darauf hingewiesen, dass eine echte Gefahrenkenntnis unvereinbar sei mit einem Vertrauen auf einen guten Ausgang. Denn habe jemand erkannt, dass ein bestimmtes Ereignis drohe, könne er auf einen guten Ausgang nur noch hoffen, aber nicht mehr vertrauen, weil man von einem „Vertrauen“ nur dann sprechen könne, wenn man innerlich sicher sei, dass nichts geschehe (Walter, NJW 2017, 1350 ff.). Unter Zugrundelegung dieses Ansatzes ist es sicherlich richtig, die Schwäche der Rechtsprechung aufzuzeigen. Allerdings geht es bei der Frage nach der Bejahung von dolus eventualis zentral darum, dass der Täter den (für möglich gehaltenen bzw. für nicht ganz fernliegend erachteten) Taterfolg billigend in Kauf nimmt. Und dies lässt sich verneinen, wenn er davon ausgeht (nicht darauf vertraut!), der Taterfolg werde schon nicht eintreten. Folgerichtig ist bei der Frage nach der Abgrenzung zur Fahrlässigkeit das voluntative Element allein danach zu bestimmen, ob der Täter den Taterfolg billigend in Kauf genommen hat bzw. ihm gleichgültig gegenüberstand.
Fazit:
Nach der richtig verstandenen Rechtsprechung, die danach fragt, ob der Täter den für möglich gehaltenen Taterfolg billigend in Kauf genommen hat bzw. ihm gleichgültig gegenüberstand, erfolgt die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und Fahrlässigkeit also in zwei Schritten: Zuerst ist das kognitive Element zu prüfen, also danach zu fragen, ob der Täter den Eintritt des Taterfolgs für möglich gehalten hat. Erst wenn diese Frage bejaht wird, ist zu prüfen, ob der Täter den für möglich gehaltenen Erfolg „gebilligt“ oder „billigend in Kauf genommen“ hat, sich gleichwohl aber nicht von der Verwirklichung der Tat hat abbringen lassen.
Da bei der Frage nach der Abgrenzung zur Fahrlässigkeit das voluntative Element allein danach zu bestimmen ist, ob der Täter den Taterfolg billigend in Kauf genommen hat bzw. ihm gleichgültig gegenüber stand, ist – entgegen der Auffassung des LG Berlin, das im „Berliner-Todesraserfall“ mit erheblichem Argumentations- und Begründungsaufwand bedingten Tötungsvorsatz angenommen hat – nicht davon auszugehen, dass die Teilnehmer des in der Berliner Innenstadt initiierten illegalen Straßenrennens den Tod anderer billigend in Kauf genommen haben. Insbesondere tragen die vom LG angeführten maßgeblichen Argumente zum voluntativen Vorsatzelement nicht. Es mag zwar zutreffen, dass sich die Raser im „Berliner-Todesraserfall“ in ihren „tonnenschweren, stark beschleunigenden, mit umfassender Sicherheitstechnik ausgestatteten“ Autos geschützt, stark und überlegen wie in einem Panzer oder in einer Burg gefühlt haben (so die Feststellungen des LG). Wer jedoch (wie insbesondere der Hauptangeklagte, der mit dem unbeteiligten Jeep kollidierte, wodurch dessen Fahrer getötet wurde) sein Auto „liebt“ (so ebenfalls die Feststellungen des LG), riskiert nicht ohne weiteres die Beschädigung oder gar den Verlust seines Autos, und zwar auch dann nicht, wenn man sich in ihm „sicher wie in einem Panzer“ fühlt. Denn wer (kollisionsbedingt) den Tod anderer in Kauf nimmt, muss unweigerlich auch eine (stärkere) Beschädigung oder gar den Verlust seines eigenen Fahrzeugs in Kauf nehmen. Vor allem aber überzeugt es nicht, wenn das LG Berlin meint, die Fahrer hätten den Tod anderer in Kauf genommen, für sich selbst aber jegliches Risiko ausgeschlossen. Wer als Fahrer eines Kfz in Bezug auf fremde Rechtsgüter gleichgültig handelt und den Tod anderer in Kauf nimmt, wird auch für sich selbst ein Risiko sehen müssen. Die Argumentation des LG Berlin ist also nicht stimmig. Richtigerweise hätte es auf der Basis seiner Feststellungen Tötungsvorsatz ausschließen müssen.
Die Konsequenz der Bejahung bzw. Verneinung von Tötungsvorsatz liegt auf der Hand: Bei Bejahung droht eine Verurteilung auch wegen Mordes unter dem Aspekt des gemeingefährlichen Mittels (§ 211 II Var. 7 StGB). Bei Verneinung ist lediglich fahrlässige Tötung gegeben. In jedem Fall aber liegt § 315c I Nr. 2a) und Nr. 2d) StGB vor, nach der demnächst in Kraft tretenden Gesetzesänderung auch § 315d StGB.
B. Verbotene Kraftfahrzeugrennen (§ 315d StGB)
I. Übersicht
Nicht zuletzt in Reaktion auf den dargestellten „Berliner-Todesraserfall“ sah sich der Gesetzgeber berufen, Gesetzeslücken zu schließen. Um nicht erlaubte Kraftfahrzeugrennen, bei denen (auch) Unbeteiligte getötet oder schwer verletzt werden, auch strafrechtlich zu bekämpfen, beschloss der Bundestag am 29.6.2017 ein entsprechendes Gesetz, das demnächst in Kraft treten soll. Nach alter Rechtslage konnten die Ausrichtung oder Durchführung von bzw. die Teilnahme an nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen lediglich als Ordnungswidrigkeit gem. §§ 29 I, 49 II Nr. 5 StVO a.F. („übermäßige Straßenbenutzung“) i.V.m. § 24 StVG geahndet werden, sofern nicht die Voraussetzungen der §§ 315c, 211, 212, 222, 229, 223, 224, 226, 227, 303 I etc. vorliegen. Um den Schutz vor nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen schon im Vorfeld konkreter Rechtsgutsgefährdungen bzw. Rechtsgutverletzungen zu verbessern, wurden die Ausrichtung oder Durchführung von bzw. die Teilnahme an nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen durch Schaffung eines neuen Straftatbestands unter Kriminalstrafe gestellt (BT-Drs. 18/10145 zum ersten Gesetzentwurf, der später noch leicht abgewandelt und ergänzt wurde, S. 7). Hierzu führte das Gesetz einen neuen § 315d StGB ein. Der bisherige § 315d StGB (Schienenbahnen im Straßenverkehr) wurde zu § 315e StGB, dahinter wurde noch ein neuer § 315f StGB (Einziehung) eingefügt. Im Einzelnen gilt:
II. Ausrichtung oder Durchführung von oder Teilnahme an nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen
Gemäß § 315d I StGB macht sich strafbar, wer im Straßenverkehr ein nicht erlaubtes Kraftfahrzeugrennen ausrichtet oder durchführt (Nr. 1), als Kraftfahrzeugführer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen teilnimmt (Nr. 2) oder sich als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen (Nr. 3). Die Vorschrift des § 315d I StGB wirft damit folgende Aspekte auf:
III. Konkrete Gefährdung von Leib, Leben, Sachwerten (§ 315d II StGB)
Den als konkretes Gefährdungsdelikt ausgestalteten Qualifikationstatbestand des § 315d II StGB verwirklicht, wer als Teilnehmer eines nicht erlaubten Straßenrennens (§ 315d I Nr. 2 StGB) oder als jemand, der sich mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen (Nr. 3), Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. Zu den Begriffen anderer Mensch, fremde Sachen von bedeutendem Wert und konkrete Gefährdung vgl. R. Schmidt, StrafR BT I, 17. Aufl. 2017, Rn. 612 ff. Zum Zurechnungszusammenhang vgl. R. Schmidt, StrafR BT I, 17. Aufl. 2017, Rn. 618. Subjektiv ist Gefährdungsvorsatz erforderlich, wobei dolus eventualis genügt. Der Täter muss also wenigstens billigend in Kauf nehmen, dass das Ausbleiben einer Rechtsgutverletzung nur vom rettenden Zufall abhängen kann.
IV. Versuchsstrafbarkeit (§ 315d III StGB)
§ 315d III ordnet in den Fällen des § 315d I Nr. 1 StGB die Strafbarkeit des Versuchs an.
V. Fahrlässige Verursachung der Gefahr (§ 315d IV StGB)
Wer in den Fällen des § 315d II StGB die Gefahr nur fahrlässig verursacht (Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination), unterfällt dem verringerten Strafrahmen des § 315d IV StGB. Siehe dazu bereits die übertragbaren Grundsätze zu § 315c StGB bei R. Schmidt, StrafR BT I, 17. Aufl. 2017, Rn. 620 f.
VI. Erfolgsqualifikation (§ 315d V StGB)
Verursacht der Täter in den Fällen des § 315d II durch seine Tat den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen oder eine Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen, richtet sich die Straferwartung nach dem Verbrechenstatbestand des § 315d V StGB (1 Jahr bis 10 Jahre Freiheitsstrafe). Mit dieser Vorschrift trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass eine Bestrafung allein aus bspw. §§ 222 oder 229 StGB dem Unwertgehalt der Tat nicht gerecht wird. Mit „verursacht“ ist eine wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer der schweren Folgen i.S.d. § 18 StGB gemeint. Damit ist auch eine billigende Inkaufnahme einer der genannten schweren Folgen erfasst, wenngleich in einem solchen Fall auch entsprechende Vorsatzdelikte wie §§ 211 I, II Var. 7, 212, 223 I, 224 I Nr. 2 Var. 2, Nr. 5 StGB greifen. § 315d V StGB tritt dann in Idealkonkurrenz zu dem jeweils verwirklichten Vorsatzdelikt. Hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale des § 315d V StGB gilt:
Die schwere Gesundheitsschädigung setzt (in Übereinstimmung mit § 315 III Nr. 2 StGB und anderen Tatbeständen wie etwa §§ 221 I, 250 I Nr. 1c, 239 III Nr. 2 StGB) keine schwere Körperverletzung i.S.d. § 226 I Nr. 1-3 StGB voraus, sondern liegt auch bei einschneidenden oder nachhaltigen Beeinträchtigungen der Gesundheit vor, insbesondere bei langwierigen ernsthaften Erkrankungen sowie bei Verlust oder erheblicher Einschränkung im Gebrauch der Sinne, des Körpers und der Arbeitsfähigkeit (BT-Drs. 18/10145, S. 10 mit Verweis auf die in Rspr. und Lit. entwickelten Auslegungsergebnisse zu § 315 III Nr. 2 StGB). Bei dem Opfer, dessen Tod herbeigeführt oder dessen Gesundheit schwer geschädigt wurde, muss es sich um einen anderen Menschen handeln, was die Frage aufwirft, ob auch die Insassen des vom Täter gesteuerten Wagens, die nach den Regeln der §§ 26, 27 StGB Teilnehmer sind, gemeint sind (siehe dazu R. Schmidt, 17. Aufl. 2017, StrafR BT I, Rn. 615).
Das Merkmal der Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen (die nicht „schwer“ sein muss) birgt die Auslegungsschwierigkeit in sich, ab welcher Zahl man von einer „großen“ Zahl sprechen kann. Der Gesetzgeber macht hierzu (anders als zu der Auslegung des Begriffs „schwere Gesundheitsschädigung“) keine Angaben. Hinsichtlich des gleichlautenden Merkmals zu § 306b I StGB wird vom Verfasser die Mindestzahl 10 vertreten (siehe dazu R. Schmidt, StrafR BT I, 17. Aufl. 2017, Rn. 535). Angesichts der Gemeingefährlichkeit auch von nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen lässt sich diese Auslegung durchaus auf § 315d IV StGB übertragen.
VII. Minder schwere Fälle (§ 315d V a.E. StGB)
Um in Fällen geringeren Unrechts eine schuldunangemessene Strafandrohung auszuschließen, hat der Gesetzgeber eine Strafmilderung für minder schwere Fälle des § 315d V StGB vorgesehen (§ 315d V a.E. StGB: 6 Monate bis 5 Jahre Freiheitsstrafe). Der Verbrechenscharakter der Tat wird dadurch aber nicht berührt (vgl. § 12 III StGB).
VIII. Einziehung von Kraftfahrzeugen (§ 315f StGB)
Schließlich begegnet der Gesetzgeber dem von nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d I Nr. 2 StGB und/oder grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Raserei i.S.d. § 315d I Nr. 3 StGB ausgehenden hohen Gefährdungspotential mit der Möglichkeit der Einziehung von Kraftfahrzeugen, die bei einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen eingesetzt worden sind, indem er in § 315f StGB auf § 74a StGB verweist. Durch die damit geschaffene Möglichkeit der Einziehung unter erweiterten Voraussetzungen dürfen Kraftfahrzeuge, auf die sich eine Tat nach § 315d I Nr. 2 oder Nr. 3, II, IV oder V StGB bezieht, eingezogen werden, wenn diejenigen, denen diese Fahrzeuge gehören oder zustehen, wenigstens leichtfertig dazu beigetragen haben, dass ihre Kraftfahrzeuge Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen sind (§ 74a Nr. 1 StGB). Folge der Einziehung ist der Übergang des Eigentums auf den Staat (§ 75 I StGB) (Sollte es sich um Leasingfahrzeuge oder um sicherungsübereignete Kraftfahrzeuge handeln (was insbesondere bei finanzierten Kraftfahrzeugen regelmäßig der Fall ist), greift § 75 II S. 1 StGB, da die Fahrzeuge im Eigentum der Leasinggeber bzw. der Kreditinstitute stehen und damit „Rechte Dritter“ bestehen). Diese Regelung mag den betroffenen Teilnehmer zwar stark belasten, sie verstößt nach der hier vertretenen Auffassung aber gerade aufgrund des hohen Gefährdungspotentials, das mit nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen und grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Raserei verbunden ist, nicht gegen den verfassungsrechtlich verbürgten (und in § 74f StGB einfachgesetzlich konkretisierten) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
R. Schmidt (26.7.2017)
22.7.2017: Neues zum Wohnungseinbruchdiebstahl
Am 22.7.2017 ist das vom Bundestag am 17.7.2017 beschlossene 55. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs (BGBl I 2017, S. 2442) in Kraft getreten, das zu Änderungen bzw. Ergänzungen des § 244 StGB (Wohnungseinbruchdiebstahl, § 244 I Nr. 3, III, IV StGB) und der §§ 100g und 395 StPO geführt hat. Ob diese Gesetzesänderung überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Strafrechtliche Ausgangslage:
Während es sich bei § 243 StGB um eine Strafzumessungsvorschrift handelt, stellt § 244 StGB eine Qualifikation zu § 242 StGB dar (klarstellend BGHSt 33, 50, 53), die besonders gefährliche Formen des Diebstahls erfasst. Dazu zählen der Diebstahl mit Waffen, den Bandendiebstahl und der Wohnungseinbruchdiebstahl. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung (die im Übrigen die Ausführungen bei R. Schmidt, StrafR BT II, 18. Auflage 2017 Rn. 244 ff. – im Erscheinen – vorwegnimmt) ist ausschließlich der zuletzt genannte Erschwernisgrund.
Vorüberlegung:
Wohnungseinbrüche dringen in besonderer Intensität in die Privat- und Intimsphäre der Opfer ein und können ernste psychische Störungen und langwierige Angstzustände hervorrufen (vgl. BT-Drs. 13/8587, S. 43; BT-Drs. 18/12359 S. 1 und 7; BT-Drs. 18/12729, S. 1). Nicht selten sind Wohnungseinbruchdiebstähle auch mit Gewalttätigkeiten gegenüber Menschen und Verwüstungen von Räumen bzw. Wohnungseinrichtungen verbunden (R. Schmidt, StrafR BT II, 18. Aufl. 2017, Rn. 244). Daher hat sich der Reformgesetzgeber im Zuge des 6. StrRG 1998 veranlasst gesehen, den bis dahin in § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB als Strafzumessungsnorm geregelten „Wohnungseinbruchdiebstahl“ zur Tatbestandsqualifikation (§ 244 I Nr. 3 StGB) „aufzuwerten“ (vgl. BT-Drs. 13/8587, S. 43). Die (abstrakte) Strafandrohung beträgt seitdem 6 Monate bis 10 Jahre Freiheitsstrafe, sieht man einmal ab von der am 5.11.2011 in Kraft getretenen Möglichkeit der Annahme eines minder schweren Falls (§ 244 III StGB) einerseits und der hier zu besprechenden, am 22.7.2017 in Kraft getretenen Neuregelung in § 244 IV StGB andererseits, die eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr bis zu 10 Jahren vorsieht, wenn der Wohnungseinbruchdiebstahl eine dauerhaft genutzte Privatwohnung betrifft. Insbesondere sind durch die Aufnahme des Wohnungseinbruchdiebstahls in § 244 I StGB die Bagatellklausel des § 243 II StGB sowie das Strafantragserfordernis des § 248a StGB unanwendbar geworden; der Versuch des § 244 I Nr. 3 StGB ist unter Strafe gestellt (§ 244 II StGB).
Aus diesem Grund muss die Wohnung i.S.d. § 244 I Nr. 3 StGB einerseits von den sonstigen Räumlichkeiten i.S.v. § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB, die nicht dem Schutz der häuslichen Privat- und Intimsphäre unterfallen, andererseits aber auch von den „dauerhaft genutzten Privatwohnungen“, die dem mit Wirkung zum 22.7.2017 neu geschaffenen Verbrechenstatbestand des § 244 IV StGB unterfallen, abgegrenzt werden, um zu bestimmen, ob der Täter „nur“ aus § 242 i.V.m. § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB, aus § 244 I Nr. 3 StGB oder sogar aus § 244 IV StGB strafbar ist. Bei der Abgrenzung bieten sich folgende Überlegungen an:
Abgrenzung zu § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB:
§ 243 I S. 2 Nr. 1 StGB schützt Gebäude, Dienst- oder Geschäftsräum sowie andere umschlossene Räume, die keine Wohnungen bzw. Wohnräume (i.S.v. § 244 I Nr. 3 StGB) sind. Abgrenzungskriterium zu § 244 I Nr. 3 StGB ist also der Wohnungsbegriff, der sich wiederum über den Wohnzweck definiert. Hinsichtlich des Wohnungsbegriffs (i.S.v. § 244 I Nr. 3 StGB) wird in der Literatur nicht selten auf § 123 StGB verwiesen (vgl. etwa Sch/Sch-Eser/Bosch, § 244 Rn. 30; MüKo-Schmitz, § 244 Rn. 58; Jäger, JA 2016, 872) (vgl. dazu R. Schmidt, BT I, 18. Aufl. 2017, Rn. 997 ff.). Da sich jedoch der Schutzzweck des § 244 I Nr. 3 StGB von dem des § 123 StGB unterscheidet (§ 123 StGB schützt im Wesentlichen die Freiheit des Rechtsgutträgers, darüber zu entscheiden, wer sich innerhalb der Räumlichkeit bzw. des befriedeten Besitztums aufhalten darf, wohingegen § 244 I Nr. 3 StGB – wie gesehen – neben dem Eigentum verstärkt die Privat- und Intimsphäre im räumlichen Bereich schützt), muss auch die Auslegung des Wohnungsbegriffs i.S.v. § 244 I Nr. 3 StGB vor diesem Hintergrund erfolgen. Zudem zwingt die höhere Strafandrohung des § 244 I StGB zu einer restriktiven Auslegung (daran ändert auch der am 5.11.2011 in Kraft getretene § 244 III StGB nichts, da die Vorschrift methodisch nicht geeignet ist, eine restriktive Auslegung von Tatbestandsmerkmalen zu ersetzen (vgl. Wessels/Hillenkamp, StrafR BT 2, Rn. 290). Danach sind als Wohnungen i.S.d. § 244 I Nr. 3 StGB nur solche Räumlichkeiten anzusehen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Privat- und Intimsphäre stehen und psychische Integrität vermitteln (BGH StV 2016, 639; LK-Vogel, § 244 Rn. 75; Wessels/Hillenkamp, BT 2, Rn. 289; El-Ghazi, JA 2014, 26, 27). Bei Räumlichkeiten, deren Hauptzweck in der Erfüllung o.g. Kriterien besteht, ist dies unproblematisch der Fall. Auch Nebenräume wie Flure, Toiletten, Keller und Speicher sind umfasst, sofern sie im unmittelbaren Zusammenhang mit den geschützten Räumlichkeiten stehen, was bei Einfamilienhäusern regelmäßig anzunehmen sein dürfte Siehe dazu BGH StV 2016, 639 (in Bezug auf Kellerräume eines Einfamilienhauses (siehe dazu BGH StV 2016, 639 – in Bezug auf Kellerräume eines Einfamilienhauses). Selbst in das Einfamilienhaus integrierte Garagen, in denen die Hausbewohner regelmäßig auch Warenvorräte und Getränke lagern, dürften dem Schutz des § 244 I Nr. 3 StGB unterstehen (siehe Jäger, JA 2016, 872, 873, der die Frage aber nicht eindeutig beantwortet). Mit Blick auf den Schutzzweck des § 244 I Nr. 3 StGB wird man den Begriff der Wohnung schließlich auch bei Hotelzimmern (BGH StV 2001, 624), Wohnwagen, Wohnzelten und Wohnschiffen bejahen können, und zwar selbst dann, wenn diese Objekte Menschen nur zur vorübergehenden Unterkunft dienen, sofern nur o.g. Kriterien erfüllt sind, was insbesondere beim Vorhandensein von Schlafplätzen anzunehmen ist, da Schlafplätze typischerweise die Privat- und Intimsphäre kennzeichnen, auch wenn sie nur gelegentlich als solche benutzt werden [vgl. BGH NJW 2017, 1186, 1187 (Wohnwagen bzw. Wohnmobile, die zu Schlafzwecken genutzt werden, dienten Insassen zur Unterkunft und seien Wohnungen i.S.d. § 244 I Nr. 3 StGB). Siehe auch Sch/Sch-Eser/Bosch, § 244 Rn 30]. Etwaigen Unbilligkeiten kann hinreichend über § 244 III StGB begegnet werden.
Zu weit ginge es aber, bspw. leer stehende Wohnungen und reine Arbeitsräume, aber auch Flure und Kellerräume in Mehrparteienmietshäusern bzw. Wohnheimen in den Tatbestand des § 244 I Nr. 3 StGB einzubeziehen, sofern hier (wie regelmäßig) eine klare Trennung zur Wohnung im eigentlichen Sinne besteht (siehe dazu ausdrücklich BGH StV 2016, 639). Bei „offenen Zubehörflächen“ wie Terrassen, Gärten, Gartenhäuschen und frei stehenden Garagen dürfte der Schutzzweck des § 244 I Nr. 3 StGB erst recht nicht greifen (vgl. BGH StV 2016, 639; BGH NStZ 2005, 631; OLG Schleswig NStZ 2000, 479, 480; AG Saalfeld NStZ-RR 2004, 141; Jäger, JA 2016, 872 f.; Lackner/Kühl, § 244 Rn 11; Fischer, § 244 Rn 24a; Wessels/Hillenkamp, BT 2, Rn 290; Krey/Hellmann/Heinrich, BT II, Rn 197; MüKo-Schmitz, § 244 Rn 56). In diesen Fällen bietet § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB genügend Schutz. Zu den gemischt genutzten Gebäuden, d.h. Gebäuden, die teils der Wohnung, teils der Ausübung eines Gewerbes dienen, siehe sogleich.
Abgrenzung zu § 244 IV StGB:
§ 244 IV StGB erfasst dauerhaft genutzte Privatwohnungen. Gemäß der Gesetzesbegründung schützt § 244 IV StGB sowohl private Wohnungen oder Einfamilienhäuser als auch die dazugehörenden, von ihnen nicht getrennten weiteren Wohnbereiche wie Nebenräume, Keller, Treppen, Wasch- und Trockenräume sowie Zweitwohnungen von Berufspendlern (BT-Drs. 18/12359, S. 10). In Abgrenzung zu § 244 I Nr. 3 StGB kommt es bei § 244 IV StGB sowohl auf die Privatnutzung als auch auf die Dauerhaftigkeit der Privatnutzung an. Nicht dauerhaft sind nur gelegentliche Wohnnutzungen. So wird man bspw. bei Hotelzimmern eine nur gelegentliche Wohnnutzung annehmen können, es sei denn, der Betreffende hat sich dauerhaft in ein Hotelzimmer „einquartiert“. Aber auch bei privaten Ferienwohnungen und Wohnwagen, die nur gelegentlich bewohnt werden, dürfte die Dauerhaftigkeit der Privatnutzung fehlen. Des Weiteren muss die Dauerhaftigkeit von einer nur vorübergehenden Nutzung abgegrenzt werden. Als nur vorübergehend wird man eine Wohnnutzung ansehen müssen, wenn sie von vornherein auf wenige Wochen oder Monate begrenzt ist. Möchte etwa ein Studierender ein Semester an einer anderen Hochschule studieren und mietet in deren Nähe für 4 Monate eine Ein-Zimmer-Wohnung in einem Studierendenwohnheim, muss allein aufgrund des natürlichen Sprachgebrauchs die Dauerhaftigkeit des Wohnzwecks in Frage gestellt werden. Unklarheiten dieser Art werfen mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz und das Schuldprinzip verfassungsrechtliche Bedenken auf. Der Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) ist tangiert, weil – wie aufgezeigt – der Begriff der Dauerhaftigkeit in Abgrenzung zum gelegentlichen bzw. vorübergehenden Wohnzweck alles andere als klar ist, Art. 103 II GG aber gerade die Normenklarheit fordert. Und das Schuldprinzip ist tangiert, weil der Gesetzgeber bei § 244 IV StGB die Möglichkeit eines minder schweren Falls ausdrücklich ausgenommen hat. Aufgrund seiner systematischen Stellung sowie ausweislich seines Wortlauts bezieht sich § 244 III StGB ausschließlich auf § 244 I StGB , nicht auch auf § 244 IV StGB . Erfasst § 244 IV StGB nach dem Willen des Gesetzgebers also auch Nebenräume, Keller, Treppen, Wasch- und Trockenräume, ist der Täter stets wegen eines Verbrechens mit einer Mindeststrafe von 1 Jahr strafbar, wenn er lediglich in eine dieser Räumlichkeiten einbricht, einsteigt oder eindringt. Im Hinblick auf Nebenräume, Keller, Treppen, Wasch- und Trockenräume hält die Regelung gleichwohl verfassungsrechtlichen Bedenken stand, wenn man berücksichtigt, dass ein Täter, der sich schon einmal in einem dieser Räume aufhält, i.d.R. jederzeit seinen Aktionsradius ausdehnen und in die eigentlichen Wohnräume vordringen könnte. Sozusagen stellt der Ge-setzgeber damit also die niedrigere Hemmschwelle, weiter in dem Gebäude vorzudringen, und mithin eine abstrakte Gefährlichkeit unter die Verbrechensstrafbarkeit des § 244 IV StGB . Die Neuregelung ist nach der hier vertretenen Auffassung daher jedenfalls insoweit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Schuldprinzip vereinbar. Diesbezügliche Bedenken bestehen aber hinsichtlich der tatbestandlichen Weite des Merkmals „dauerhaft“, da – wie aufgezeigt – Abgrenzungsschwierigkeiten in Bezug auf nur gelegentliche und vorübergehende Wohnnutzungen bestehen und damit insbesondere auch Wohnungen, bei denen der Wohnzweck (lediglich) mehrere Monate besteht, erfasst sein könnten. Allerdings sind den Strafgesetzen auch sonst unbestimmte Rechtsbegriffe nicht fremd. Denn soll es nicht zu unerwünschten Strafbarkeitslücken kommen, müssen sie eine gewisse Abstraktheit aufweisen. Man denke an die „große Zahl von Menschen“ in § 306b I, § 315d V oder § 263 III S. 2 Nr. 2 StGB , an den „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ in § 263 III S. 2 Nr. 2 StGB oder an die „Steuerverkürzung in großem Ausmaß“ in § 370 III S. 2 Nr. 1 AO. Nicht minder großen verfassungsrechtlichen Bedenken sind die Beleidigung nach § 185 StGB und die zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe des Untreuetatbestands nach § 266 StGB ausgesetzt. Solange sich die Konturen aber mit hinreichender Verlässlichkeit durch Auslegung ermitteln lassen und damit verfassungskonformer Auslegung zugänglich sind, halten die zweifelhaften Strafnormen den Anforderungen des Art. 103 II GG stand. Das gilt auch für § 244 IV StGB.
Die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung ändert jedoch nichts an den Zweifeln, die schließlich hinsichtlich der Erforderlichkeit der Neuregelung bestehen. Denn auch nach alter Rechtslage konnten die Strafgerichte dem gesteigerten Schutzbedürfnis von Inhabern dauerhaft genutzter Privatwohnungen einerseits und dem gesteigerten Unrechtsgehalt der Tat andererseits hinreichend auf Strafzumessungsebene (6 Monate bis 10 Jahre!) Rechnung tragen. Die Neuregelung stellt letztlich nichts anderes dar als eine Antwort auf eine zu laxe Strafjustiz. Dann aber stellt sich die Frage, ob nicht eine schlichte Anhebung der Mindeststrafe für Wohnungseinbruchdiebstähle gem. § 244 I Nr. 3 StGB von 6 Monaten auf ein Jahr ebenso geeignet gewesen wäre. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip wäre darin jedenfalls nicht zu sehen gewesen, da für minder schwere Fälle des § 244 I StGB ja die Vorschrift des § 244 III StGB greift.
Von diesen Bedenken abgesehen, bedeutet § 244 IV StGB für die Praxis: Ein Täter, der das Risiko der Verwirklichung des Verbrechenstatbestands nicht eingehen möchte (etwa, weil er nicht abschätzen kann, ob das Ferienhaus oder der Wohnwagen, in das bzw. den er mit Diebstahlsabsicht einbricht, nicht doch dauerhaft als Privatwohnung dient), muss im Zweifel von der Tat Abstand nehmen.
Hinweis für die Fallbearbeitung:
Aus den vorstehenden Ausführungen sollte das Stufenverhältnis zwischen § 244 IV, § 244 I Nr. 3 und § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB deutlich geworden sein. Liegen im Sachverhalt Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei dem Objekt um eine dauerhaft genutzte Privatwohnung handeln könnte, ist es nach der hier vertretenen Auffassung zwingend, die Prüfung am Maßstab des § 244 IV StGB zu beginnen. Steht nach der Prüfung fest, dass der Tatbestand des § 244 IV StGB verwirklicht ist, darf auf § 244 I Nr. 3 StGB (oder gar auf § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB) nicht mehr zurückgegriffen werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Täter, der aus einem § 244 IV StGB unterfallenden Objekt stiehlt, irrtümlich davon ausging, (lediglich) § 244 I Nr. 3 StGB zu verwirklichen. In diesem Fall fehlt der für § 244 IV StGB erforderliche Tatbestandsvorsatz mit der Folge, dass § 244 IV StGB subjektiv nicht vorliegt (siehe § 16 I S. 1 StGB). Da der objektive Tatbestand des § 244 IV den des § 244 I Nr. 3 StGB inkludiert und sich der Tatbestandsvorsatz darauf bezog, ist der Täter nach § 244 I Nr. 3 StGB strafbar. Geht der Täter umgekehrt davon aus, bei dem Objekt handele es sich um eine dauerhaft genutzte Privatwohnung, obwohl es sich tatsächlich „nur“ um eine Wohnung i.S.d. § 244 I Nr. 3 StGB handelt, liegt ein Versuch des § 244 IV StGB vor, der in Tateinheit mit § 244 I Nr. 3 StGB steht.
Sonderproblem gemischt genutzte Gebäude:
Unter gemischt genutzte Gebäude sind Gebäude zu verstehen, die teils Wohnungen, teils aber auch Geschäftsräume beinhalten. Diesbezüglich hat der BGH bereits vor etlichen Jahren entschieden, dass der Tatbestand des § 244 I Nr. 3 StGB unabhängig davon erfüllt sei, ob der Täter nach dem Eindringen in die Wohnung die Sache aus der Wohnung selbst oder dem angrenzenden Geschäftsraum wegnehme (BGH NJW 2001, 3203). Später hat er denn auch die umgekehrte Konstellation entschieden, also diejenige, in der der Täter in den vom Wohnbereich räumlich eindeutig abgegrenzten Geschäftsraum einbricht, von dort aus ohne Überwindung weiterer Hindernisse (etwa weil die Verbindungstür zur Wohnung nicht abgeschlossen ist) in den Wohnbereich vordringt und von dort Gegenstände mitnimmt. Diesbezüglich hat der BGH entschieden, dass diese Konstellation nicht unter § 244 I Nr. 3 StGB falle. Denn in diesem Fall breche der Täter nicht in eine Wohnung, sondern „nur“ in einen Geschäftsraum ein (BGH NStZ 2008, 514, 515). Damit legt der BGH den Wortlaut des § 244 I Nr. 3 StGB, der von einem Einbruch in die Wohnung spricht, eng aus, was mit Blick auf Art. 103 II GG grds. zu begrüßen ist, jedoch dann nicht überzeugt, wenn der Geschäftsraum aufgrund seiner konkreten Nutzung der Privatsphäre zuzuordnen ist. Im zu entscheidenden Fall konnte dies gleichwohl dahinstehen, weil der Täter nicht in die Wohnung, sondern in den räumlich abgegrenzten Geschäftsraum eingebrochen war, der nicht als Wohnraum genutzt wurde und daher auch nicht vom Schutzzweck des § 244 I Nr. 3 StGB erfasst war. Vielmehr war diese Situation gerade von § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB erfasst. Eine Vernachlässigung des Opferschutzes ist insoweit auch nicht gegeben, da immerhin ein besonders schwerer Fall i.S.v. § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB vorliegt. Sollte der Täter aufgrund mangelhafter Kenntnisse über die Eigenschaft des Gebäudes als gemischt genutztes Gebäude davon ausgegangen sein oder zumindest billigend in Kauf genommen haben, er werde in eine Wohnung einbrechen, liegt tateinheitlich dazu auch ein Versuch des § 244 I Nr. 3 StGB vor (vgl. § 244 II StGB). Generell liegt (lediglich) ein Versuch vor, wenn der Täter rechtsirrig davon ausgeht, ein im konkreten Fall vom Wohnungsbegriff nicht umfasster Neben-, Geschäfts- oder Lagerraum sei der Wohnung zugeordnet. Umgekehrt fehlt es am Vorsatz in Bezug auf § 244 I Nr. 3 StGB, wenn der Täter den Zusammenhang des objektiv der Wohnung zuzurechnenden Neben-, Geschäfts- oder Lagerraums nicht kennt. In diesem Fall lebt dann § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB wieder auf.
Sollte der Täter aber in einen Geschäftsraum eindringen, der derart in die Wohnung integriert ist, dass wertungsmäßig insgesamt eine in sich geschlossene Einheit vorliegt, ist es überzeugend, (stets) einen Fall des § 244 I Nr. 3 StGB (BGH NStZ 2013, 120 f.) bzw. des § 244 IV StGB anzunehmen.
Beispiel: T will IT-Geräte stehlen und bricht dazu von außen in das Arbeitszimmer des O ein, das in dessen Wohnhaus, in dem O dauerhaft lebt, integriert ist. Dazu hebelt er das Außenfenster auf und steigt in den Büroraum. Ohne auch noch in andere Räume vorzudringen, verlässt er das Gebäude, nachdem er Laptop und Smartphone an sich genommen hat.
Hier liegt ein Fall des § 244 IV StGB vor, obwohl T lediglich von außen gleich in einen Geschäftsraum eingedrungen ist. Die Rechtfertigung für die Annahme des § 244 IV StGB kann darin gesehen werden, dass es sich bei dem Büroraum (wie bei von der Privatwohnung nicht getrennten Nebenräumen, Kellern, Treppen, Wasch- und Trockenräumen) um einen Teil der dauerhaft genutzten Privatwohnung (und damit der durch § 244 IV StGB geschützten räumlichen Privatsphäre) handelt, auch wenn O den betreffenden Raum lediglich geschäftlich nutzt.
Hinweis für die Fallbearbeitung:
Auch eine Wohnung i.S.d. § 244 I Nr. 3 StGB bzw. § 244 IV StGB ist regelmäßig ein Gebäude i.S.d. § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB, also ein durch Wände und Dach begrenztes, mit dem Grund und Boden fest verbundenes Bauwerk, das den Eintritt von Menschen ermöglicht und geeignet und bestimmt ist, dem Schutze von Menschen zu dienen, und Unbefugte abhalten soll (vgl. BGHSt 1, 158, 164; BGH NStZ 2005, 631; Sch/Sch-Eser/Bosch, § 243 Rn 7). Da § 243 StGB aber eine Strafzumessungsvorschrift zu § 242 StGB darstellt und § 242 StGB wiederum vom Qualifikationstatbestand des § 244 StGB verdrängt wird, braucht man das bei Wohnungseinbruchdiebstählen – vom Wortlaut her nach wie vor erfüllte – Regelbeispiel des § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB nach der hier vertretenen Auffassung nicht separat zu prüfen. Vielmehr genügt am Ende der Prüfung des § 244 I Nr. 3 bzw. des § 244 IV der Hinweis, dass der „ebenfalls verwirklichte Diebstahl im besonders schweren Fall gem. § 242 I i.V.m. § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB hinter den speziellen Tatbestand des § 244 I Nr. 3 StGB (bzw. des § 244 IV StGB) zurücktritt“ (für Spezialität des § 244 I Nr. 3 gegenüber § 242 i.V.m. § 243 I S. 2 Nr. 1 auch Achenbach, JuS 1999, L 41, 43, Fahl, NJW 2001, 1699, 1700 und Heintschel-Heinegg, JA 2008, 742, 743 Fußn. 1. Für Subsidiarität des § 243 I S. 2 Nr. 1 SK-Hoyer, § 243 Rn 15; Mitsch, ZStW 111 (1999), 65, 72). Zum Konkurrenzverhältnis zu §§ 123, 303 I StGB vgl. R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 179 ff.).
Als Tathandlungsmodalitäten werden bei § 244 I Nr. 3 StGB in Übereinstimmung zu § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB vor allem das Einbrechen, das Einsteigen und das Eindringen mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen, nicht zur ordnungsgemäßen Öffnung bestimmten Werkzeug genannt, die in gleicher Weise auch für § 244 IV StGB gelten. Insoweit kann uneingeschränkt auf die Ausführungen bei R. Schmidt, StrafR BT II, Rn. 138 ff. verwiesen werden.
Der Versuch
des § 244 I Nr. 3 StGB ist gem. § 244 II StGB strafbar, der des § 244 IV StGB wegen seines Verbrechenscharakters stets. Die Probleme eines „versuchten“ Regelbeispiels stellen sich bei § 244 I Nr. 3 StGB bzw. bei § 244 IV StGB also nicht. Würde man folglich in den bei R. Schmidt, StrafR BT II, Rn 156 ff. erörterten drei Konstellationen das Tatobjekt Museum durch das Tatobjekt Wohnung bzw. dauerhaft genutzte Privatwohnung ersetzen, wären in allen drei Konstellationen §§ 244 I Nr. 3, 22 StGB bzw. §§ 244 IV, 22 StGB zu bejahen; in der zweiten Konstellation träte noch tateinheitlich § 242 StGB hinzu.
In subjektiver
Hinsicht muss bei § 244 I Nr. 3 StGB bzw. bei § 244 IV StGB der Täter Vorsatz
zum einen in Bezug auf das Merkmal zur Ausführung der Tat und zum anderen in Bezug auf die Wohnungseigenschaft der Räumlichkeit bzw. die Eigenschaft als dauerhaft genutzte Privatwohnung haben. Geht der Täter, der zwecks Ausführung der Tat in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung einbricht, davon aus, es handele sich zwar um eine Privatwohnung, diese werde aber nur gelegentlich als Privatwohnung genutzt, kann der Vorsatz in Bezug auf § 244 IV StGB zu verneinen sein. In diesem Fall greift dann aber § 244 I Nr. 3 StGB, der auch einen vorübergehenden Wohnzweck genügen lässt.
Minder schwerer Fall:
Gemäß § 244 III StGB nicht möglich (§ 244 III StGB bezieht sich nicht auf § 244 IV StGB).
R. Schmidt (22.7.2017)
3.7.2017: Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare
Am 30.6.2017 hat der Deutsche Bundestag u.a. eine Änderung des § 1353 BGB beschlossen und den Zugang des Instituts der Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren eröffnet. Ob diese Gesetzesänderung, die wohl noch im Sommer 2017 in Kraft treten soll, überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Verfassungsrechtliche Ausgangslage:
Das Grundgesetz definiert den Begriff der Ehe nicht. In Anknüpfung an die christlich-abendländische Tradition und unter Zugrundelegung einer historischen Auslegung des Art. 6 I GG (dazu R. Schmidt, FamR, 7. Aufl. 2017, Rn. 19 ff.) versteht die traditionellen Werten verpflichtete h.M. unter Ehe die rechtlich verbindliche Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau (Heterosexualität und Monogamie) (So etwa BVerfGE 6, 55, 71 und mit Nachdruck Roth, in: MüKo, § 1353 Rn 1 ff.). Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses ist also die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen nicht möglich. Bereits in sämtlichen Auflagen zum Familienrecht hat der Verfasser indes die Auffassung vertreten, dass es dem Gesetzgeber nicht nur freistünde, das Institut der Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren zu öffnen, sondern dass die Öffnung unter dem Aspekt des Art. 3 I, III S. 1 GG sogar geboten sei. Es wurde vertreten, dass Art. 6 I GG, der seinem Wortlaut nach keine Verschiedengeschlechtlichkeit voraussetzt, dem nicht entgegenstünde, zumal der Schutzbereich des Art. 6 I GG stark normgeprägt sei, was bedeute, dass die Begriffe Ehe und Familie einer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber offen seien und die Grenzen lediglich in der Institutsgarantie des Art. 6 I GG und den Strukturprinzipien der Ehe, d.h. den die Ehe im Wesentlichen kennzeichnenden Prinzipien, zu finden seien. Ob zu diesen Strukturprinzipien die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner gehört (so noch ausdrücklich BVerfGE 105, 313, 345 (Lebenspartnerschaftsgesetz), hat der Verfasser verneint, und er hat vertreten, dass angesichts des gesellschaftlichen Wandels, der bei einer Verfassungsinterpretation nicht ignoriert werden darf (auf den Verfassungswandel abstellend mit der Folge, dass es zur Öffnung der Ehe auch für Gleichgeschlechtliche keiner Änderung des Art. 6 I GG bedarf, sondern dass der Gesetzgeber einfachgesetzlich die Ehe auch Gleichgeschlechtlichen ermöglichen dürfte, vgl. bereits R. Schmidt, Grundrechte, 16. Aufl. 2014, Rn 555 ff. und explizit R. Schmidt, FamR, 2. Aufl. 2014, Fußn. 15; auf den Verfassungswandel später auch abstellend Koschmieder, JA 2014, 566, 570 ff.), und der Gewährleistungen des Art. 3 I, III S. 1 GG die Versagung der Möglichkeit der Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren abzulehnen sei (so (i.E.) auch Brosius-Gersdorf, NJW-Editorial 12/2013 und FamFR 2013, 169 ff.; scharf ablehnend Benedict, JZ 2013, 477, 486; Selder, DStR 2013, 1064, 1067; Gade/Thiele, DÖV 2013, 142, 150 f.; Hillgruber, JZ 2010, 41, 41; Krings, NVwZ 2011, 26, 26; Hofmann, JuS 2014, 617, 620.). Auch der EGMR ist der Auffassung, dass das in Art. 12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, nicht auf verschiedengeschlechtliche Menschen beschränkt sei. Allerdings hat er auch betont, dass die Entscheidung, ob die gleichgeschlechtliche Ehe gestattet werden solle, „zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Recht der Konventionsstaaten überlassen“ bleibe (EGMR NJW 2011, 1421 ff.). „Rückendeckung“ war vom EGMR also nicht zu erwarten.
Im Sinne der hier schon immer vertretenen Auffassung hat nunmehr der Bundestag in seiner Sitzung v. 30.6.2017 durch Änderung u.a. des § 1353 I S. 1 BGB beschlossen, dass das Institut der Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren offensteht (siehe auch BT-Drs. 18/6665 S. 5 ff.). Mit Inkrafttreten der Neuregelung voraussichtlich im Herbst 2017 kommt es bei der Begründung der Ehe also nicht mehr auf die Geschlechtsverschiedenheit an.
Ob aber die Neuregelung verfassungsgemäß ist, wird angesichts der vom BVerfG vorgenommenen Interpretation der Ehe bisweilen bezweifelt. Denn - wie aufgezeigt - zählt das BVerfG die Verschiedengeschlechtlichkeit zu den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien einer Ehe. Es begründet das Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit mit der „idealtypischen Funktion der Ehe“, der Möglichkeit zur Gründung einer Familie, die auf natürliche Weise aus biologischen Gründen nur verschiedengeschlechtlichen Paaren gegeben sei. Die Ehe sei „von Natur aus“ auf die potentiell aus ihr hervorgehende Familie und die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen, ausgerichtet und gelte als „Keimzelle einer jeden menschlichen Gemeinschaft“ (BVerfGE 6, 55, 71). Die Erzeugung von Nachkommen und die Familiengründung seien geradezu der Zweck sowie die „natürliche Folge“ einer Ehe (vgl. Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 4; Gade/Thiele, DÖV 2013, 142, 143 f.; Kreß, ZRP 2012, 234, 235). Die Verschiedengeschlechtlichkeit gehöre daher zu den unveränderlichen „Strukturprinzipien“ einer Ehe und sei somit mit Blick auf die Institutsgarantie des Art. 6 I GG unantastbar (BVerfGE 105, 313, 345. Vgl. auch BVerfG NJW 1993, 3058; BVerwG NVwZ 1997, 189, 190; Pieroth/Kingreen, KritV 2002, 219, 239; Scholz/Uhle, NJW 2001, 393, 394).
Unter Zugrundelegung dieses Eheverständnisses ist eine Ehe unter Gleichgeschlechtlichen in der Tat ausgeschlossen. Das überzeugt nicht. Denn wie schon in der 16. Auflage aufgezeigt, steht außer Zweifel, dass das Institut der Ehe auch zeugungsunfähigen Personen offensteht, solange sie nur verschiedengeschlechtlich sind, obwohl die „idealtypische Funktion der Ehe“ – die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen und eine Familie zu gründen – hier ganz offensichtlich ebenso wenig erreicht werden kann wie bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Es wäre aber absurd, zeugungsunfähigen Menschen das Institut der Ehe zu verschließen. Auch die Berufung auf die „Strukturprinzipien“ der Ehe überzeugt nicht, da die „Verschiedengeschlechtlichkeit“ verfassungstextlich nicht als „unveränderliches Strukturprinzip“ festgeschrieben, sondern lediglich einer von einer bürgerlichen Tradition geleiteten Verfassungsinterpretation entsprungen ist, die jedoch (und das wird vom BVerfG insoweit unberücksichtigt gelassen) gerade aufgrund der Gestaltungsoffenheit und der Normgeprägtheit des Art. 6 I GG einem Bedeutungswandel unterworfen ist (auf den Verfassungswandel abstellend bereits R. Schmidt, Grundrechte, 16. Auflage 2014, Rn. 555 ff. und explizit R. Schmidt, FamR, 2. Aufl. 2014, Fußn. 15; später auch Koschmieder, JA 2014, 566, 570 ff.). Gerade Gestaltungsoffenheit und Normgeprägtheit des Art. 6 I GG führen dazu, den Begriff der Ehe unter Berücksichtigung moderner gesellschaftlicher Anschauungen zu interpretieren, ohne den Verfassungstext ändern zu müssen. Der Umstand, dass eine Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts in vielen anderen (ebenfalls „christlich geprägten“) Staaten (vgl. etwa Island, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal) zulässig ist, stellt einen starken Indikator für ein sich wandelndes gesellschaftliches Selbstverständnis dar, was die in Deutschland (bislang) vorhandenen (Verfassungs-)Vorbehalte als unbegründet erscheinen lässt (auch das in Art. 12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, ist nicht auf verschiedengeschlechtliche Personen beschränkt, wie der EGMR festgestellt hat, wenngleich sich der EGMR in Zurückhaltung geübt hat, indem er formuliert, dass die Entscheidung, ob die gleichgeschlechtliche Ehe gestattet werden solle, „zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Recht der Konventionsstaaten überlassen bleibt“ (EGMR NJW 2011, 1421 ff.). Den weiten Ermessensspielraum der Konventionsstaaten bei der Regelung familienrechtlicher Strukturen betont der EGMR auch in NJW 2014, 2015 f.). Schließlich greifen die teilweise angeführten Argumente, der historische Gesetzgeber sei ganz selbstverständlich von der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner ausgegangen und habe diese zur Grundlage seines Eheverständnisses gemacht (so Uhle, in: BeckOK, GG, Art. 6 Rn. 4), schon deshalb nicht, weil es in der Debatte im Parlamentarischen Rat primär um die Frage ging, generell den Schutz von Ehe und Familie in das Grundgesetz aufzunehmen (Leibholz/v. Mangoldt, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge Bd. 1, 1951, S. 93-99). Der zunächst vom Grundsatzausschuss gebilligte Wortlaut: „Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“ (Leibholz/v. Mangoldt, a.a.O., S. 98) wurde später vom Hauptausschuss ausdrücklich nicht angenommen. Dort verständigte man sich vielmehr auf die Fassung: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ (Leibholz/v. Mangoldt, a.a.O., S. 99). Einen Willen des historischen Gesetzgebers, eine Ehe könne nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden, hätte man daher jedenfalls dann annehmen können, wenn er den vom Grundsatzausschuss gebilligten Textentwurf übernommen hätte. Indem er diesen aber gerade nicht übernommen, sondern sich für eine offene Formulierung in Art. 6 I GG entschieden hat, kann dem Willen des historischen Gesetzgebers also gerade nicht entnommen werden, dass er einen Verfassungs- bzw. Bedeutungswandel des Ehebegriffs für alle Zeiten ausschließen wollte.
Der einfache Gesetzgeber war daher frei, nicht mehr auf der bürgerlichen Zwängen und Traditionen unterworfenen Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner zu beharren, sondern sich offen zu zeigen für moderne gesellschaftliche Strukturen unter Berücksichtigung der Gestaltungsoffenheit und der Normgeprägtheit des Art. 6 I GG und des dadurch ermöglichten aufgezeigten Verfassungswandels (im Ergebnis auch Brosius-Gersdorf, NJW-Editorial 12/2013 und FamFR 2013, 169 ff.; Koschmieder, JA 2014, 566, 570 ff.; scharf ablehnend Benedict, JZ 2013, 477, 486; Selder, DStR 2013, 1064, 1067; Gade/Thiele, DÖV 2013, 142, 150 f.; Hillgruber, JZ 2010, 41, 41; Krings, NVwZ 2011, 26, 26; Hofmann, JuS 2014, 617, 620). Im Sinne der hier (seit R. Schmidt, Grundrechte, 16. Auflage) vertretenen Auffassung hat nunmehr der Bundestag in Wahrnehmung der Normgeprägtheit und der Gestaltungsoffenheit des Art. 6 I GG u.a. § 1353 I S. 1 BGB geändert und das Institut der Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren geöffnet. Mit Inkrafttreten der Neuregelung vermutlich im Herbst 2017 kommt es bei der Begründung der Ehe also nicht mehr auf die Geschlechtsverschiedenheit an. Teilweise wird dies trotz der Offenheit des Art. 6 I GG für eine Gestaltung durch den Gesetzgeber für verfassungswidrig erachtet (so auf politischer Ebene von Teilen der CDU/CSU-Fraktion und der AfD). Wie aber bereits aufgezeigt, fordern die Strukturprinzipien der Ehe keine Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner. Sollte dennoch das BVerfG darüber entscheiden müssen, bleibt zu hoffen, dass das Gericht seine Rechtsprechung zur Normgeprägtheit und Gestaltungsoffenheit des Art. 6 I GG sowie zur materiell-rechtlichen Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zum Anlass nimmt, seine Linie fortzuführen und § 1353 I S. 1 BGB n.F. für mit Art. 6 I GG vereinbar zu erklären.
So hat das BVerfG Verstöße gegen Art. 3 I, III S. 1 GG unter dem Aspekt der mittelbaren Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung festgestellt hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht (BVerfGE 126, 400, 415 ff. Vgl. dazu auch Tölle, NJW 2011, 2165 ff.), hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung im Beamtenrecht (BVerwG NVwZ 2011, 499. Hinsichtlich des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente für Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft vgl. EGMR NVwZ 2011, 31), hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft bei der Gewährung von Familienzuschlag im Beamtenrecht (BVerfGE 131, 239, 255 ff. Vgl. auch OVG Münster NVwZ 2014, 1534 ff.) und hinsichtlich der (ehemaligen) Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft im Grunderwerbsteuerrecht nach § 3 Nr. 4 GrEStG a.F. (BVerfGE 132, 179, 193 ff.) (jeweils eine am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG zu messende Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung). Schließlich hat das BVerfG die unterschiedliche Behandlung im Einkommensteuerrecht beanstandet (BVerfGE 133, 377, 407 ff.), was zur Anwendung des sog. Ehesplittingtarifs auf Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft geführt hat (Gesetz v. 15.7.2013, BGBl I S. 2397 (steuerliche Gleichstellung von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften): Einfügung eines § 2 VIII EStG, wonach die Regelungen des EStG zu Ehegatten und Ehen auch auf Lebenspartner und Lebenspartnerschaften anzuwenden sind). Mittlerweile hat der Gesetzgeber eine vollständige Gleichbehandlung in sämtlichen steuerlichen Belangen vorgenommen (vgl. zuletzt das Gesetz v. 18.7.2014 (BGBl I S. 1042: Anpassung von Abgabenordnung und Bundeskindergeldgesetz)).
Schließlich ist im Adoptionsrecht infolge eines Urteils des BVerfG (BVerfGE 133, 59, 73 ff. - Verfassungswidrigkeit der Nichtzulassung der Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner - dazu R. Schmidt, Familienrecht, 7. Aufl. 2017, unten Rn. 599) die Möglichkeit der Sukzessivadoption durch Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich eingeführt worden (Gesetz v. 20.6.2014 - BGBl I S. 786; dazu. R. Schmidt, Familienrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 599). Auch im Übrigen macht das BVerfG deutlich, dass es der biologischen Elternschaft gegenüber der sozial-familiären keinen generellen Vorrang einräumt (R. Schmidt, Familienrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 466 ff./591 ff.).
Und im Transsexuellenrecht ist aufgrund eines Urteils des BVerfG (BVerfGE 121, 175, 189 ff.) § 8 I Nr. 2 Transsexuellengesetz, der die Änderung des Personenstands bei einem verheirateten Transsexuellen nur zuließ, wenn dieser sich zuvor hatte scheiden lassen, aufgehoben worden.
Insgesamt ist damit eine gewisse Tendenz zu erkennen, dass sich auch das BVerfG - sollte es über § 1353 I BGB zu entscheiden haben - modernen familiären Gesellschaftsstrukturen nicht verschließt. Es darf daher die Prognose gewagt werden, dass das BVerfG seine bisherige Interpretation der Ehe als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau zugunsten einer Lebensgemeinschaft ohne Rücksicht auf die Geschlechtszugehörigkeit ändert, bei der allein entscheidend ist, dass die Partner einander Fürsorge und Verantwortung tragen.
Auch nach Verabschiedung des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts am 30.6.2017 bleibt es bei der Wirksamkeit der Eintragung einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft nach dem LPartG. Die Lebenspartner haben gem. § 20a LPartG aber die Möglichkeit, vor dem Standesamt ihre Lebenspartnerschaft in eine Ehe umzuwandeln. Die Umwandlung erfolgt nach Maßgabe des § 17a PStG. Die Begründung einer Lebenspartnerschaft nach dem LPartG ist hingegen – wie sich unmittelbar aus Art. 3 III des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts ergibt – nicht mehr möglich.
Bleibt die Frage zu beantworten, welche abstammungsrechtlichen Auswirkungen das am 30.6.2017 beschlossene Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts und der damit verbundenen Neufassung des § 1353 I S. 1 BGB, wonach eine Ehe auch zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts geschlossen werden kann, auf eine etwaige Elternschaft haben kann. Handelt es sich bei den Ehepartnern um zwei Frauen und gebärt eine der beiden Frauen (durch natürliche oder künstliche Befruchtung) ein Kind, stellt sich die Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis des Kindes zur Ehepartnerin der Mutter. § 1592 (Nr. 1) BGB greift nicht, da die Vorschrift allein die Vaterschaft regelt. Zu denken wäre an eine Adoption, wobei aber weder eine Einzeladoption noch eine Stiefkind- oder Sukzessivadoption in Betracht kommen: Während eine Einzeladoption nur unverheirateten Personen möglich ist (§ 1741 II S. 1 BGB), muss für eine Stiefkindadoption der andere Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung leiblicher Vater/leibliche Mutter eines Kindes sein, das dann der adoptivwillige Ehegatte annehmen kann (§§ 1741 II S. 3, 1749 I S. 1 BGB – dazu Rn 597). Die Annahme eines nach der Eheschließung geborenen Kindes ist also nicht möglich. Aber auch eine Sukzessivadoption scheidet aus: Zum einen betrifft sie nur den Fall, dass der Ehegatte das bereits zuvor vom anderen Ehegatten adoptierte Kind annimmt, und zum anderen muss das vom anderen Ehegatten adoptierte Kind bereits vor der Eheschließung angenommen worden sein (§ 1742 BGB – dazu ebenfalls Rn 597). Nichts von dem trifft auf die vorliegende Konstellation zu. Liefert also das geschriebene Recht keine Möglichkeit der Begründung eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen der Ehefrau der Kindesmutter und deren während der Ehe geborenem Kind, wäre an eine analoge Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB zu denken. Dazu müssten jedoch die Voraussetzungen einer Analogie vorliegen. Diese sind:
- Bestehen einer Regelungslücke (d.h. einer Unvollständigkeit im Gesetz),
- Bestehen einer Interessenlage, die es gebietet, die Lücke bzw. Unvollständigkeit i.S. der vorhandenen Regelung zu schließen (Interessengleichheit),
- Planwidrigkeit der Regelungslücke (d.h. einer versehentlichen Unvollständigkeit im Gesetz) (vgl. dazu auch BGHZ 105, 140, 143; 120, 239, 251 f.; 149, 165, 174; BGH NJW 2003, 1932, 1933; NJW 2016, 2502, 2503; ferner Koch, NJW 2016, 2461, 2463; Kuhn, JuS 2016, 104. Siehe auch R. Schmidt, BGB AT, Rn. 40).
Eine Regelungslücke besteht. Auch das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts v. 30.6.2017 hat die vorliegende Konstellation nicht erfasst. Auch am Vorhandensein einer Interessenlage, die es gebietet, die Lücke bzw. Unvollständigkeit i.S. der vorhandenen Regelung (hier: § 1592 Nr. 1 BGB) zu schließen, besteht nach der hier vertretenen Meinung kein Zweifel. Denn lässt man die Ehe zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts (hier: zwei Frauen) zu und gebärt eine der beiden Frauen während der Ehe ein Kind, gebieten es sowohl die Interessen der Ehepartner als auch die des Kindes, dass eine juristische Elternschaft zu beiden Elternteilen besteht. Schließlich ist die vorhandene Regelungslücke auch planwidrig. Insbesondere ergeben sich aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6665, S. 7 ff.) keine Hinweise darauf, dass dem Gesetzgeber die Auswirkungen auf die vorliegende Konstellation (generell in Abstammungsfragen) bewusst waren. Jedenfalls ist kein plangemäßes Unterlassen (d.h. kein absichtsvoller Regelungsverzicht) erkennbar. Fazit: Liegen damit die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB vor, wird die mit der Kindsmutter verheiratete Frau zum Zeitpunkt der Geburt juristische Mutter. Terminologisch kann man (in Anlehnung an das norwegische Recht) von „Mitmutter“ sprechen (zur diesbezüglichen Rechtslage in Norwegen vgl. Fritze, in: Rieck, Ausländisches Familienrecht, Rn 11 ff.). Von der Zulässigkeit (und Gebotenheit) einer analogen Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB abgesehen, ist selbstverständlich der Gesetzgeber gefordert, das Versäumnis einer gesetzlichen Regelung auszugleichen und eine entsprechende Regelung nachzuholen. Diese könnte etwa durch eine Änderung des § 1591 BGB erfolgen und lauten:
§ 1591 Mutterschaft
Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat. Mutter eines Kindes ist auch die Frau, die zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist.
Freilich wären damit noch nicht die Probleme gelöst, die etwa entstehen könnten, wenn die Ehe, die zur Begründung des rechtlichen Verwandtschaftsverhältnisses geführt hat, für unwirksam erklärt (dazu R. Schmidt, FamR, 7. Aufl. 2017, Rn. 54 f.) oder aufgehoben (dazu R. Schmidt, FamR, 7. Aufl. 2017, Rn. 56 ff.) würde. Hier stellte sich die Frage nach dem Einfluss auf das rechtliche Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Kind und der Ex-Ehefrau der Kindsmutter. Auf der Grundlage der gegenwärtigen Gesetzeslage (konkret: im Fall der juristischen Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 BGB) bestehende Regelungen, die herangezogen werden könnten, lassen sich nicht finden. Denn ist im Fall der juristischen Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 BGB der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratete Mann nicht der biologische Vater, kann dieser bereits die Vaterschaft anfechten (§ 1600 I Nr. 1 BGB). Auf die Frage nach den rechtlichen Auswirkungen, wenn die die Verwandtschaft begründende Ehe nichtig ist oder aufgehoben wurde, kommt es hier also nicht an. Aus Gründen des Kindeswohls wird man die sich bei Ehen unter Frauen möglicherweise stellende Problematik aber ähnlich wie bei einer mit Einwilligung des Ehemanns erfolgten heterologen Insemination lösen müssen: Gemäß § 1600 V BGB kann die Vaterschaft weder durch den Mann noch durch die Mutter angefochten werden, wenn das Kind mit Einwilligung des Mannes und der Mutter durch künstliche Befruchtung mittels Samenspende eines Dritten gezeugt worden ist (siehe dazu R. Schmidt, FamR, 7. Aufl. 2017, Rn. 480). Das Gesetz will damit also verhindern, dass die durch die Zustimmung zur heterologen Insemination übernommene Verantwortung für das Kind durch Anfechtung aufgehoben werden kann. Die gleiche Regelung böte sich bei der „Mitmutterschaft“ (etwa durch Änderung des § 1600 V BGB) an:
§ 1600 Anfechtungsberechtigte; Ausschluss der Anfechtung
(5) Ist das Kind mit Einwilligung des Ehemannes und der Mutter durch künstliche Befruchtung mittels Samenspende eines Dritten gezeugt worden, ist die Anfechtung der Vaterschaft durch den Ehemann oder die Mutter ausgeschlossen. Die Anfechtung einer Mitmutterschaft ist ausgeschlossen, wenn das Kind mit Einwilligung der Ehefrau und der Mutter durch künstliche Befruchtung gezeugt worden ist.
Ist das Kind also mit Einwilligung der Ehefrau der Kindsmutter durch künstliche Befruchtung gezeugt worden, ist ein Anfechtungsrecht der Ehefrau der Kindsmutter ausgeschlossen. Sie gilt weiterhin als juristische Mutter, und zwar auch dann, wenn die Ehe nachträglich für nichtig erklärt bzw. aufgehoben oder schlicht geschieden wurde. Wurde das Kind indes ohne Zustimmung der Ehefrau der Kindsmutter gezeugt, wird man der Ehefrau das gleiche Anfechtungsrecht zubilligen müssen, wie es jetzt schon dem juristischen Vater gem. § 1600 I Nr. 1 BGB (wegen § 1592 Nr. 2 BGB) zusteht.
R. Schmidt (3.7.2017)
19.3.2017: Fehlerhafte Besetzung des Strafgerichts
BGH, Urt. v. 7.11.2016 - 2 StR 9/15 (NJW 2017, 745)
Mit Urteil vom 7.11.2016 hat der BGH entschieden, dass eine Strafgerichtskammer, bei der eine sich im Mutterschutz befindliche Richterin mitgewirkt hat, fehlerhaft besetzt sei, was eine Verletzung des Art. 101 I S. 2 GG (Grundsatz des gesetzlichen Richters) und damit einen absoluten Revisionsgrund (i.S.v. § 338 Nr. 1 StPO) darstelle und somit zur Aufhebung des Strafurteils und zur Zurückverweisung führe. Ob das Urteil des BGH überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Die Frage nach der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts findet ihren Ursprung in Art. 101 I S. 2 GG. Diese Verfassungsbestimmung ist eine wichtige Ausprägung der rechtsstaatlichen Rechtssicherheit (BVerfGE 20, 336, 344) und des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots (BVerfGE 82, 159, 19). Der in Art. 101 I S. 2 GG kodifizierte Grundsatz des gesetzlichen Richters enthält für den Einzelnen die Garantie, dass nur der durch Gesetz im Voraus bestimmte Richter über ihn Recht spricht. Damit soll vermieden werden, dass die Urteilsfindung durch eine Manipulation der Auswahl der im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter sachfremden Einflüssen ausgesetzt ist. Die richterliche Zuständigkeit muss damit durch förmliches Gesetz erfolgen, das die richterliche Zuständigkeit im Voraus abstrakt-generell ausgestaltet. Dieses hat festzulegen, welche Gerichte für welche Verfahren sachlich, örtlich und funktionell zuständig und wie die Spruchkörper regelmäßig zu besetzen sind. Das Gerichtsverfassungsgesetz und die Prozessordnungen (im Rahmen des Strafprozesses die Strafprozessordnung) tragen dem Rechnung (siehe dazu R. Schmidt, Grundrechte, 21. Aufl. 2017, Rn 1002 ff.).
Ergänzt werden die gesetzlichen Bestimmungen durch die Geschäftsverteilungs- und Mitwirkungspläne der Gerichte, durch welche im Voraus die Zuständigkeit der einzelnen Spruchkörper bzw. der einzelnen Richter so genau wie möglich festgelegt wird. Die Festlegung, welcher Richter für (zukünftige) Strafrechtsfälle zuständig ist, darf also nicht erst nach der Tat und nicht durch die Exekutive oder die Justizverwaltung allein geschehen. Sie steht auch nicht zur Disposition der Richter(innen) bzw. Spruchkörper.
Der Entscheidung des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde (aus didaktischen Gründen modifiziert, um den Fokus auf die relevante Problematik zu legen): Gegen drei Angeklagte lief ein strafgerichtliches Verfahren wegen (banden- und gewerbsmäßigen) Betrugs. Das Strafgericht war mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt; ein Ergänzungsrichter wurde nicht hinzugezogen. An der Hauptverhandlung und am Urteil wirkte eine Richterin mit, die im Laufe der Hauptverhandlung schwanger wurde und dies im vorletzten Hauptverhandlungstermin erkennbar noch war. Im letzten Hauptverhandlungstermin und bei der Urteilsverkündung war sie es erkennbar nicht mehr. Aufgrund einer Rückrechnung stellte sich heraus, dass der letzte Hauptverhandlungstermin und die Urteilsverkündung in einem Zeitraum innerhalb von 8 Wochen nach der Entbindung lagen.
Lösungsgesichtspunkte:
In diesem Fall könnte das Gebot des gesetzlichen Richters verletzt sein, wenn die Richterin gegen ein gesetzliches Dienstleistungsverbot verstoßen hätte.
Ein gesetzliches Beschäftigungsverbot enthält § 6 Mutterschutzgesetz (MuSchG). Gemäß Abs. 1 S. 1 der Vorschrift dürfen Mütter bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Jedoch gilt das MuSchG lediglich für Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen (Arbeitnehmerinnen) oder in Heimarbeit tätig sind (§ 1 MuSchG). Für Beamtinnen und Richterinnen gilt das MuSchG also nicht (bzw. nicht direkt). Der Bund hätte auch schon gar keine Gesetzgebungskompetenz, Mutterschutzvorschriften in Bezug auf im Landesdienst stehende Richterinnen und Beamtinnen zu erlassen (Umkehrschluss Art. 74 I Nr. 27 GG: Mutterschutzvorschriften gehören nicht zu den Statusregelungen).
Jedoch enthalten das Bundesbeamtengesetz und die Beamtengesetze der Länder, die – soweit das Deutsche Richtergesetz und die Richtergesetze der Länder nichts anderes bestimmen – auch für die Rechtsverhältnisse der Richter(innen) entsprechend gelten (vgl. etwa § 2 hessisches Richtergesetz), hinsichtlich des Mutterschutzes Ermächtigungsnormen, wonach die Bundesregierung bzw. die jeweilige Landesregierung ermächtigt wird, durch Rechtsverordnung nähere Regelungen zum Mutterschutz zu treffen. Oft finden sich Formulierungen, die das MuSchG für entsprechend anwendbar erklären, freilich unter Berücksichtigung der Eigenart des öffentlichen Dienstes (vgl. etwa § 82 Nr. 1 hessisches Beamtengesetz i.V.m. der hessischen Mutterschutz- und Elternzeitverordnung). Eine solche Verweisung auf ein anderes Gesetz ist zwar nicht ganz unproblematisch, jedenfalls sofern die Verweisung - wie vorliegend - dynamisch erfolgt (d.h. die Anwendbarkeitserklärung auch für den Fall gültig ist, dass das Gesetz, auf das verwiesen wird, zwischenzeitlich geändert wird), aber nicht selten vorzufinden. Besonders virulent wird die Problematik, wenn (dynamisch) auf ein Gesetz eines anderen Gesetzgebers verwiesen wird. Auf diese verfassungsrechtliche Problematik (Vereinbarkeit insb. mit dem Parlamentsvorbehalt, dem Bestimmtheitsgrundsatz, der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG) kann hier nicht weiter eingegangen werden.
Greift gleichwohl demnach der Schutzgedanke aus § 6 MuSchG aufgrund der Verweiskette (mittelbar) auch für Richterinnen (und Beamtinnen), gilt es zu klären, inwieweit das nachgeburtliche Beschäftigungsverbot (das im öffentlichen Dienst als Dienstleistungsverbot zu bezeichnen wäre) zur Disposition der Richterin (bzw. des Spruchkörpers) steht. Nach (insoweit!) zutreffender Auffassung des BGH handelt es sich bei dem nachgeburtlichen Mutterschutz um zwingendes Recht, auf das die Mutter nicht verzichten könne. Hinzu komme, dass es anderenfalls in der Entscheidungsbefugnis der Richterin läge, ob sie selbst weiterhin mitwirke oder der Ergänzungsrichter zum Einsatz käme (BGH NJW 2017, 745, 746).
Ergebnis:
War die Richterin damit an der Mitwirkung in der Hauptverhandlung gehindert, hat ihre gleichwohl erfolgte Mitwirkung zur Folge, dass der Spruchkörper fehlerhaft besetzt war. Auf dieser Grundlage bestand mithin ein absoluter Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 1 StPO (keine vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts).
Bewertung:
Entnimmt man der Regelung des § 6 MuSchG einen Schutzgehalt, der nicht zur Disposition der Mutter steht, hat die Richterin des vorliegenden Falls gegen ein absolutes Dienstleistungsverbot verstoßen. Aber ob das i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO zu einer "nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts" führt, darf nicht ohne weiteres unterstellt werden. Vielmehr wäre dies nur dann der Fall, wenn die gesetzlichen Mutterschutzvorschriften "Vorschriften i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO" wären. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das nicht der Fall. Unter Zugrundelegung einer teleologischen Auslegung des § 338 Nr. 1 StPO sind unter "Vorschriften" i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO (nur) solche gemeint, die die richterliche Zuständigkeit im Voraus abstrakt-generell ausgestalten (so ist die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts im GVG, im DRiG und in der StPO geregelt, vgl. §§ 21a ff., 59, 70, 76 II, §§ 78 II, 122 GVG, §§ 18, 19, 28, 29, 37 DRiG). Die Richterin des vorliegenden Falls verstieß zwar gegen Mutterschutzvorschriften. Dies aber ließ die ursprüngliche Geschäftsverteilung und Zuständigkeit unberührt. Ein Verstoß gegen die Verfassungsbestimmung des Art. 101 I S. 2 GG, die - wie aufgezeigt - für den Einzelnen die Garantie enthält, dass nur der durch Gesetz im Voraus bestimmte Richter über ihn Recht spricht, ist damit gerade nicht zu erkennen.
Fazit:
Unter Zugrundelegung einer teleologischen, am Schutzgehalt des Art. 101 I S. 2 GG orientierten Auslegung des § 338 Nr. 1 StPO führt ein Verstoß gegen Mutterschutzvorschriften nicht zur fehlerhaften Besetzung des Gerichts, weil die ursprüngliche Geschäftsverteilung und Zuständigkeit gerade unberührt bleibt.
Dass mit dieser Auslegung § 6 MuSchG u.U. weitgehend leerliefe, ist richtig. Aber kann diese Mutterschutzvorschrift dazu führen, dass Entscheidungen im Außenverhältnis unwirksam sind? Man denke an die Konstellation, dass in einer juristischen Staatsprüfung eine Richterin/Beamtin/Rechtsanwältin mitwirkt, die 6 Wochen zuvor entbunden hat, was in der Prüfungskommission niemand weiß. Soll dann die Prüfung erfolgreich angefochten werden können mit der Begründung, die Kommission sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen? Insgesamt ist der Gesetzgeber aufgefordert, eine allen Einwänden gerecht werdende Regelung zu treffen.
R. Schmidt (19.3.2017)
14.3.2017: Kopftuchverbot durch Arbeitgeber
EuGH, Urt. v. 14.3.2017 - C-157/15, C-188/15
Mit Urteil vom 14.3.2017 hat der EuGH in zwei Verfahren entschieden, dass Arbeitgeber in ihrem Betrieb das Tragen eines Kopftuchs durch Mitarbeiterinnen untersagen können, wenn in dem Betrieb weltanschauliche Zeichen generell verboten sind und es sachliche Gründe für ein solches Verbot gibt, die bei einer Abwägung den Vorrang genießen. Allein der Wunsch eines Kunden, Leistungen nicht von einer Frau mit Kopftuch erbringen zu lassen, genüge für ein Verbot jedenfalls nicht. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
In den vorliegenden Verfahren geht es um die Frage nach der Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit Art. 2 II lit. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). Zweck dieser Richtlinie ist gem. ihres Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.
Nach Art. 2 I der Richtlinie bedeutet "Gleichbehandlungsgrundsatz", dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines in Art. 1 genannten Grundes geben darf.
Eine unmittelbare Diskriminierung liegt gem. Art. 2 II lit. a der Richtlinie 2000/78/EG vor, wenn eine Person wegen eines in Art. 1 genannten Grundes in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.
Eine mittelbare Diskriminierung liegt gem. Art. 2 II lit. b der Richtlinie 2000/78/EG vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich (Art. 2 II lit. b i der Richtlinie).
Erwägungsgrund 23 der Richtlinie lautet: "Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, dem Alter oder der sexuellen Ausrichtung zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Diese Bedingungen sollten in die Informationen aufgenommen werden, die die Mitgliedstaaten der Kommission übermitteln."
Bleibt nun eine nationale Regelung hinter diesen Zielen und Grundsätzen zurück, muss sie im Sinne dieser Richtlinie ausgelegt werden. Dabei muss wiederum die Richtlinie am Maßstab des europäischen Primärrechts ausgelegt werden.
Kann eine Vorschrift des nationalen Rechts trotz Bemühung, sie unionsrechtskonform auszulegen, mit dem EU-Recht (primäres Unionsrecht, aber auch sekundäres Unionsrecht wie Verordnung, Richtlinie) nicht in Einklang gebracht werden, geht die ganz herrschende Meinung von einem Anwendungsvorrang des EU-Rechts aus (vgl. nur EuGH NVwZ 2000, 497 ff.; BVerfGE 121, 1, 15 ff.; 126, 286, 302; BVerfG NJW 2010, 833, 835; NJW 2001, 1267; NJW 2016, 1149, 1150; BVerwG NVwZ 2000, 1039; Safferling, NStZ 2014, 545 ff.; vgl. auch F. Kirchhof, NVwZ 2014, 1537, 1538). Das Prinzip des Anwendungsvorrangs ist unmittelbare Folge der Gründungsverträge, der Verträge von Maastricht (EUV), Amsterdam, Nizza und Lissabon („Änderungsverträge“) sowie des sich aus diesen Verträgen ergebenden Prinzips der Sicherung und Funktionsfähigkeit der Union (Effet-utile-Prinzip), das beeinträchtigt würde, wenn nationale Bestimmungen im Kollisionsfalle dem Europäischen Recht vorgingen (siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 355). Vorliegend war daher (zunächst) zu prüfen, ob die nationale Regelung mit der Richtlinie vereinbar ist. Dazu stellte das vorlegende Gericht dem EuGH die Frage, ob Art. 2 II lit. a der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen sei, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die allgemein das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen und/oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, eine durch diese Richtlinie verbotene unmittelbare Diskriminierung darstelle.
Zur Rechtssache 157/15: G4S Secure Solutions ist ein privates Unternehmen mit Sitz in Belgien, das für Kunden aus dem öffentlichen und privaten Sektor u.a. Rezeptions- und Empfangsdienste erbringt. In den Dienst dieses Unternehmens trat Frau A, die muslimischen Glaubens ist, im Jahre 2003 als Rezeptionistin ein.
Bei G4S galt zu dieser Zeit eine ungeschriebene Regel, wonach Arbeitnehmer am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, philosophischen und/oder religiösen Überzeugungen tragen durften. Nachdem A ihrem Arbeitgeber angekündigt hatte, dass sie (gleichwohl) beabsichtige, während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen, teilte ihr die Geschäftsleitung mit, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht geduldet werde, da das sichtbare Tragen politischer, philosophischer und/oder religiöser Zeichen der von G4S bei ihren Kundenkontakten angestrebten Neutralität widerspreche. Dennoch hielt A an ihrer Absicht fest. Daraufhin sprach die Geschäftsleitung die Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus. A wiederum focht die Entlassung vor den belgischen Gerichten an. Das mit der Sache befasste Kassationsgericht fragte den EuGH nach der Auslegung der Unionsrichtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (s.o.). Es wollte wissen, ob das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer allgemeinen internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, eine unmittelbare Diskriminierung darstelle.
Die Entscheidung des EuGH:
Zutreffend arbeitet der EuGH heraus, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz (auch im Sinne der Richtlinie) sowohl eine unmittelbare als auch eine mittelbare Diskriminierung u.a. wegen der Religion verbietet. Der Begriff der Religion umfasse sowohl den Umstand, religiöse Überzeugungen zu haben, als auch die Freiheit, diese in der Öffentlichkeit zu bekunden. Eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen und/oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, sei daher geeignet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie darzustellen. Daher kann auch das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, (unmittelbar) diskriminierend wirken.
Da aber nicht jede Ungleichbehandlung eine Diskriminierung darstellt, liegt auch nach Auffassung des EuGH nicht stets eine Unvereinbarkeit mit der Richtlinie 2000/78/EG vor. So könne eine Ungleichbehandlung durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt sein, wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich seien.
So sei der Wille des Betriebsinhabers, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, grundsätzlich nicht zu beanstanden.
Auch beziehe sich die interne Regel von G4S auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen und gelte damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen. Nach dieser Regel würden alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden.
Dass die interne Regel auf Frau A anders angewandt worden wäre als auf andere Arbeitnehmer(innen) von G4S, sei nicht ersichtlich. Folglich begründe eine solche interne Regel keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne der Richtlinie.
Der Wunsch eines Arbeitgebers, seinen öffentlichen und privaten Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, sei insbesondere dann rechtmäßig, wenn nur die Arbeitnehmer einbezogen werden, die mit den Kunden in Kontakt treten. Dieser Wunsch gehöre nämlich zu der von der Grundrechte-Charta der EU anerkannten unternehmerischen Freiheit. Das Verbot, Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, sei zudem zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werde. Wenn also G4S vor der Entlassung von Frau A eine entsprechende allgemeine und undifferenzierte Politik eingeführt hatte, sei dies nicht zu beanstanden.
Schließlich sei ausschlaggebend, ob sich das Verbot nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden Arbeitnehmer von G4S richte. Sei dies der Fall, sei das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen.
Ferner sei zu berücksichtigen, ob es G4S unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge - und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen - möglich gewesen wäre, Frau A einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen.
Es liege auch keine mittelbare Diskriminierung vor, die etwa in Betracht komme, wenn das allgemeine Verbot des sichtbaren Tragens von politischen, philosophischen und/oder religiösen Zeichen am Arbeitsplatz nicht strikt gehandhabt werde, d.h. wenn trotz formalen Verbots Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in tatsächlicher Hinsicht in besonderer Weise benachteiligt würden. Aber auch insoweit seien keine Anhaltspunkte ersichtlich.
Bewertung:
Das Urteil überzeugt. Der EuGH arbeitet heraus, dass die Religionsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Sie steht unter dem Vorbehalt widerstreitender Interessen und kann eingeschränkt werden, soweit die Einschränkung diskriminierungsfrei erfolgt und die Einschränkung verhältnismäßig ist.
Zur Rechtssache C-188/15: Frau B erhielt bei der Fa. Micropole, einem privaten Unternehmen mit Sitz in Frankreich, einen unbefristeten Arbeitsvertrag als Softwaredesignerin. Noch vor der Einstellung wurde ihr mitgeteilt, dass das Tragen des islamischen Kopftuchs Probleme bereiten könne, wenn sie mit den Kunden dieses Unternehmens in Kontakt trete. Gleichwohl trug B das islamische Kopftuch auch während Kundenkontakten. Nach einer Beschwerde eines ihr von Micropole zugewiesenen Kunden bekräftigte Micropole den Grundsatz notwendiger Neutralität im Verhältnis zu ihren Kunden und bat B, kein Kopftuch mehr zu tragen. Dem kam B jedoch nicht nach, woraufhin ihr Arbeitsverhältnis gekündigt wurde. B hielt diese Entlassung für diskriminierend und erhob Klage vor dem Arbeitsgericht.
Das mit der Sache befasste Kassationsgericht fragte den EuGH nach der Auslegung der Unionsrichtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (s.o.). Es wollte wissen, ob der Wille eines Arbeitgebers, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, als “wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung” im Sinne der Richtlinie (d.h. des Erwägungsgrundes 23) angesehen werden könne.
Die Entscheidung des EuGH:
Der EuGH hat entschieden, dass der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann.
Wie in der Rechtssache 157/15 hat der EuGH entschieden, dass eine Ungleichbehandlung durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt sein könne, wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich seien. Bestehe eine interne Regel, die Mitarbeitern mit Kundenkontakt das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen verbiete, und würden damit alle Arbeitnehmer(innen) des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden, sei dies grundsätzlich nicht zu beanstanden.
Lediglich, wenn die dem Anschein nach neutralen internen Regeln tatsächlich dazu führen können, dass bestimmte Personen in besonderer Weise benachteiligt werden, liege ein Verstoß gegen die Richtlinie vor.
Sollte die Entlassung von B nicht auf eine interne Regel gestützt sein, wäre zu prüfen, ob der Wille eines Arbeitgebers, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, i.S.v. Art. 4 I der Richtlinie i.V.m. deren Erwägungsgrund 23 gerechtfertigt wäre. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine von der Richtlinie verbotene Ungleichbehandlung keine Diskriminierung bedeutet, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.
Ein mit der Religion im Zusammenhang stehendes Merkmal könne nur unter sehr begrenzten Bedingungen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen. (Subjektive) Erwägungen wie der Wille des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, gehörten nicht dazu.
Bewertung: Auch dieses Urteil überzeugt. Der EuGH arbeitet heraus, dass diskriminierungsfreie (betriebs-)interne Regelungen, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen verbieten und damit alle Arbeitnehmer(innen) des Unternehmens gleichbehandeln, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden, der Religionsfreiheit jedenfalls dann vorgingen, wenn es um das Tragen politischer, philosophischer und/oder religiöser Symbole bzw. Kleidungsstücke bei Kundenkontakten gehe. Fehlt es also am Kundenkontakt, dürfte ein Verbot des Tragens sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen hingegen nicht oder nur sehr schwer zu rechtfertigen sein.
Bedeutung für nationale Sachverhalte/künftige Entscheidungen des BVerfG: Der EuGH arbeitet heraus, dass die Religionsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Sie steht unter dem Vorbehalt widerstreitender Interessen und kann eingeschränkt werden, soweit die Einschränkung verhältnismäßig ist und diskriminierungsfrei erfolgt. Im geschäftlichen Verkehr mit Kunden dürfte die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und/oder religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber den Vorrang genießen, solange sie nur diskriminierungsfrei erfolgt, d.h. allen Arbeitsnehmer(innen) mit Kundenkontakt undifferenziert vorschreibt, sich politisch, philosophisch und/oder religiös neutral zu kleiden. In Deutschland wäre ein arbeitgeberseitiger Erlass einer solchen generellen Bekleidungsvorschrift aber mitbestimmungspflichtig (§ 87 I Nr. 1 BetrVG), d.h. der Betriebsrat müsste (sofern vorhanden) zustimmen.
Die Rechtsprechung des BVerfG wird sich jedenfalls in Bezug auf Sachverhalte mit Unionsbezug daran messen lassen müssen, d.h. das BVerfG wird in europarechtskonformer Weise unter Beachtung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze eine einschränkendere Auslegung des Art. 4 I GG vornehmen müssen. Das gilt jedenfalls, soweit es im Privatrecht um eine Kollision der Religionsfreiheit mit unternehmerischen Interessen geht. Zur Frage nach der Übertragbarkeit auf das öffentliche Recht kann als Beispiel das Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin muslimischen Glaubens in Schule und Unterricht herangezogen werden. Das Tragen des muslimischen Kopftuches im Unterricht steht im Widerstreit zum staatlichen Integrations-, Bildungs- und Erziehungsauftrag i.V.m. dem Prinzip religiös-weltanschaulicher Neutralität (Art. 4 I, II u. 7 I GG), zur negativen Bekenntnisfreiheit der Schüler bzw. der Eltern (Art. 4 I GG) sowie zum elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 II GG). Das BVerfG hat das Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin muslimischen Glaubens in Schule und Unterricht wegen der Bedeutung der gemäß der ständigen Rechtsprechung des BVerfG vorbehaltlos gewährleisteten Religionsfreiheit bislang nicht beanstandet. Dies gilt jedoch auch nach der Rechtsprechung des BVerfG nur, solange von dem Kopftuch keine Suggestivwirkung in Form einer fundamentalen Grundeinstellung auf die Schüler ausgeht und die Persönlichkeit der Lehrerin auch sonst die Gewähr bietet, dass sie den Schülern religiös-weltanschaulich offen gegenübertritt und sie in keiner Weise zu missionieren oder zu indoktrinieren versucht (siehe BVerfGE 108, 282, 294 ff.). Ob das BVerfG solche Fälle in Zukunft anders entscheidet bzw. entscheiden muss, bleibt abzuwarten. Auf der Basis der besprochenen EuGH-Entscheidung wäre es durchaus vorstellbar, dass Schulbehörden diskriminierungsfreie (schul-)interne Regelungen erlassen, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer und/oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen verbieten und damit alle Lehrer(innen) gleichbehandeln, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben wird, sich während des Unterrichts neutral zu kleiden. Das stünde zwar der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG entgegen, befände sich aber wohl auf der Linie der EuGH-Entscheidung.
Die Bedeutung dieser Ausführungen zeigt sich zudem etwa dann, wenn der Staat einerseits anordnet, in sämtlichen Klassenzimmern einer Schule ein Kreuz oder ein Kruzifix anzubringen zu lassen, andererseits aber das Tragen religiöser Symbole (etwa ein Kopftuch oder einen gesichtsverhüllenden Schleier) verbietet, muslimische Mädchen zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht zwingt oder rituelle Gebete im Schulgebäude verbietet, wenn dadurch der „Schulfriede“ gestört würde. Auch hier könnte die EuGH-Entscheidung dazu führen, dass die Grundsätze der staatlichen Neutralitätspflicht in Bezug auf religiös-weltanschauliche Angelegenheiten enger gefasst werden müssen.
Die künftige Entwicklung dürfte überaus spannend werden.
R. Schmidt (14.3.2017)
7.3.2017: BGH: Adoption des Kindes des Lebensgefährten führt zum Erlöschen von dessen Verwandtschaftsverhältnis zum Kind
BGH, Beschl. v. 8.2.2017 - XII ZB 586/15
Mit Beschluss vom 8.2.2017 hat der BGH entschieden, dass die Adoption des Kindes des Lebensgefährten nicht möglich sei, ohne dass dies zum Erlöschen von dessen Verwandtschaftsverhältnis zum Kind führe. Der BGH begründet seine Rechtsprechung mit der eindeutigen Formulierung in §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB. Ob dem gefolgt werden kann oder ob dem BGH auch eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Nach der Grundsatznorm des § 1741 I S. 1 BGB ist die Annahme als Kind unter zwei Voraussetzungen zulässig: Sie muss dem Wohl des Kindes dienen und es muss zu erwarten sein, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. Der Kreis der Annahmeberechtigten ist in §§ 1741 ff. BGB festgelegt, die an das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Ehe anknüpfen (vgl. zum Folgenden R. Schmidt, Familienrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 597).
Wer nicht verheiratet ist, kann ein Kind nur allein annehmen (§ 1741 II S. 1 BGB). Eine gemeinschaftliche Adoption durch ein unverheiratetes Paar ist also nicht möglich. Der Annehmende muss das 25. Lebensjahr vollendet haben (§ 1743 S. 1 BGB).
Möchte ein Ehepaar ein Kind annehmen, kann es dies grds. nur gemeinschaftlich (§§ 1741 II S. 2, 1754 I BGB – „Normalfall“ einer Adoption). Dabei muss ein Ehegatte das 25. Lebensjahr, der andere das 21. Lebensjahr vollendet haben (§ 1743 S. 2 BGB). Die Annahme eines Kindes durch einen Ehegatten allein ist also grds. nicht möglich. Ein Ehegatte kann ein Kind aber dann allein annehmen, wenn der andere Ehegatte das Kind nicht annehmen kann, weil er geschäftsunfähig ist oder das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 1741 II S. 4 BGB). Möglich ist auch eine sog. Stiefkindadoption: Für den Fall, dass ein Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung leiblicher Vater/leibliche Mutter eines Kindes war, kann der andere Ehegatte das Kind seines Ehegatten allein annehmen (§ 1741 II S. 3 BGB). Dies setzt grds. die Einwilligung des anderen Ehegatten (§ 1749 I S. 1 BGB) und des anderen Elternteils (§ 1747 BGB) voraus, unter den Voraussetzungen des § 1746 BGB auch die des Kindes. Mit der Stiefkindadoption erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines gemeinsamen Kindes der Eheleute (§ 1754 I BGB – dazu R. Schmidt, Familienrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 598).
Auch kann ein Ehegatte das von dem anderen Ehegatten vor der Eheschließung angenommene Kind adoptieren, sog. Sukzessivadoption (§ 1742 BGB). Zwar entspricht eine „Weiterreichung“ eines adoptierten Kindes nicht unbedingt dessen Wohl, aber dadurch, dass gem. § 1742 BGB das Kind das gemeinsame Kind der Ehegatten wird, ist eine Gefährdung des Kindeswohls grundsätzlich nicht zu befürchten. Denn das adoptierte Kind wird ja nicht „weitergereicht“, sondern erhält einen zusätzlichen Adoptivelternteil.
Nimmt ein Ehepaar ein Kind an oder nimmt ein Ehegatte ein (leibliches oder adoptiertes) Kind des anderen Ehegatten an, erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten (§ 1754 I BGB). In den anderen Fällen erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden (§ 1754 II BGB).
Nach diesen eindeutigen gesetzlichen Regelungen ist eine gemeinschaftliche Adoption durch ein unverheiratetes Paar also ebenso wenig möglich wie die gemeinschaftliche Adoption durch Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem LPartG. Für eingetragene Lebenspartnerschaften hat der Gesetzgeber (nicht zuletzt aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung) aber (andere) Adoptionsmöglichkeiten geschaffen.
Mit der Annahme wird ein neues Verwandtschaftsverhältnis begründet. Der Angenommene erhält gem. § 1754 II BGB die rechtliche Stellung eines leiblichen Kindes mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten (gesetzliches Erbrecht nach §§ 1922 ff. BGB, Sorgerecht gem. §§ 1626 ff. BGB, Unterhaltsansprüche nach §§ 1601 ff. BGB etc. - Wellenhofer, Familienrecht, § 36 Rn 15; Schwab, Familienrecht, § 70 Rn 848). Zu den bisherigen Verwandten erlischt das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes (§ 1755 I S. 1 BGB, freilich unter Beachtung des § 1756 BGB).
Bei nicht miteinander verheirateten oder verpartnerten Personen (also bei Personen, die nicht in ehelicher Lebensgemeinschaft bzw. nicht in eingetragener Lebenspartnerschaft miteinander leben) bedeuten diese Regelungen, dass ein Partner zwar das Kind des anderen adoptieren kann, jedoch nur mit der Folge, dass dadurch das Verwandtschaftsverhältnis des anderen zu seinem Kind erlischt.
Die Entscheidung des BGH (aus didaktischen Gründen leicht abgewandelt und vereinfacht): M und F leben in nichtehelicher Lebensgemeinschaft. F ist Mutter zweier minderjähriger Kinder, die sie aus der damaligen Ehe mit dem bereits vor einigen Jahren verstorbenen D mit in die Beziehung gebracht hat. M möchte nunmehr die beiden Kinder adoptieren mit der Maßgabe, dass diese die rechtliche Stellung als gemeinschaftliche Kinder von M und F erlangen. Die zuständige Behörde weist M und F darauf hin, dass eine Adoption der beiden Kinder durch M zwar grundsätzlich möglich sei, dann aber F ihr Verwandtschaftsverhältnis zu ihren beiden Kindern verliere. M und F stellen daher einen entsprechenden Antrag vor dem Familiengericht, der jedoch erfolglos bleibt. Beschwerde vor dem OLG und Rechtsbeschwerde vor dem BGH bleiben ebenfalls erfolglos.
Auf der Basis des geschriebenen Rechts unter Zugrundelegung der wörtlichen Auslegung sind die Gerichtsentscheidungen nicht zu beanstanden. Wer nicht verheiratet ist, kann gemäß der Regelung des § 1741 II S. 1 BGB ein Kind nur allein annehmen. Mit der Annahme erlischt gem. § 1755 I S. 1 BGB das Verwandtschaftsverhältnis des angenommenen Kindes zu seinen Eltern/seinem Elternteil. Im Fall der Adoption durch M verlöre F also ihre rechtliche Stellung als Elternteil. Um diese Folge zu vermeiden, wären M und F mithin gezwungen, zunächst miteinander die Ehe einzugehen. Denn für den Fall, dass ein Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung leiblicher Vater/leibliche Mutter eines Kindes war, kann der andere Ehegatte das Kind seines Ehegatten allein annehmen (§ 1741 II S. 3 BGB). Mit dieser sog. Stiefkindadoption erlangt das Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Eheleute (§ 1754 I BGB). (Anm.: Nach den Urteilsfeststellungen des Familiengerichts war M und F die Möglichkeit der Eheschließung mit anschließender Sukzessivadoption zwar bewusst, dies lehnten sie aber kategorisch ab, weil F damit ihren Anspruch auf Hinterbliebenenrente verloren hätte).
Der BGH begründet seine Entscheidung mit dem Wortlaut der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB, deren Sinn und Zweck und systematischer Stellung sowie mit dem Willen des Gesetzgebers, der bewusst keine Sukzessivadoption bei nicht miteinander verheirateten bzw. verpartnerten Paaren geregelt habe, was insgesamt eine teleologische Reduktion der Vorschriften nicht zulasse. Auch verstießen die Regelungen und die sie anwendenden Gerichte nicht gegen Grundrechte. So seien Art. 6 I GG (Recht auf Familie), Art. 6 II S. 1 GG (Elternrecht), Art. 3 I GG (allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz; Diskriminierungsverbot) und Art. 2 I i.V.m. 6 II S. 1 GG (Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung) nicht verletzt.
Art. 6 I GG sei nicht verletzt, weil nach der Rspr. des BVerfG jedenfalls bei einer lediglich tatsächlichen (aber nicht rechtlichen) Lebens- und Erziehungsgemeinschaft eine Versagung einer Adoption nicht in Art. 6 I GG eingreife.
Art. 6 II S. 1 GG sei nicht verletzt, weil M aufgrund seiner lediglich sozialen Elternschaft nicht in den persönlichen Schutzbereich falle.
Art. 3 I GG sei nicht verletzt, weil die zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft auf der einen Seite und nichtehelicher Lebensgemeinschaft auf der anderen Seite differenzierende Adoptionsregelung weder willkürlich sei noch einen Sachgrund für die Unterscheidung vermissen ließe. Trotz sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandels, wonach immer mehr Kinder aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften hervorgingen, ändere sich nichts daran, dass sich eine Ehe von einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft deutlich abhebe.
Schließlich sei Art. 2 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG auf Seiten der Kinder nicht verletzt, weil der Gesetzgeber den ihm insoweit bei der Frage nach dem Maß der Schutzpflicht zustehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum nicht verletzt habe.
Da der BGH keine Verfassungswidrigkeit erblickte, sah er auch von einer Richtervorlage gem. Art. 100 I GG ab.
Wegen des Einflusses, den die EMRK auf die nationale Rechtsordnung ausübt, sah sich der BGH schließlich veranlasst, die Vereinbarkeit der Regelungen mit Art. 8 I EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens) zu prüfen. Denn jedenfalls schützt Art. 8 I EMRK auch tatsächliche Familienzusammenschlüsse (BGH a.a.O. unter Verweis auf EGMR FamRZ 2008, 377, 378). Unter Anwendung der Schrankenregelung in Art. 8 II EMRK erblickte der BGH aber keinen Verstoß der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB gegen Art. 8 I EMRK.
Bewertung:
Gerade aufgrund der sich wandelnden gesellschaftlich-familiären Strukturen („Patchworkfamilien“, „Regenbogenfamilien“, Möglichkeiten der Ei- und Samenspende, Drei-Eltern-IVF, biologische und soziale Vaterschaft, Adoptionswunsch von gleichgeschlechtlichen Paaren und nichtehelichen Lebensgemeinschaften) hätte es sich aufgedrängt, (auch im Adoptionsrecht) den Schutz aus Art. 6 I GG auf moderne gesellschaftliche Strukturen zu erstrecken und faktische Familienstrukturen einzubeziehen. Da die fraglichen Regelungen der §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB einer solchen Auslegung des Art. 6 I GG nicht gerecht werden, hätte sich schon allein deswegen eine konkrete Normenkontrolle (Richtervorlage) gem. Art. 100 I GG entgegen der Auffassung des BGH angeboten. Hinzu kommt, dass entgegen der Auffassung des BGH Art. 2 I i.V.m. Art. 6 II S. 1 GG auf Seiten der Kinder sehr wohl verletzt ist. Zwar ist allgemein (und insbesondere auch vom BVerfG) anerkannt, dass der Gesetzgeber bei der Frage nach dem Maß von staatlichen Schutzpflichten einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum hat, dieser Spielraum ist aber überschritten, wenn eine Differenzierung von zwei vergleichbaren Sachverhalten ohne hinreichenden Sachgrund erfolgt. Vorliegend geht es um die unterschiedliche Behandlung von Kindern mit nur einem Elternteil, der in einer (neuen) Ehe (oder Lebenspartnerschaft nach dem LPartG) lebt, und Kindern, deren Elternteil mit seinem neuen Partner zusammenlebt, ohne mit diesem eine rechtliche Beziehung in Form einer Ehe oder Lebenspartnerschaft eingegangen zu sein. Abgesehen vom Verlust des Verwandtschaftsverhältnisses zu ihrem (bisherigen) Elternteil verlieren die betroffenen Kinder ihr gesetzliches Erbrecht nach §§ 1922 ff. BGB, ihre Sorgerechtsansprüche gem. §§ 1626 ff. BGB und ihre Unterhaltsansprüche nach §§ 1601 ff. BGB, wenn der (bisherige) Elternteil der Adoption durch seinen nichtehelichen Lebenspartner zustimmt.
Warum in diesen Fällen für die betroffenen Kinder unterschiedliche Wirkungen einer Adoption hinzunehmen sind, ist nicht ersichtlich; mithin fehlt ein Sachgrund für die unterschiedliche Adoptionsregelung. §§ 1741 II S. 1, 1755 I S. 1 BGB verstoßen damit (auch) gegen Art. 2 I i.V.m. Art. 6 I, II S. 1 GG. Eine konkrete Normenkontrolle wäre damit (in zweifacher Hinsicht) angezeigt gewesen.
Freilich unberührt von diesen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen hätte man das Rechtsschutzbedürfnis von M und F in Frage stellen können. Denn offensichtlich ging es ihnen nicht um die grundsätzliche Klärung der Möglichkeit der Stiefkindadoption im Rahmen eines familiären Leitbilds der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, sondern wohl nur darum, auf die Eingehung der Ehe nur deshalb zu verzichten, um den Anspruch auf Hinterbliebenenrente nicht zu verlieren.
R. Schmidt (7.3.2017)
28.2.2017: Selfie aus der Wahlkabine
Wie der Presse zu entnehmen ist, plant gegenwärtig das Bundesinnenministerium, das Fotografieren oder Filmen der Stimmabgabe bei den Bundestagswahlen zu verbieten, insbesondere, um das Fertigen und Online-Stellen von Selfies in und aus der Wahlkabine zu unterbinden. Dazu soll § 56 II der Bundeswahlordnung geändert werden. Ob die Umsetzung einer solchen Überlegung rechtlich möglich wäre, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Dass in einer Demokratie alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird, ist selbstverständlich. Art. 20 II GG stellt dies für die Bundesrepublik Deutschland klar. In einer parlamentarischen Demokratie, in der das Volk das Parlament wählt, sind also die Parlamentswahlen von entscheidender Bedeutung (siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 91).
Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung enthält das Grundgesetz indes keine Vorschriften über das Wahlsystem. Die Art. 38 I S. 1 und 28 I S. 2 GG verlangen nur, dass die Vertretungskörperschaften in Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden nach den Prinzipien der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl gewählt werden müssen. Das Wahlsystem selbst und dessen Ausformung obliegen daher der Entscheidung des einfachen Gesetzgebers (vgl. Art. 38 III GG), der über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt (vgl. dazu BVerfGE 97, 317, 327 ff; 95, 335, 349 ff.; BVerfG NVwZ 2012, 1101, 1102 ff.). Auf Bundesebene sind diesbezüglich das Bundeswahlgesetz (BWahlG) und die Bundeswahlordnung (BWahlO) erlassen worden.
Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes sind, wie aufgezeigt, in Art. 38 I S. 1 GG genannt: die Allgemeinheit der Wahl, die Unmittelbarkeit der Wahl, die Freiheit der Wahl, die Gleichheit der Wahl und die Geheimheit der Wahl. Im vorliegenden Zusammenhang ist der Wahlrechtsgrundsatz der Geheimheit der Wahl entscheidend. Dieser Wahlrechtsgrundsatz stellt den wichtigsten institutionellen Schutz der Wahlfreiheit dar (vgl. nur BVerfGE 134, 25, 31 ff.; 99, 1, 13 mit Verweis auf Frowein, AöR 99 [1974], S. 72, 105), die unabdingbare Voraussetzung für die demokratische Legitimation der Gewählten ist (BVerfGE 44, 125, 139; 99, 1, 13).
Der Grundsatz der Geheimheit der Wahl dient der Absicherung der Wahlfreiheit, da bei Offenbarung der Stimme leicht Druck ausgeübt werden könnte. Zudem soll die Wählerstimme möglichst authentisch sein. Der Wahlgrundsatz der Geheimheit bezieht sich daher nicht nur auf den Wahlvorgang, d.h. die Stimmabgabe, sondern erstreckt sich auch auf die individuelle Wahlvorbereitung (BVerfGE 4, 375, 386 f.; 12, 33, 35 f.). Auf niemanden darf also im Vorfeld der Wahl oder während der Wahl Druck ausgeübt werden, die Stimme zu offenbaren, eine Tendenz erkennen zu lassen oder einen bestimmten Kandidaten/eine bestimmte Partei zu wählen (siehe R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 110).
Während der Stimmabgabe bedeutet das Recht zur geheimen Wahl nach h.M. gleichzeitig die Pflicht, die Stimme geheim abzugeben. Der Grundsatz der Geheimheit steht demnach also nicht zur Disposition des Wählers. Der h.M. zufolge dürfen weder mehrere gleichzeitig die Wahlzelle benutzen, noch dürfen Wahlberechtigte ihre Stimme offen abgeben (vgl. nur v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 38 Rn. 57). Vor oder nach der Wahlhandlung außerhalb des Wahllokals könne der Wähler jedoch nicht gehindert werden, seine Stimmabgabe zu offenbaren.
Ob die von der h.M. vertretene Auffassung, der Wähler könne während des Wahlvorgangs auf die Geheimheit seiner Stimmabgabe nicht verzichten, überzeugt, hängt von der Bestimmung des Schutzzwecks dieses Wahlrechtsgrundsatzes ab. Nach der hier vertretenen Auffassung steht die Geheimheit der Stimmabgabe nur dann nicht zur Disposition des Wählers, wenn man ihr ausschließlich oder überwiegend einen objektiv-rechtlichen Charakter beimisst. Dieser könnte darin gesehen werden, dass die Geheimheit der Wahl der Absicherung der Wahl ingesamt und damit des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips dient. Auch Ansehen und Bedeutung einer Parlamentswahl werden sicherlich durch den Grundsatz der Geheimheit unterstrichen.
Interpretiert man den Wahlrechtsgrundsatz der Geheimheit indes subjektiv-rechtlich, indem man die auch auch von der h.M. getragenen o.g. Schutzzwecke (Schutz vor Einflussnahme; Freiheit bei der Stimmabgabe) heranzieht, das Kriterium der Absicherung der Wahl ingesamt und damit des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips aber anderen Wahlrechtsgrundsätzen, insbesondere dem Wahlrechtsgrundsatz der Freiheit der Wahl, zuordnet, erscheint die Auffassung der h.M. jedenfalls nicht zwingend.
Zum (geplanten) "Handy- und Selfieverbot":
Da nach der soeben dargestellten Interpretation des Wahlgrundsatzes der Geheimheit durch die h.M. der Wähler nicht darauf verzichten kann, dürfte das Fertigen eines Selfies mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und das anschließende Posten bspw. auf Facebook in der Tat das Wahlgeheimnis verletzen. Soweit als Begründung für das geplante Verbot angeführt wird, derartiges Verhalten sei mit dem Schutz des Wählers nicht vereinbar, überzeugt dies nicht. Denn wie ausgeführt, dient der Grundsatz der Geheimheit der Wahl der Absicherung der Wahlfreiheit, soll also gewährleisten, dass auf niemanden im Vorfeld der Wahl oder während der Wahl Druck ausgeübt werden darf, die Stimme zu offenbaren, eine Tendenz erkennen zu lassen oder einen bestimmten Kandidaten/eine bestimmte Partei zu wählen. Offenbart aber ein Wähler freiwillig sein Stimmverhalten, bedarf er des Schutzes nicht. Versteht man den Grundsatz der Geheimheit somit wie hier subjektiv-rechtlich, ist die Geheimheit der Wahl so zu verstehen, dass ein Recht auf, aber keine Pflicht zur Geheimhaltung besteht. Fertigt also jemand ein Selfie mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und postet das Foto anschließend bspw. auf Facebook, verzichtet er auf den Schutz des Wahlgeheimnisses und dessen Ratio greift insoweit nicht. Man könnte allenfalls darüber nachdenken, das Selfieverbot damit zu begründen, dass durch das Posten bei Facebook spätere Wähler beeinflusst werden. Doch eine „Beeinflussung“ wäre ja auch vor der Wahl möglich, solange sie nur frei von Druck erfolgt.
Zwischenergebnis:
Nach der hier vorgenommenen Interpretation des Wahlrechtsgrundsatzes der Geheimheit der Wahl wäre ein Verbot des Fertigens eines Selfies mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und des anschließenden Postens bspw. auf Facebook mit Art. 38 I S. 1 GG in seiner Ausgestaltung als grundrechtsgleiches Recht (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl. 2017, Rn. 160) nicht vereinbar.
Ob das Fertigen eines Selfies mit dem ausgefüllten Stimmzettel in der Hand und das anschließende Posten bspw. auf Facebook einen Verstoß gegen das in § 56 BWahlO vorgesehene Verfahren darstellt und daher zu einer Zurückweisung des Wählers bei dem Einwurf seines Stimmzettels in die Wahlurne führt, muss angesichts des Wortlauts des § 56 BWahlO wohl ebenfalls verneint werden. Daher bestehen gegenwärtig Überlegungen seitens des Bundesinnenministeriums, § 56 BWahlO entsprechend zu ändern. Aber auch Folge einer Änderung des § 56 BWahlO wäre allenfalls, dass der Einwurf des Stimmzettels in die Wahlurne verwehrt und eine erneute Stimmabgabe erforderlich wäre. An dem bereits geposteten Selfie würde das aber nichts ändern. Eine Verpflichtung zur sofortigen Löschung des Posts oder zur Abgabe des Handys vor der Stimmabgabe wäre wohl nicht umsetzbar, allein schon wegen Kontroll- und Durchsetzungsproblemen in der Praxis, und dürfte auch einer rechtlichen Prüfung am Maßstab des Art. 38 I S. 1 GG (s.o.) nicht standhalten. Die Wahrung des Ansehens einer Parlamentswahl ist nicht an dem Wahlrechtsgrundsatz der Geheimheit festzumachen.
R. Schmidt (28.2.2017)
19.2.2017: EGMR: Kein Recht auf Scheidung
EGMR, Urt. v. 10.1.2017 - 1955/10
Mit Urteil vom 10.1.2017 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kein Recht auf Scheidung gewähre. Ob diese Entscheidung richtig ist, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Prüfungsmaßstab des vorliegenden Falles ist die 1950 vom Europarat erarbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere deren Art. 8. Darüber, welcher Rang der EMRK im Normengefüge der einzelnen Konventionsstaaten zukommt, enthält (wie sich u.a. aus Art. 57 EMRK ergibt) die EMRK keine verbindliche Regelung. Vielmehr hängt er von der Art der Umsetzung ab. Insoweit haben die Konventionsstaaten einen Gestaltungsspielraum. In der Schweiz bspw. hat die EMRK grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht einschließlich der Bundesverfassung (vgl. BGE 138 II 524 E. 5.1: "Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor"). Und in der Bundesrepublik Deutschland kommt der EMRK kraft gesetzlicher Übernahme im Jahre 1953 ("Rechtsanwendungsbefehl") gem. Art. 59 II S. 1 GG der innerstaatliche Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu (R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfG NJW 2016, 1295, 1297; BVerfG 4.5.2015 - 2 BvR 2169/13; BVerfGE 128, 326, 367; 111, 307, 317; 82, 106, 120; 74, 358, 370). Daraus folgt, dass die EMRK mit ihren Grund- und Menschenrechten in ihrem Rang unterhalb der Grundrechte des Grundgesetzes auf der Ebene von Bundesgesetzen steht. Allerdings ist es ständige Rspr. des BVerfG, dass aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (Art. 1 II GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nicht nur bei der Anwendung von einfachem Recht, sondern auch bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfGE 128, 326, 366 ff.; 111, 307, 317; 83, 119, 128; 74, 358, 370). Ist eine konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich (etwa, weil der Wortlaut nicht weiter auslegbar ist), muss den Gewährleistungen der EMRK nötigenfalls durch richterliche Rechtsfortbildung Rechnung getragen werden.
Missachtungen der Gewährleistungen der EMRK können von jedem Einzelnen vor dem EGMR geltend gemacht werden. So entscheidet nach Art. 34 EMRK der EGMR über Individualbeschwerden, mit denen jeder Bürger eines Vertragsstaates nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs eine Verletzung der EMRK rügen kann (Art. 35 EMRK). Stellt der EGMR daraufhin einen Verstoß gegen die EMRK fest, ist – aus völkerrechtlicher Sicht – der verurteilte Staat zur Abhilfe bzw. ggf. zur Entschädigung verpflichtet (Art. 46 I EMRK).
Im vorliegend zu besprechenden Fall geht es um die Frage, ob die EMRK ein Recht auf Scheidung gewährleistet, was der EGMR verneint.
Der Entscheidung lag folgender (leicht abgeänderter) Sachverhalt
zugrunde: M, polnischer Staatsbürger, unterhielt während seiner Ehe mit F eine Beziehung zu einer anderen Frau, mit der er nunmehr eine gemeinsame Zukunft verbringen wollte. Daher beabsichtigte er, sich von seiner Ehefrau scheiden zu lassen, und stellte einen entsprechenden Antrag vor Gericht. Jedoch stimmte seine Ehefrau der Scheidung nicht zu. Sie erklärte, ihn trotz seiner Beziehung zu einer anderen Frau noch immer zu lieben und sich mit ihm versöhnen zu wollen. Daraufhin wies das polnische Familiengericht den Scheidungsantrag ab. Zwar stellte es fest, dass die Ehe zerrüttet sei und in einem solchen Fall jeder der beiden Ehegatten die Scheidung beantragen könne, jedoch lehnte es den Scheidungsantrag ab mit der Begründung, dass eine Ehe nur dann geschieden werden könne, wenn der Antragsgegner die Zerrüttung herbeigeführt habe (sog. Verschuldensprinzip). Das sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Vielmehr sei M es gewesen, der die Zerrüttung verschuldet habe. Nach Erschöpfung des Rechtswegs erhob M Individualbeschwerde vor dem EGMR. Er machte geltend, die Versagung der Scheidung durch die polnischen Gerichte verletze ihn in seinen Menschenrechten aus der EMRK. Aber auch der EGMR half der Sache nicht ab. Er entschied, dass die EMRK den polnischen Regelungen nicht entgegenstehe. Sie gewähre kein Recht auf Scheidung.
Bewertung:
Solange also F der Scheidung nicht zustimmt, bleibt M mit ihr verheiratet. Das hat nicht nur personenstandsrechtliche Auswirkungen mit der Folge, dass M daran gehindert ist, jemals eine andere Frau zu heiraten, sondern auch unterhalts- und vermögensrechtliche Konsequenzen. Nicht nur in Anbetracht dieser Folgen, sondern auch mit Blick auf Wortlaut und Telos des Art. 8 EMRK ist dieses Urteil unverständlich. Art. 8 I EMRK gewährt das Recht auf Privatleben. Aus diesem Recht leitet der EGMR auch sonst ein allgemeines Persönlichkeitsrecht ab, dessen Schutzniveau er tendenziell hoch bemisst (EGMR NJW 2014, 3291 ff.). Und Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das Recht auf Selbstbestimmung, welches wiederum das Recht auf Wahl des Personenstandes und damit auch das Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft impliziert (R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 269 (zwar bzgl. Art. 2 I i.V.m. 1 I GG, aber durchaus auf Art. 8 I EMRK übertragbar). Art. 8 I EMRK gewährleistet damit also durchaus ein Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft. Dieses Recht darf gem. Art. 8 II EMRK eine staatliche Behörde nur verwehren, wenn dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Keiner dieser Gründe ist in der Lage, das Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft zu verwehren. Insbesondere ist nicht ersichtlich, warum in einem Konventionsstaat (auch in Polen, auf dessen Rechtsordnung sich die Entscheidung des EGMR bezog) die Moral (der Gesellschaft) oder Rechte und Freiheiten anderer das Recht eines Menschen, sich aus einer Ehe oder Partnerschaft lösen zu wollen, überwiegen sollen. Mag dies vor etlichen Jahrzehnten noch anders gesehen worden sein, überwiegt in einer modernen demokratischen Gesellschaft das Recht auf Selbstbestimmung und damit das Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft.
Ergebnis:
Entgegen der Auffassung des EGMR steht die EMRK einem Recht auf Scheidung bzw. Lösung von einer Partnerschaft also nicht nur nicht entgegen, sondern sie schützt dieses Recht auch. Insofern ist im Ergebnis den abweichenden Meinungen zweier EGMR-Richter zu folgen.
Weiterführender Hinweis:
In der Bundesrepublik Deutschland würde sich ein solches Problem (wohl) nicht stellen. Das früher auch hier geltende Schuldprinzip wurde nämlich bereits 1977 durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt. Nach § 1565 I S. 2 BGB ist die Ehe gescheitert, wenn sie unheilbar zerrüttet ist. Das wiederum wird nach § 1566 II BGB unwiderleglich vermutet, wenn die Ehegatten seit drei Jahren voneinander getrennt leben. Die Unwiderleglichkeit des Scheiterns ergibt sich hier also aus der langen Trennung von drei Jahren, womit es den Parteien erspart bleibt, die Verschuldensgründe darzulegen und zu beweisen oder zu widerlegen. Und dem Familiengericht bleibt es erspart, anhand der Sachvorträge eine Zustandsprüfung vorzunehmen. Es scheidet schlicht die Ehe allein aufgrund unwiderleglich vermuteter Zerrüttung. Davon macht es lediglich dann eine Ausnahme, wenn die Aufrechterhaltung der Ehe im Interesse der gemeinsamen Kinder der Ehegatten notwendig ist (Kinderschutzklausel, § 1568 Var. 1 BGB) oder wenn die Scheidung aufgrund von außergewöhnlichen Umständen eine so schwere Härte darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe unter Berücksichtigung der Belange des Antragsgegners ausnahmsweise geboten erscheint (Ehegattenschutzklausel, § 1568 Var. 2 BGB).
F des obigen EGMR-Falls könnte also nach deutschem Recht die Ehescheidung grundsätzlich nicht einseitig verhindern - mit Blick auf das dem M zustehende Grund- und Menschenrecht auf Selbstbestimmung die allein richtige Regelung.
R. Schmidt (19.2.2017)
17.1.2017: NPD-Verbotsverfahren erfolglos
BVerfG, Urt. v. 17.1.2017 – 2 BvB 1/13
Mit Urteil vom 17.1.2017 (2 BvB 1/13) hat das BVerfG Anträge des Bundesrats auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) einschließlich ihrer Teilorganisationen Junge Nationaldemokraten, Ring Nationaler Frauen und Kommunalpolitische Vereinigung einstimmig abgewiesen. Zwar verfolge die NDP verfassungsfeindliche Ziele, indem sie die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen wolle. Auch missachte ihr politisches Konzept die Menschenwürde und sei mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Die NPD arbeite auch planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin. Allerdings fehle es (derzeit) an konkreten Anhaltspunkten, die es möglich erscheinen ließen, dass dieses Handeln zum Erfolg führe. Daher sei der Antrag des Bundesrats auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Auflösung der NPD und ihrer Unterorganisationen (Art. 21 II GG) als unbegründet zurückzuweisen.
Ausgangslage:
Über die Frage nach der Verfassungswidrigkeit einer Partei entscheidet gem. Art. 21 II S. 2 GG das BVerfG. Der Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist begründet, wenn die Voraussetzungen des Art. 21 II S. 1 GG vorliegen, d.h., wenn die Partei nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden.
Die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) ist die Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind nach dem BVerfG mindestens zu rechnen (die folgende Auflistung basiert auf der grundlegenden Aufzählung in BVerfGE 2, 1, 12 f. (SRP-Urteil); aufgegriffen in BVerfGE 44, 125, 145; 107, 339, 356 ff.; BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn 531 ff.; BVerwG NJW 2000, 824. Vgl. auch die einfachgesetzlichen Konkretisierungen in § 4 II BVerfSchG und § 92 II StGB; vgl. auch R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 421):
Ausschluss jeder Willkür- und Gewaltherrschaft unter Achtung der Menschenwürde und der (anderen) im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechts auf Leben und der freien Entfaltung der Persönlichkeit,
das Demokratieprinzip, insbesondere das Recht, die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,
die Volkssouveränität,
die Gewaltenteilung,
die Verantwortlichkeit und Ablösbarkeit der Regierung,
die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
die Unabhängigkeit der Gerichte,
das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition.
Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist die Abschaffung mindestens eines der o.g. Strukturprinzipien des Grundgesetzes (BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn. 550).
Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn eine Partei nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirkt (BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn. 556).
Um das Merkmal darauf ausgehen zu bejahen, genügt es nicht, wenn die betreffende Partei die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung lediglich nicht anerkennt. Es gibt kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot (BVerfGE 5, 85, 141; BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn. 570/573). Vielmehr muss die Partei gegenüber der bestehenden Ordnung eine aktiv-kämpferische, aggressive Haltung zum Ausdruck bringen (BVerfGE 5, 85, 141; vgl. auch BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn 570). Sie muss sich durch aktives und planvolles Handeln für ihre Ziele einsetzen und auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinwirken (BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn. 574 ff.).
Die Entscheidung des BVerfG:
Um das Merkmal "darauf ausgehen" feststellen zu können, müssen nach Auffassung des BVerfG, wie es in seinem Urteil v. 17.1.2017 zum NPD-Verbotsverfahren formuliert hat, konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das Handeln der Partei erfolgreich sein kann (Potentialität). Lasse das Handeln einer Partei noch nicht einmal auf die Möglichkeit eines Erreichens ihrer verfassungsfeindlichen Ziele schließen, bedürfe es des präventiven Schutzes der Verfassung durch ein Parteiverbot nicht (BVerfG 17.1.2017 – 2 BvB 1/13, Rn. 586). Hiermit weicht das BVerfG von seiner Rechtsprechung im KPD-Urteil v. 17.8.1956 (BVerfGE 5, 85 ff.) ab. Damals hatte das BVerfG geurteilt, dass es einem Parteiverbot nicht entgegenstehe, wenn für die Partei nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf bestehe, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können (BVerfGE 5, 85, 143). Das Gericht steht mit der jetzigen Entscheidung auf dem Standpunkt, dass ein Erreichen der verfassungswidrigen Ziele der NPD mit parlamentarischen oder außerparlamentarischen demokratischen Mitteln (derzeit) ausgeschlossen erscheine und es daher keines Verbots bedürfe. Im parlamentarischen Bereich verfüge die NPD weder über die Aussicht, bei Wahlen eigene Mehrheiten zu gewinnen, noch über die Option, sich durch die Beteiligung an Koalitionen eigene Gestaltungsspielräume zu verschaffen. Auch außerhalb des parlamentarischen Handelns habe die NPD in absehbarer Zeit keine Möglichkeit, ihre verfassungsfeindlichen Ziele erfolgreich zu verfolgen. Einer nachhaltigen Beeinflussung der außerparlamentarischen politischen Willensbildung durch die NPD stünden deren niedriger und tendenziell rückläufiger Organisationsgrad sowie ihre eingeschränkte Kampagnenfähigkeit und geringe Wirkkraft in die Gesellschaft entgegen. Eine generelle Grundtendenz der NPD zur Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Absichten mit Gewalt oder durch die Begehung von Straftaten könne (gegenwärtig) nicht entnommen werden. Schließlich fehlten hinreichende Anhaltspunkte für die Schaffung einer Atmosphäre der Angst, die zu einer spürbaren Beeinträchtigung der Freiheit des Prozesses der politischen Willensbildung führt oder führen könnte. Der Umstand, dass die NPD durch einschüchterndes oder kriminelles Verhalten von Mitgliedern und Anhängern punktuell eine nachvollziehbare Besorgnis um die Freiheit des politischen Prozesses oder gar Angst vor gewalttätigen Übergriffen auszulösen vermag, sei nicht zu verkennen, erreiche aber die durch Art. 21 II GG markierte Schwelle nicht. Auf Einschüchterung und Bedrohung sowie den Aufbau von Gewaltpotentialen müsse mit den Mitteln des Polizeirechts und des Strafrechts rechtzeitig und umfassend reagiert werden, um die Freiheit des politischen Prozesses ebenso wie einzelne vom Verhalten der NPD Betroffene wirkungsvoll zu schützen.
Bewertung:
Letztlich verneint das BVerfG das Merkmal „darauf ausgehen“ mit dem Argument der (parlamentarischen und außerparlamentarischen) Bedeutungslosigkeit der NPD für Staat und Gesellschaft. Diese Rechtsprechung ist nicht unproblematisch. Denn ihr zufolge kommt ein Verbot einer verfassungsfeindlichen Partei erst dann in Betracht, wenn sie über entsprechende Möglichkeiten verfügt, ihre verfassungsfeindlichen Ziele (parlamentarisch und außerparlamentarisch) wirksam umzusetzen. Dass eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft es sich leisten möchte bzw. gezwungen ist, abzuwarten, bis eine verfassungsfeindliche Partei eine solche Stärke erreicht hat, kann nicht ernsthaft im Interesse des BVerfG liegen. Der vom BVerfG eingenommene Standpunkt, die NPD erreiche nicht die durch Art. 21 II GG markierte Schwelle zum Verbot, mag zwar einer einschränkenden Auslegung des Art. 21 II GG und damit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschuldet sein, dennoch ist Art. 21 II GG nicht zu entnehmen, dass eine gewisse „Schwelle“ überschritten sein muss. Dort heißt es in S. 1 (lediglich), dass die Partei nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen muss, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, um verfassungswidrig zu sein. Ziel der NPD selbst und das ihrer Anhänger ist eindeutig, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen bzw. den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Das Bestehen einer „Schlagkraft“ für die Bejahung des Merkmals „darauf ausgehen“ ist weder dem Wortlaut noch dem Zweck der Vorschrift zu entnehmen. Den verfassungsfeindlichen Zielen (lediglich) mit Mitteln des Polizeirechts und des Strafrechts zu begegnen (so die Argumentation des BVerfG), kann nicht die Antwort einer wehrhaften Demokratie sein, auch nicht unter Berücksichtigung einer grundsätzlich richtigen Zurückhaltung bei der Annahme eines Parteiverbots.
Jedenfalls steht der Hinweis des BVerfG, es bestehe für den Gesetzgeber die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Parteien von staatlichen Mittelzuwendungen (dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 389) auszuschließen, in Kollision mit dem Parteienprivileg des Art. 21 II S. 2 GG (dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 408). Dieses besagt, dass vor einer konstitutiven Entscheidung des BVerfG gem. Art. 21 II S. 2 GG ein administratives (und auch legislatives) Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin (von der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden einmal abgesehen) ausgeschlossen ist, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten. Ein Ausschluss der (gerade nicht verbotenen!) NPD von der staatlichen Mittelzuwendung wäre mit dem Parteienprivileg daher unvereinbar. Insofern ist die Entscheidung des BVerfG auch nicht kohärent: Auf der einen Seite steht das Gericht auf dem Standpunkt, die Schwelle zum Verbot sei nicht überschritten (mit der Folge, dass das Parteienprivileg greift!), auf der anderen Seite soll die NPD (trotz Geltung des Parteienprivilegs) dann aber aus dem System staatlicher Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden können.
R. Schmidt (17.1.2017)
16.1.2017: Teilnahme muslimischer Mädchen am schulischen Schwimmunterricht
EGMR, Urt. v. 10.1.2017 – 29086/12
Mit Urteil vom 10.1.2017 (29086/12) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die (schulgesetzliche) Pflicht der Schülerinnen und Schüler, am gemischten schulischen Schwimmunterricht teilzunehmen, auch für muslimische Mädchen gilt. Zwar betont der EGMR das Recht auf freie Religionsausübung (der Eltern) gem. Art. 9 I EMRK, das beeinträchtigt sei, wenn die Eltern nicht frei bestimmen können, ihr Kind vom schulischen gemeinsamen Schwimmunterricht auszuschließen. Für die Beeinträchtigung gebe es allerdings eine gesetzliche Grundlage und das legitime Ziel, ausländische Schülerinnen und Schüler (hier: Mädchen muslimischen Glaubens) vor der sozialen Ausgrenzung zu schützen. Ein Verstoß gegen das Menschenrecht der Religionsfreiheit der Eltern liege daher nicht vor.
Ausgangslage:
Prüfungsmaßstab des vorliegenden Falles ist die 1950 vom Europarat erarbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere deren Art. 9. Darüber, welcher Rang der EMRK im Normengefüge der einzelnen Konventionsstaaten zukommt, enthält (wie sich u.a. aus Art. 57 EMRK ergibt) die EMRK keine verbindliche Regelung. Vielmehr hängt er von der Art der Umsetzung ab. Insoweit haben die Konventionsstaaten einen Gestaltungsspielraum. In der Schweiz bspw. hat die EMRK grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht einschließlich der Bundesverfassung (vgl. BGE 138 II 524 E. 5.1: "Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor"). Und in der Bundesrepublik Deutschland kommt der EMRK kraft gesetzlicher Übernahme im Jahre 1953 ("Rechtsanwendungsbefehl") gem. Art. 59 II S. 1 GG der innerstaatliche Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu (R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfG NJW 2016, 1295, 1297; BVerfG 4.5.2015 - 2 BvR 2169/13; BVerfGE 128, 326, 367; 111, 307, 317; 82, 106, 120; 74, 358, 370). Daraus folgt, dass die EMRK mit ihren Grund- und Menschenrechten in ihrem Rang unterhalb der Grundrechte des Grundgesetzes auf der Ebene von Bundesgesetzen steht. Allerdings ist es ständige Rspr. des BVerfG, dass aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (Art. 1 II GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nicht nur bei der Anwendung von einfachem Recht, sondern auch bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfGE 128, 326, 366 ff.; 111, 307, 317; 83, 119, 128; 74, 358, 370). Ist eine konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich (etwa, weil der Wortlaut nicht weiter auslegbar ist), muss den Gewährleistungen der EMRK nötigenfalls durch richterliche Rechtsfortbildung Rechnung getragen werden.
Missachtungen der Gewährleistungen der EMRK können von jedem Einzelnen vor dem EGMR geltend gemacht werden. So entscheidet nach Art. 34 EMRK der EGMR über Individualbeschwerden, mit denen jeder Bürger eines Vertragsstaates nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs eine Verletzung der EMRK rügen kann (Art. 35 EMRK). Stellt der EGMR daraufhin einen Verstoß gegen die EMRK fest, ist – aus völkerrechtlicher Sicht – der verurteilte Staat zur Abhilfe bzw. ggf. zur Entschädigung verpflichtet (Art. 46 I EMRK).
Im vorliegend zu besprechenden Fall geht es um die Frage, ob die EMRK in der vom EGMR vorgenommenen Auslegung ein Schutzniveau gewährleistet, das über das des nationalen Rechts hinausgeht.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein in Basel lebendes Ehepaar mit schweizerischer und türkischer Staatsbürgerschaft weigerte sich aus religiösen Gründen, ihre Töchter am gemischten Schwimmunterricht der Schule teilnehmen zu lassen. Seitens der Behörden wurde den Eltern nach erfolgloser Aufforderung, ihre Töchter am gemischten Schwimmunterricht der Schule teilnehmen zu lassen, schließlich eine Geldstrafe angedroht, falls sie ihrer Elternpflicht nicht nachkämen, die Mädchen am Schulschwimmunterricht teilnehmen zu lassen. Eine Befreiung von der Teilnahmepflicht sei erst möglich, wenn die Mädchen die Pubertät erreichten. Nachdem die Eltern erfolglos den Rechtsweg ausgeschöpft hatten, legten sie Individualbeschwerde vor dem EGMR ein.
Die Entscheidung des EGMR:
Der EGMR betont zunächst die Bedeutung der durch Art. 9 I EMRK gewährleisteten Religionsausübungsfreiheit, die auch das Recht der Eltern umfasse, die ihre minderjährigen Kinder betreffenden religiösen Angelegenheiten (mit-) zu bestimmen. In Anwendung der Schrankenregelung des Art. 9 II EMRK, wonach die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu bekennen, nur Einschränkungen unterworfen werden darf, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, verweist der EGMR aber auch auf die besondere Rolle der Schule im Hinblick auf die soziale Integration von Kindern, insbesondere solcher mit Migrationshintergrund. Kinder hätten ein Interesse an einer umfassenden Ausbildung, die ihr die erfolgreiche Integration auch in lokale Bräuche erleichtere. Zudem stehe beim Schulschwimmen nicht nur das Anliegen im Vordergrund, schwimmen zu lernen, sondern es gehe auch darum, dass Kinder an gemeinsamen Aktivitäten mit den Mitschülern teilnehmen, ohne dass die Herkunft der Eltern, deren Religion oder Überzeugungen eine besondere Rolle spielen. Sollte die religiöse Überzeugung der Eltern gleichwohl entgegenstehen, bestünde immer noch die Möglichkeit, die Kinder bspw. einen Burkini tragen zu lassen,
Unter Berücksichtigung aller Aspekte überwiege das Interesse an der Teilnahme am gemeinsamen Schwimmunterricht dasjenige der Eltern, ihre Töchter vom Schwimmunterreicht fernzuhalten. Die nationalen Behörden hätten ihr Ermessen damit rechtmäßig ausgeübt, indem sie der Pflicht zur umfassenden Teilnahme an den schulischen Pflichtveranstaltungen den Vorrang gegenüber dem privaten Interesse der Eltern eingeräumt hätten.
Bewertung:
Der Entscheidung des EGMR ist uneingeschränkt beizupflichten. Die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 9 I EMRK ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern steht unter dem Vorbehalt des Art. 9 II EMRK. Das gilt umso mehr, wenn es nicht um die Religionsausübung in eigener Sache geht, sondern um diejenige der Kinder. Zwar umfasst das Religionsausübungsrecht auch die Befugnis zu religiöser Kindererziehung, allerdings sind dabei auch die (entgegenstehenden) Interessen der Kinder sowie der staatliche Erziehungs- und Integrationsauftrag zu berücksichtigen, was jeweils im Sinne einer praktischen Konkordanz (Begriff nach Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn 317 ff.; später verwendet bspw. auch von BVerfGE 89, 214, 232; 129, 78, 101 f.; 134, 204, 223; BVerfG NJW 2016, 2247, 2250) mit der Religionsausübungsfreiheit abzuwägen ist.
Ist danach einer Schülerin muslimischen Glaubens die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht in einer Badebekleidung zumutbar, die muslimischen Bekleidungsvorschriften entspricht (siehe BVerwG NVwZ 2014, 81, 82 ff. für das deutsche Recht), ist auch ein Verstoß gegen Art. 9 I EMRK nicht gegeben.
R. Schmidt (16.1.2017)
4.1.2017: Allgemeine Verpflichtung zur Verkehrsdatenspeicherung ("Vorratsdatenspeicherung") unionsrechtswidrig
EuGH, Urt. v. 21.12.2016 – C-203/15, C-698/15
Mit Urteil vom 21.12.2016 (C-203/15, C-698/15) hat der EuGH entschieden, dass Regelungen der Mitgliedstaaten, die den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste eine allgemeine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung auferlegen, mit EU-Recht, d.h. mit der im Lichte der Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) der Grundrechtecharta auszulegenden Datenschutzrichtlinie 2002/58/EG, unvereinbar sind.
Ausgangslage:
Die Europäische Union besitzt trotz fehlender Staatsqualität eine umfassende Rechtspersönlichkeit (vgl. Art. 1 III, 47 EUV). Verstößt ein Mitgliedstaat gegen zwingendes EU-Recht, greift der sog. Anwendungsvorrang. Anwendungsvorrang bedeutet, dass das mit höherrangigem Recht kollidierende niederrangige Recht zwar nicht ungültig ist, allerdings in seiner Anwendung gesperrt wird (siehe dazu R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 355 ff.). Zum EU-Recht, das im Kollisionsfall Anwendungsvorrang genießt, gehört in erster Linie das primäre Unionsrecht, aber auch das sekundäre Unionsrecht. Zum primären Unionsrecht gehören im Wesentlichen die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft sowie die Änderungsverträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon, die die Grundlage der heutigen Europäischen Union bilden. Mit dem Vertrag von Lissabon ist zudem die (im Zuge des Vertrags von Nizza verabschiedete) Europäische Grundrechtecharta (GRC) zum europäischen Primärrecht erklärt worden. Zum sekundären Unionsrecht zählen die von den Organen der Europäischen Union aufgrund der Gründungs- und Änderungsverträge erlassenen Rechtsvorschriften, d.h. Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse gem. Art. 288 AEUV.
Verordnungen (Art. 288 II AEUV) werden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemeinsam von Parlament und Rat (vgl. Art. 289 I AEUV) erlassen, in bestimmten Fällen aber auch durch das Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Parlaments (vgl. Art. 289 II AEUV). Demgegenüber sind Richtlinien der EU gem. Art. 288 III AEUV grundsätzlich nur an die Mitgliedstaaten adressiert (d.h. sie entfalten grundsätzlich keine unmittelbare Geltung gegenüber den Unionsbürgern) und legen verbindliche Ziele der Union fest, die innerhalb einer vorgegebenen Frist umzusetzen sind. Bei der Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung haben die entsprechenden staatlichen Stellen der Mitgliedstaaten i.d.R. jedoch einen gewissen Gestaltungsspielraum, solange sie die Richtlinie nur klar und eindeutig umsetzen (EuGH EuZW 2001, 437, 438 f.; R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 346). Freilich müssen Verordnungen und Richtlinien mit höherrangigem Recht (d.h. mit dem Primärrecht) vereinbar sein.
Zu den Richtlinien gem. Art. 288 III AEUV zählt etwa die "Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation" (RL 2002/58/EG, ABl. L 201, 37). Ziel dieser Richtlinie ist gemäß ihren Erwägungsgründen 2, 6, 7, 11, 21, 22, 26 und 30 die Achtung der (persönlichkeitsschützenden) Grundrechte; insbesondere soll mit der Richtlinie gewährleistet werden, dass die in den Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) der Grundrechtecharta niedergelegten Rechte (auch und insbesondere im Rahmen der Internetkommunikation) uneingeschränkt geachtet werden.
In Kenntnis dieser Grundsätze erschließt sich das vorliegend zu besprechende Urteil des EuGH leicht. Es geht namentlich um den Aspekt, dass nationale Regelungen, die die sog. Verkehrsdatenspeicherung zulassen oder gar vorschreiben, (auch) mit EU-Recht vereinbar sein müssen. Fällt eine nationale Regelung etwa in den Geltungsbereich der o.g. Datenschutzrichtlinie, muss sie sich an deren Maßstab messen lassen. Die Richtlinie wiederum muss sich an europäischem Primärrecht, insbesondere an der GRC, messen lassen. Das geschieht mittels Auslegung "im Lichte der GRC" (hier: Art. 7 GRC und Art. 8 GRC jeweils unter Beachtung der qualifizierten Schranken des 52 I GRC).
Verpflichtet eine nationale Regelung Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste, systematisch und kontinuierlich ausnahmslos sämtliche Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer und registrierten Nutzer in Bezug auf alle elektronischen Kommunikationsmittel zu speichern, fällt sie in den Anwendungsbereich der Datenschutzrichtlinie. Das Gleiche gilt, wenn Betreiber öffentlicher Telekommunikationsdienste verpflichtet werden, (sämtliche) Kommunikationsdaten für bis zu zwölf Monate auf Vorrat zu speichern (auch wenn die Inhalte der Kommunikationsvorgänge nicht erfasst sind).
Fallen nationale Regelungen über die Verkehrsdatenspeicherung damit in den Anwendungsbereich der Datenschutzrichtlinie, müssen sie sich an dieser messen lassen. Dabei ist die Datenschutzrichtlinie wiederum im Lichte der Grundrechte der Art. 7 und 8 GRC sowie der Vorgaben der Einschränkbarkeit gem. 52 I GRC auszulegen (s.o.).
Die Entscheidung des EuGH:
Nach Auffassung des EuGH fallen die in Rede stehenden nationalen (d.h. schwedischen) Rechtsvorschriften in den Geltungsbereich der Richtlinie. Denn die mit der Datenschutzrichtlinie garantierte Vertraulichkeit elektronischer Kommunikationen und der Verkehrsdaten gelte für Maßnahmen sämtlicher anderer Personen als der Nutzer, unabhängig davon, ob es sich um private Personen oder Einrichtungen oder um staatliche Einrichtungen handele.
In Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung stellt der EuGH sodann einen Grundrechtseingriff fest: Die Gesamtheit der im Zuge der Vorratsdatenspeicherung gespeicherten Daten lasse sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Personen zu.
Hinsichtlich der Rechtfertigung hat der EuGH entschieden, dass die Datenschutzrichtlinie es den Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich erlaube, die Vertraulichkeit der Kommunikation einzuschränken. Das Gericht stellt aber auch klar, dass es die Datenschutzrichtlinie nicht zulässt, wenn die mögliche Ausnahme von dieser grundsätzlichen Verpflichtung zur Sicherstellung der Vertraulichkeit personenbezogener Daten und insbesondere die mögliche Ausnahme von dem mit dieser Richtlinie aufgestellten Verbot der Speicherung dieser Daten zur Regel würden. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH verlange der Schutz des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 GRC), dass sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten auf das absolut Notwendige beschränken. Das gelte sowohl hinsichtlich der Vorratsdatenspeicherung als auch hinsichtlich des Zugangs zu den gespeicherten Daten.
Der Grundrechtseingriff, der mit einer nationalen Regelung einhergehe, die eine Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsieht, sei somit als besonders schwerwiegend anzusehen. Der Umstand, dass die Vorratsspeicherung der Daten vorgenommen werde, ohne dass die Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste darüber informiert würden, sei geeignet, bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung sei. Deshalb vermöge allein die Bekämpfung schwerer Straftaten einen solchen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen.
Eine nationale Regelung, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung vorsehe, keinen Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit verlange und sich insbesondere nicht auf die Daten eines Zeitraums und/oder eines geografischen Gebiets und/oder eines Personenkreises, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte, beschränke, überschreite die Grenzen des absolut Notwendigen und könne nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden, wie es die im Lichte der Grundrechtecharta auszulegende Datenschutzrichtlinie verlange.
Mit der Datenschutzrichtlinie vereinbar sei jedoch eine nationale Regelung, die zur Bekämpfung schwerer Straftaten eine gezielte Vorratsspeicherung von Daten ermögliche, sofern diese Vorratsspeicherung hinsichtlich der Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Speicherungsdauer auf das absolut Notwendige beschränkt sei. Jede nationale Regelung, die Derartiges vorsehe, müsse klar und präzise sein und hinreichende Garantien enthalten, um die Daten vor Missbrauchsrisiken zu schützen. Die betreffende Regelung müsse angeben, unter welchen Umständen und Voraussetzungen eine Maßnahme der Vorratsspeicherung von Daten vorbeugend getroffen werden dürfe, um so zu gewährleisten, dass der Umfang dieser Maßnahme in der Praxis tatsächlich auf das absolut Notwendige beschränkt ist. Eine solche Regelung müsse insbesondere auf objektive Anknüpfungspunkte gestützt sein, die es ermöglichten, diejenigen Personen zu erfassen, deren Daten geeignet seien, einen Zusammenhang mit schweren Straftaten aufzuweisen, zur Bekämpfung schwerer Straftaten beizutragen oder eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu verhindern.
Des Weiteren hat der EuGH auch Anforderungen an die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten aufgestellt. So müsse die nationale Regelung sich bei der Festlegung der Umstände und Voraussetzungen, unter denen den zuständigen nationalen Behörden Zugang zu den Daten zu gewähren ist, auf objektive Kriterien stützen. Gehe es um die Bekämpfung von Straftaten, dürfe Zugang grundsätzlich nur zu Daten von Personen gewährt werden, die im Verdacht stehen, eine schwere Straftat zu planen, zu begehen oder begangen zu haben oder auf irgendeine Weise in eine solche Straftat verwickelt zu sein. Allerdings könne in besonderen Situationen wie etwa solchen, in denen vitale Interessen der nationalen Sicherheit, der Landesverteidigung oder der öffentlichen Sicherheit durch terroristische Aktivitäten bedroht seien, der Zugang zu Daten anderer Personen ebenfalls gewährt werden, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gebe, dass diese Daten im konkreten Fall einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung solcher Aktivitäten leisten könnten.
Zudem sei es unerlässlich, dass der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten grundsätzlich, außer in Eilfällen, einer vorherigen Kontrolle entweder durch ein Gericht oder eine unabhängige Stelle unterworfen werde. Außerdem müssten die zuständigen nationalen Behörden, denen Zugang zu den gespeicherten Daten gewährt wurde, die betroffenen Personen davon in Kenntnis setzen. In Anbetracht der Menge an gespeicherten Daten, ihres sensiblen Charakters und der Gefahr eines unberechtigten Zugangs müsse die nationale Regelung vorsehen, dass die Daten im Gebiet der Union zu speichern sind und nach Ablauf ihrer Speicherungsfrist unwiderruflich zu vernichten sind.
Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland:
Die sich in Deutschland stellende zentrale Frage dürfte sein, ob die am 16.10.2015 verabschiedete und am 18.12.2015 in Kraft getretene Neuregelung einer “Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ (BGBl I 2015, S. 2218) mit Neuregelungen insbesondere der §§ 113a ff. TKG und der §§ 100g, 101a StPO den o.g. Anforderungen des EuGH an die Auslegung der Datenschutzrichtlinie unter Beachtung der Grundrechte der Grundrechtecharta gerecht wird.
Zwar dienen die §§ 113a ff. TKG und die §§ 100g, 101a StPO der Bekämpfung schwerer Straftaten. Zweifel sind aber deswegen angebracht, weil auch § 113b TKG die Verpflichtung der Telekommunikationsdiensteanbieter enthält, anlasslos und undifferenziert (d.h. flächendeckend) bestimmte Daten zu speichern. Denn während die Erhebung (d.h. der Abruf) von Verkehrsdaten auf Grundlage des § 100g StPO von bestimmten, in der Vorschrift genannten Voraussetzungen (Verdacht einer besonders schweren Straftat oder einer Straftat, die mittels Telekommunikation begangen wurde) abhängt, erfolgt die Speicherung von Verkehrsdaten bei den Telekommunikationsdiensteanbietern anlasslos und undifferenziert. Die Zulässigkeit der Speicherung von Verkehrsdaten, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme anhand des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen, ist aber gerade vom EuGH abgelehnt worden.
Zugutezuhalten ist der deutschen Regelung immerhin, dass Verkehrsdaten über aufgerufene Internetseiten und Verkehrsdaten bzgl. des E-Mail-Verkehrs gem. § 113b V TKG nicht gespeichert werden dürfen. Auch dürfen gem. § 113b VI TKG Daten, die den in § 99 II TKG genannten Verbindungen zugrunde liegen, ebenfalls nicht gespeichert werden. Es handelt sich dabei um Anschlüsse von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten wie z.B. die Telefonseelsorge (siehe R. Schmidt, Polizei- und Ordnungsrecht, 18. Aufl. 2016, Rn. 309g). § 113c TKG erlaubt nur die Übermittlung von Verkehrsdaten i.S.v. § 113b TKG und für die Zwecke des § 100g II S. 1 StPO. Es muss also um die Aufklärung von besonders schweren Taten gehen, die in § 100g II S. 2 StPO genannt sind, und die Tat, derentwegen der Abruf stattfinden soll, muss auch im Einzelfall besonders schwer wiegen (siehe R. Schmidt, Polizei- und Ordnungsrecht, 18. Aufl. 2016, Rn. 309i). Das dürfte den vom EuGH aufgestellten Anforderungen genügen.
Dem vom EuGH aufgestellten Postulat, der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten bedürfe grundsätzlich, außer in Eilfällen, einer vorherigen Kontrolle entweder durch ein Gericht oder eine unabhängige Stelle, ist ebenfalls Rechnung getragen. Denn aufgrund der Anordnung in § 101a I S. 1 StPO, dass § 100b I-IV StPO auch für § 100g StPO gilt, ergibt sich ein grundsätzlicher Richtervorbehalt für die Erhebung von Verkehrsdaten (nach § 100g II S. 1 StPO); es bedarf also grundsätzlich einer richterlichen Anordnung zur Herausgabe der Verkehrsdaten an Strafverfolgungsbehörden. Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung auch durch die Staatsanwaltschaft getroffen werden (§§ 101a I S. 1, 100b I S. 2 StPO), allerdings nur bezüglich Verkehrsdaten gem. §§ 100g I StPO, 96 I TKG, nicht bezüglich Verkehrsdaten gem. §§ 100g II StPO, 113b TKG (vgl. §§ 101a I S. 2, 100b I S. 2 StPO). Für diese bleibt es beim Richtervorbehalt. Das entspricht den Anforderungen des “Eilfalls”, die der EuGH aufstellt.
Ergebnis:
Zwar dienen die §§ 113a ff. TKG und die §§ 100g, 101a StPO der Bekämpfung schwerer Straftaten und sind insoweit mit den Vorgaben der Datenschutzrichtlinie und der Rechtsprechung des EuGH vereinbar. Auch ist die vom EuGH angemahnte Präventivkontrolle (in Form eines Richtervorbehalts) gewahrt. Zweifel sind aber dahingehend angebracht, dass § 113b TKG die Verpflichtung der Telekommunikationsdiensteanbieter enthält, anlasslos und undifferenziert (d.h. flächendeckend) bestimmte Daten zu speichern. Das dürfte weder mit der Datenschutzrichtlinie noch mit der Rechtsprechung des EuGH in Einklang zu bringen sein.
Am Maßstab des Grundgesetzes gemessen, dürften die Anlasslosigkeit und die Undifferenziertheit ebenfalls nicht unproblematisch sein. Zwar hat das BVerfG mit Beschluss v. 8.6.2016 (1 BvQ 42/15; 1 BvR 229/16) zwei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, die auf Außervollzugsetzung der Vorschriften über die Verkehrsdatenspeicherung gerichtet waren, abgewiesen. Jedoch ist zu beachten, dass das BVerfG bei Eilanträgen gem. § 32 BVerfGG grds. nur eine Abwägung der Folgen, die eine Außervollzugsetzung mit sich brächte, vornimmt. Eine summarische Prüfung der Rechtslage findet bei § 32 BVerfGG (anders als bei §§ 80 V, 123 VwGO) grds. nicht statt. Von daher dürfte der Ausgang des Hauptsacheverfahrens völlig offen sein. Nach hiesiger Einschätzung wird das BVerfG die Verpflichtung zur anlasslosen (und flächendeckenden) Speicherung bestimmter Daten (§ 113b TKG) beanstanden und dem Gesetzgeber die Pflicht zur Nachbesserung auferlegen.
R. Schmidt (4.1.2017)