BGH, Urt. v. 10.6.2015 - 2 StR 97/14 (NStZ 2016, 52)
Schlagworte: Tatprovokation rechtsstaatswidrig Verfahrenshindernis
Ausgangslage:
Als völkerrechtlicher Vertrag gilt die 1950 vom Europarat erarbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zwar nur im Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten, kraft gesetzlicher Übernahme im Jahre 1953 („Rechtsanwendungsbefehl“) gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG kommt ihr aber der innerstaatliche Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu (R. Schmidt, Grundrechte, 19. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfG 4.5.2015 - 2 BvR 2169/13; BVerfGE 128, 326, 367; 111, 307, 317; 82, 106, 120; 74, 358, 370; BVerfG NStZ 2015, 49, 51; BGH NStZ 2016, 52, 55). Daraus folgt, dass die EMRK mit ihren Grund- und Menschenrechten in ihrem Rang unterhalb der Grundrechte des Grundgesetzes auf der Ebene von Bundesgesetzen steht. Allerdings ist es ständige Rspr. des BVerfG, dass aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (Art. 1 Abs. 2 GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nicht nur bei der Anwendung von einfachem Recht, sondern auch bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 19. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfGE 128, 326, 366 ff.; 111, 307, 317; 83, 119, 128; 74, 358, 370).
Allerdings spricht das BVerfG der EMRK und den Urteilen des EGMR eine zwingende Bindungswirkung ab. In seiner Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vom 4.5.2011 wird dies überaus deutlich, indem das BVerfG ausdrücklich betont, dass eine Angleichung der Aussagen des GG mit denen der EMRK nicht erforderlich sei; vielmehr erfordere die völkerrechtliche Auslegung des GG ein Aufnehmen der Wertungen der EMRK nur, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des GG vereinbar sei (BVerfGE 128, 326, 366 ff.; vgl. auch BVerfG NStZ 2006, 49, 51; BGH NStZ 2016, 52, 55; enger BGH NStZ 2015, 541, 544: „prägend“ und NJW 2014, 2029, 2031: „interpretationsleitend“). Das „letzte Wort“ liege bei der deutschen Verfassung (BVerfGE 128, 326, 366 ff.; vgl. auch BVerfG NStZ 2016, 49, 51).
Der Standpunkt des BVerfG hinsichtlich der (begrenzten) Bindungswirkung der Urteile des EGMR findet seine Begründung darin, dass formaler Prüfungsmaßstab des BVerfG allein das Grundgesetz ist (vgl. Art. 93 GG). Andererseits hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit Unterzeichnung und Ratifizierung der EMRK dazu verpflichtet, nicht nur die Inhalte der Konvention zu beachten, sondern auch den Urteilen des EGMR Folge zu leisten (Art. 46 Abs. 1 EMRK); das schließt auch den Gesetzgeber und in gewisser Weise die Verfassungsgerichtsbarkeit mit ein. Bei einem Konflikt zwischen der nationalen Rechtsordnung und der EMRK muss das nationale (einfache) Recht daher konventionskonform ausgelegt werden (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 19. Aufl. 2016, Rn. 7a mit Verweis auf Sachs, FS Klein 2013, 321, 330 f.; Meyer-Ladewig, Handkommentar EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 46 Rn 22 ff.; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 46 Rn 47 ff., 55 ff.; BVerfG 4.5.2015 - 2 BvR 2169/13). Ist eine konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich (etwa, weil der Wortlaut nicht weiter auslegbar ist), müssen den Gewährleistungen der EMRK nötigenfalls durch richterliche Rechtsfortbildung Rechnung getragen werden.
Sind danach die Gewährleistungen der EMRK bei der Anwendung des nationalen Rechts einschließlich des Verfahrensrechts zu berücksichtigen, gilt das auch und insbesondere für die Strafgerichte, die Straf(verfahrens)normen anzuwenden haben. Das fordert allein schon die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), was die EMRK (sogar vorrangig) einschließt (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 19. Aufl. 2016, Rn. 7c).
Vorliegend ist zu prüfen, ob das in Art. 6 EMRK kodifizierte Fair-trial-Prinzip (Grundsatz des fairen Verfahrens), das zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gehört und auch in der Bundesrepublik Deutschland seinen Niederschlag im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), im Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) sowie in der Menschenwürde (Art. 1 I GG), erfahren hat (vgl. etwa BVerfG NStZ 2016, 49), verletzt ist, wenn beim Einsatz von Lockspitzeln oder Verdeckten Ermittlern der Polizei Straftaten provoziert werden.
Dem hier zu besprechenden Urteil des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt und vereinfacht, um die Probleme zu verdeutlichen): A und B standen im Verdacht, sich wegen Geldwäsche sowie wegen Drogenhandels strafbar gemacht zu haben. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens wurden durch richterlichen Beschluss eine längerfristige Observation sowie die Überwachung der Telekommunikation der Tatverdächtigen angeordnet. Im Rahmen der Observation wurde festgestellt, dass sich die Tatverdächtigen in den Niederlanden mit X trafen, gegen den in den Niederlanden mehrfach, wenn auch ergebnislos, wegen internationalen Drogenhandels ermittelt worden war. Trotz längerfristiger Observation und Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen konnte der Verdacht gegen A und B aber nicht bestätigt werden. Daher setzte die Polizei Verdeckte Ermittler aus Deutschland und den Niederlanden ein, um die Sachverhaltsaufklärung voranzubringen. Diese versuchten, über einen Zeitraum von mehreren Monaten die Tatverdächtigen dazu zu bringen, ihnen große Mengen Ecstasy aus den Niederlanden zu besorgen (das würde den Tatbestand des § 30 BtMG, ggf. sogar den des § 30a BtMG - 5-15 Jahre Freiheitsstrafe - erfüllen), was den Ermittlern jedoch zunächst nicht gelang, da sich A und B nicht das Geschäft einließen. Erst, nachdem einer der Verdeckten Ermittler drohend aufgetreten war und ein anderer wahrheitswidrig behauptet hatte, seine Familie werde mit dem Tod bedroht für den Fall, dass er seinen "Auftraggebern" das Ecstasy nicht besorge, halfen A und B bei der Beschaffung und Einfuhr von Ecstasy aus den Niederlanden, ohne dafür ein Entgelt gefordert oder erhalten zu haben.
Lösung:
In diesem Fall stellt sich nicht nur die Frage nach der Strafbarkeit von A und B, sondern auch nach der Zulässigkeit einer derartigen Tatprovokation durch Angehörige von Strafverfolgungsbehörden (und von ihnen gelenkten Dritten). In einem Rechtsstaat mutet es nahezu grotesk an, wenn Polizeibeamte oder von ihnen beauftragte Dritte Tatverdächtige, bei denen die bisherigen Beweise für eine Anklage nicht ausreichen, durch Lügen und Drohungen dazu bringen dürften, eine Straftat zu begehen, für die diese dann später angeklagt und verurteilt werden.
Die bisherige Rechtsprechung (des BGH) sah in diesen Fällen weder einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Recht auf Freiheit) noch gegen das im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Fair-trial-Prinzip (Grundsatz des fairen Verfahrens - dazu Hartmann/Schmidt, StrafProzR, 5. Aufl. 2015, Rn. 102 mit Verweis u.a. auf BVerfGE 26, 66, 67 ff.; 63, 380, 390; 66, 313, 318; BGHSt 45, 321, 355; 46, 93, 100) und nahm demzufolge kein Strafverfahrenshindernis an, sondern berücksichtigte die Tatprovokation lediglich in der Strafzumessung des oder der Verurteilten (sog. „Strafzumessungslösung“), was aber gleichwohl in vielen Fällen (der Betäubungsmittelkriminalität) nichts an der Verurteilung zu teilweise hohen Haftstrafen änderte (vgl. etwa die Fälle BGHSt 32, 345, 348 ff.; 45, 321, 324 f.; 47, 44, 47; BGH NStZ 2014, 277, 280).
Erstaunlicherweise wurde diese Auffassung vom BVerfG dem Grunde nach gebilligt. So heißt es in seinem Beschluss v. 18.12.2014: „Selbst wenn man ein Verfahrenshindernis aufgrund rechtsstaatswidriger Tatprovokation im Grundsatz für möglich erachten wollte, könnte ein derartiges Verbot der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nur in extremen Ausnahmefällen aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, weil das Rechtsstaatsprinzip nicht nur Belange des Beschuldigten, sondern auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt“(BVerfG NStZ 2016, 49). Einen solchen „extremen Ausnahmefall“ wollte das BVerfG indes nur annehmen, wenn „gänzlich unbescholtene Bürger zu Straftaten angestiftet werden“ (BVerfG NStZ 2016, 49, 5o). Freilich dürfte ein solcher Fall faktisch kaum vorkommen, sodass die Tatprovokation von Tatverdächtigen im Ergebnis auch nach dem BVerfG lediglich auf Strafzumessungsebene Berücksichtigung fand.
Nun aber änderte der BGH seine Rechtsprechung, wenn auch (nur) unter dem Einfluss der Rechtsprechung des EGMR, der zu Recht die Aufgabe der Ermittlungsbehörden in der Aufklärung von Straftaten sieht, nicht in deren Provokation (EGMR NJW 2015, 3631 ff.). So sieht der EGMR in der eines Rechtsstaates unwürdigen Tatprovokation durch Polizeibeamte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (Recht auf faires Verfahren) (EGMR NJW 2015, 3631, 3634 f.).
Diese Rechtsprechung des EGMR hat der BGH in das deutsche Strafrechtssystem überführt, indem er eine Nichtverwertbarkeit aller auf die rechtsstaatswidrige Tatprovokation zurückzuführenden unmittelbar und mittelbar erlangten Beweismittel angenommen hat, was in der Sache ein Verfahrenshindernis zur Folge habe (BGH NJW 2016, 91, 96). Das Verfahren gegen A und B war daher gem. §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO einzustellen.
Bewertung:
Es ist keine Frage, dass der Staat – um Straftaten insbesondere aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität aufklären zu können – die kriminellen Strukturen u.a. durch den gezielten Einsatz von Verdeckten Ermittlern unterwandern dürfen muss. Die Grenze ist aber dort zu setzen, wo der Staat tatverdächte Personen erst durch Anstiftung oder andere Provokation dazu bringt, Straftaten zu begehen. Von daher war der Wandel in der Rechtsprechung längst überfällig. Die EMRK mit ihren Gewährleistungen ist "Gesetz und Recht" i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG und daher auch vom BGH zu beachten. Aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (Art. 1 Abs. 2 GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik Deutschland mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, sind Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK bei der Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Mit Unterzeichnung und Ratifizierung der EMRK hat sich die Bundesrepublik zudem dazu verpflichtet, auch den Urteilen des EGMR Folge zu leisten (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Insofern war die Überführung der Rechtsprechung des EGMR in die staatliche Strafrechtsordnung konsequent und geboten. Aber auch bei rein nationaler Betrachtung des Falls war das Verhalten der Ermittlungsbehörden rechtsstaatswidrig und von solcher Intensität, dass auch auf dem Boden des GG die Annahme eines Verfahrenshindernisses die allein richtige Konsequenz war. Die Annahme eines bloßen Beweisverwertungsverbots wäre dem nicht gerecht geworden. Dem BGH ist daher vollumfänglich beizupflichten. Somit bleibt (lediglich) die Erwartung, dass sich nunmehr auch das BVerfG klar von der „Strafzumessungslösung“ verabschiedet und in der Tatprovokation von Tatverdächtigen durch Polizeibeamte stets ein zwingendes Verfahrenshindernis sieht.
R. Schmidt
(4.2.2016)