BGH, Urt. v. 12.10.2016 - VIII ZR 103/15
Mit Urteil vom 12.10.2016 (VIII ZR 103/15) hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Reichweite der Beweislastumkehrregelung des § 476 BGB beim Verbrauchsgüterkauf geändert und an die vom EuGH (Urt. v. 4.6.2015 – C-497/13, NJW 2015, 2237 – Faber/Autobedrijf Hazet Ochten BV) (siehe Newsticker-Beitrag v. 31.7.2015) vorgenommene Auslegung des Art. 5 III RL 1999/44/EG (Verbrauchsgüterkaufrichtlinie) angepasst.
Ausgangslage:
Die Ausübung von Mängelrechten (Nacherfüllung, Minderung, Rücktritt, Schadensersatz, Aufwendungsersatz, vgl. § 437 BGB) setzt zunächst einen Mangel an der Sache voraus. Diesbezüglich kann entscheidend sein, wer (der Verkäufer oder der Käufer) den Mangel zu beweisen hat. Denn wie bei R. Schmidt, BGB AT, Rn. 64 ausgeführt, gilt im Zivil(prozess)recht die (unausgesprochene) Grundregel („Rosenbergsche Formel“, vgl. Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 98 f.), dass bei einem non liquet („es ist nicht klar“) jede Partei die Voraussetzungen der anspruchsbegründenden Rechtsnorm, auf die sie sich stützt, beweisen muss und das Risiko der Nichterweislichkeit einer Beweisbehauptung zu tragen hat (Beweislast, die im Rahmen des § 286 ZPO zu berücksichtigen ist). Will die Zivilrechtsordnung von dieser Grundregel abweichen, muss sie dies durch entsprechende Regelungen tun, die eine Erleichterung bzw. Umkehr der Beweislast zum Gegenstand haben oder die eine gesetzliche Vermutung normieren. Im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs ist dies durch § 476 BGB geschehen. Diese Vorschrift wurde im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung zusammen mit etlichen anderen Verbraucherschutzvorschriften 2002 in Umsetzung europäischen Verbraucherschutzrechts (konkret: Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG) in Kraft gesetzt: Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang (i.d.R. die Übergabe, vgl. § 446 BGB) ein Sachmangel, stellt § 476 BGB die Vermutung auf, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar.
Damit besteht also eine widerlegliche gesetzliche (Rechts-)Vermutung: Zeigt sich bei einem Verbrauchsgüterkaufvertrag binnen der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang ein Sachmangel, muss zwar der Käufer beweisen, dass ein Sachmangel besteht. Gelingt ihm aber dieser Beweis, greift die Beweislastumkehrregelung des § 476 BGB, wonach dieser Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlag (st. Rspr. des BGH, vgl. nur BGH NJW 2014, 1086, 1087 – mit Verweis u.a. auf BGHZ 159, 215 ff.; 167, 40 ff.).
Fraglich war bislang allein die Reichweite dieser Regelvermutung. Jedenfalls greift sie bei Mängeln, die zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorhanden waren, auch wenn sie sich erst später zeigen („latente Mängel“). Umstritten war indes die Frage, ob sich die gesetzliche Beweislastumkehr des § 476 BGB auch auf einen dem (später) festgestellten Mangel vorgelagerten Grundmangel erstreckt. Unter „Grundmangel“ ist ein Mangel zu verstehen, der zwar zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorhanden war, der zu diesem Zeitpunkt aber noch keinerlei Auswirkungen auf die Gesamtsache zeigte. Diese zeigen sich erst später in Form eines Folgemangels.
Beispiel: Der Zahnriemen des Motors eines Gebrauchtwagens riss 5 Monate nach Übergabe des Fahrzeugs, wodurch ein kapitaler Motorschaden entstand.
Da der Motor zum Zeitpunkt der Übergabe keinen Defekt zeigte, scheidet insoweit ein Sachmangel, der Mängelrechte nach sich zieht, aus. Als Mangel kommt aber ein Materialfehler am Riemen in Betracht (sog. Grundmangel). Ob aber Grundmängel von der Beweisregelung des § 476 BGB erfasst werden, ist fraglich. Der BGH entschied 2014 zunächst, dass § 476 BGB lediglich den Zeitpunkt des Mangels erfasse; der Nachweis, dass ein Mangel vorliegt, sei Sache des Käufers. Den Nachweis, dass etwa ein Materialfehler am Riemen vorlag, vermochte der Käufer des Gebrauchtwagens nicht zu erbringen. Daher war seine Klage abzuweisen.
In der Literatur wurde diese Entscheidung kritisiert, da es einem Käufer regelmäßig nicht gelinge, einen solchen Beweis zu erbringen, und § 476 BGB in den sog. Grundmangel-Fällen praktisch leerlaufe (so etwa die Kritik von Lorenz, in: MüKo, § 476 Rn. 4). Die gesetzliche Vermutung in § 476 BGB beziehe sich auf den Mangel insgesamt, der bei Übergabe vorliege, und differenziere nicht zwischen Grundmängeln und Folgemängeln.
Im Sinne der genannten Kritik entschied denn auch der EuGH. Im Fall EuGH 4.6.2015 – C-497/13 (NJW 2015, 2237 – siehe Newsticker-Beitrag v. 31.7.2015) erwarb eine Verbraucherin (Frau Faber) bei einem Autohaus in den Niederlanden (Autobedrijf Hazet Ochten BV) ein Gebrauchtfahrzeug. Fünf Monate nach Übergabe fing das Fahrzeug – ohne erkennbare Fremdeinwirkung – Feuer und brannte vollständig aus. Frau Faber machte einen technischen Mangel am Fahrzeug für den Brand verantwortlich und machte beim Autohaus Mängelrechte geltend. Da die Brandursache jedoch nicht ermittelt werden konnte, verweigerte das Autohaus sämtliche Begehren.
Der EuGH entschied, Art. 5 III RL 1999/44/EG sei dahingehend auszulegen, dass der Verbraucher zwar vortragen und den Beweis erbringen müsse, dass das verkaufte Gut nicht vertragsgemäß sei, da es z.B. nicht die im Kaufvertrag vereinbarten Eigenschaften aufweise oder sich nicht für den Gebrauch eigne, der von einem derartigen Gut gewöhnlich erwartet werde. Der Verbraucher müsse aber nur das Vorliegen der Vertragswidrigkeit beweisen. Er müsse weder den Grund für die Vertragswidrigkeit noch den Umstand beweisen, dass sie dem Verkäufer zuzurechnen sei (Rn. 70 der Entscheidung). Darüber hinaus führt der EuGH aus, der Verbraucher müsse beweisen, dass die in Rede stehende Vertragswidrigkeit binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar geworden ist, also sich ihr Vorliegen tatsächlich herausgestellt hat (Rn. 71 der Entscheidung). Gelinge ihm dieser Beweis, müsse der Verkäufer nachweisen, dass der Grund oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der Lieferung des Gutes eingetreten ist (Rn. 73 der Entscheidung).
Konsequenz:
Daraus folgt (auch hinsichtlich der Auslegung des § 476 BGB): Nach der vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Art. 5 III RL 1999/44/EG muss (nach wie vor) der Verbraucher das Vorliegen eines Mangels beweisen. Gelingt ihm dieser Beweis, ist es Sache des Verkäufers, den Beweis zu erbringen, dass weder der Mangel noch seine Ursache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlagen.
Da der EuGH Art. 5 III RL 1999/44/EG weit auslegt, ist damit auch § 476 BGB dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass der Verkäufer das Nichtvorliegen auch von Folgemängeln zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs beweisen muss. De facto wird er beweisen müssen, dass der Mangel erst nach Gefahrübergang eingetreten ist. Da ihm dies kaum gelingen dürfte, bedeutet das für den Verbraucher eine erhebliche Verbesserung seiner Rechtsstellung. In seinem Newsticker-Beitrag v. 31.7.2015 hat der Verfasser daher konstatiert, der BGH müsse seine Rechtsprechung dahingehend ändern, dass sich die Vermutungsregel in § 476 BGB auch auf Folgemängel erstrecke, also auf Mängel, die erst später auftreten, deren Ursache aber bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs bestand.
Nun hatte der BGH erneut über diese Frage zu entscheiden. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: K kaufte von V, einem Gebrauchtwagenhändler, einen gebrauchten BMW 525d Touring zum Preis von 16.200 €. Nach knapp fünf Monaten und einer von K absolvierten Laufleistung von rund 13.000 Kilometern schaltete die im Fahrzeug eingebaute Automatikschaltung in der Einstellung „D“ nicht mehr selbstständig in den Leerlauf; stattdessen starb der Motor ab. Ein Anfahren war nicht mehr möglich. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Mangelbeseitigung trat K vom Kaufvertrag zurück und verlangte u.a. die Rückzahlung des Kaufpreises (abzüglich einer Nutzungsentschädigung). Die Instanzgerichte wiesen die Klage unter Berufung auf die bisherige Rechtsprechung des BGH zurück. K habe nicht den ihm obliegenden Beweis erbracht, dass das Fahrzeug bereits bei seiner Übergabe einen Sachmangel aufgewiesen habe. Zwar seien die aufgetretenen Symptome nach den Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen auf eine zwischenzeitlich eingetretene Schädigung des Freilaufs des hydrodynamischen Drehmomentwandlers zurückzuführen. Auch sei es grundsätzlich möglich, dass der Freilauf schon bei der Übergabe des Fahrzeugs mechanische Veränderungen aufgewiesen habe, die im weiteren Verlauf zu dem eingetretenen Schaden geführt haben könnten. Nachgewiesen sei dies jedoch nicht. Vielmehr komme als Ursache auch eine Überlastung des Freilaufs, mithin ein Bedienungsfehler des K nach Übergabe in Betracht. Bei einer solchen Fallgestaltung könne sich K nicht auf die zugunsten eines Verbrauchers eingreifende Beweislastumkehrregelung des § 476 BGB berufen. Denn nach der Rechtsprechung des BGH begründe diese Vorschrift lediglich eine in zeitlicher Hinsicht wirkende Vermutung, wonach ein innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang aufgetretener Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen habe. Sie gelte dagegen nicht für die Frage, ob überhaupt ein Mangel vorliege. Wenn daher – wie hier – bereits nicht aufklärbar sei, dass der eingetretene Schaden auf eine vertragswidrige Beschaffenheit des Kaufgegenstands zurückzuführen sei, gehe dies zu Lasten des Käufers.
Entscheidung des BGH: Der BGH hat dieser (auch von ihm früher vertretenen) Auffassung nunmehr eine Absage erteilt und dabei explizit auf das oben erwähnte EuGH-Urteil abgestellt. Die mit diesem Urteil vorgenommene Auslegung des Art. 5 III RL 1999/44/EG, der durch § 476 BGB in nationales Recht umgesetzt worden sei, gebiete es, im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung des § 476 BGB den Anwendungsbereich dieser Beweislastumkehrregelung zugunsten des Verbrauchers in zweifacher Hinsicht zu erweitern.
Dies betreffe zunächst die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Käufers hinsichtlich des – die Voraussetzung für das Einsetzen der Vermutungswirkung des § 476 BGB bildenden – Auftretens eines Sachmangels innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang. Anders als nach der bisherigen Senatsrechtsprechung müsse der Käufer im Rahmen von Art. 5 III RL 1999/44/EG weder den Grund für die Vertragswidrigkeit noch den Umstand beweisen, dass sie dem Verkäufer zuzurechnen sei. Vielmehr habe er lediglich darzulegen und nachzuweisen, dass die erworbene Sache nicht den Qualitäts-, Leistungs- und Eignungsstandards einer Sache entspreche, die er zu erhalten nach dem Vertrag vernünftigerweise erwarten konnte. In richtlinienkonformer Auslegung des § 476 BGB lasse der Senat nunmehr die dort vorgesehene Vermutungswirkung bereits dann eingreifen, wenn dem Käufer der Nachweis gelinge, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine „Mangelerscheinung“) gezeigt hat, der – unterstellt, er hätte seine Ursache in einem dem Verkäufer zuzurechnenden Umstand – die Haftung des Verkäufers wegen Abweichung von der geschuldeten Beschaffenheit begründen würde. Dagegen müsse der Käufer fortan weder darlegen und nachweisen, auf welche Ursache dieser Zustand zurückzuführen sei, noch darlegen und nachweisen, dass diese in den Verantwortungsbereich des Verkäufers falle.
Außerdem sei im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des § 476 BGB die Reichweite der dort geregelten Vermutung um eine sachliche Komponente zu erweitern. Danach komme dem Verbraucher die Vermutungswirkung des § 476 BGB fortan auch dahingehend zugute, dass der binnen sechs Monaten nach Gefahrübergang zu Tage getretene und vom Verbraucher nachgewiesene mangelhafte Zustand so behandelt werde, dass er zumindest im Ansatz schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe, solange der Verkäufer nicht das Gegenteil beweise. Damit werde der Käufer – anders als bisher von der Senatsrechtsprechung gefordert – der Pflicht zum Nachweis, dass ein erwiesenermaßen erst nach Gefahrübergang eingetretener akuter Mangel seine Ursache in einem latenten Mangel habe, enthoben.
Folge dieser geänderten Auslegung des § 476 BGB sei eine im größeren Maß als bisher angenommene Verschiebung der Beweislast vom Käufer auf den Verkäufer beim Verbrauchsgüterkauf. Der Verkäufer habe den Nachweis zu erbringen, dass die aufgrund eines binnen sechs Monaten nach Gefahrübergang eingetretenen mangelhaften Zustands eingreifende gesetzliche Vermutung, bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs habe – zumindest ein in der Entstehung begriffener – Sachmangel vorgelegen, nicht zutrifft. Er habe also darzulegen und nachzuweisen, dass ein Sachmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs noch nicht vorhanden war, weil er seinen Ursprung in einem Handeln oder Unterlassen nach diesem Zeitpunkt hat und ihm damit nicht zuzurechnen ist. Gelinge ihm diese Beweisführung – also der volle Beweis des Gegenteils der vermuteten Tatsachen – nicht hinreichend, greife zugunsten des Käufers die Vermutung des § 476 BGB auch dann ein, wenn die Ursache für den mangelhaften Zustand oder der Zeitpunkt ihres Auftretens offengeblieben sei, also letztlich ungeklärt geblieben sei, ob überhaupt ein vom Verkäufer zu verantwortender Sachmangel vorlag. Daneben verbleibe dem Verkäufer die Möglichkeit, sich darauf zu berufen und nachzuweisen, dass das Eingreifen der Beweislastumkehr des § 476 BGB ausnahmsweise bereits deswegen ausgeschlossen sei, weil die Vermutung, dass bereits bei Gefahrübergang im Ansatz ein Mangel vorlag, mit der Art der Sache oder eines derartigen Mangels unvereinbar sei (§ 476 BGB a.E.). Auch könne der Käufer im Einzelfall gehalten sein, Vortrag zu seinem Umgang mit der Sache nach Gefahrübergang zu halten.
Fazit:
Ergeht eine nationale Vorschrift in Umsetzung einer EU-Richtlinie, ist sie gemäß der Zielsetzung der Richtlinie auszulegen. Der BGH hat dies jahrelang nicht in dem erforderlichen Maß getan. Nach der nunmehr vom BGH vorgenommenen richtlinienkonformen Auslegung des § 476 BGB muss (zwar nach wie vor) der Verbraucher das Vorliegen eines Mangels beweisen. Gelingt ihm dieser Beweis, ist es indes Sache des Verkäufers, den Beweis zu erbringen, dass weder der Mangel noch seine Ursache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlagen. Das entspricht nicht nur der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, sondern ebenso wie der Verweis auf die Entlastungsmöglichkeit nach § 476 BGB a.E. auch dem Fazit des Verfassers in seinem Newsticker-Beitrag v. 31.7.2015.
Rolf Schmidt
(31.10.2016)