EGMR, Urt. v. 10.1.2017 - 1955/10
Mit Urteil vom 10.1.2017 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kein Recht auf Scheidung gewähre. Ob diese Entscheidung richtig ist, soll im Folgenden untersucht werden.
Ausgangslage:
Prüfungsmaßstab des vorliegenden Falles ist die 1950 vom Europarat erarbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere deren Art. 8. Darüber, welcher Rang der EMRK im Normengefüge der einzelnen Konventionsstaaten zukommt, enthält (wie sich u.a. aus Art. 57 EMRK ergibt) die EMRK keine verbindliche Regelung. Vielmehr hängt er von der Art der Umsetzung ab. Insoweit haben die Konventionsstaaten einen Gestaltungsspielraum. In der Schweiz bspw. hat die EMRK grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht einschließlich der Bundesverfassung (vgl. BGE 138 II 524 E. 5.1: "Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor"). Und in der Bundesrepublik Deutschland kommt der EMRK kraft gesetzlicher Übernahme im Jahre 1953 ("Rechtsanwendungsbefehl") gem. Art. 59 II S. 1 GG der innerstaatliche Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu (R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfG NJW 2016, 1295, 1297; BVerfG 4.5.2015 - 2 BvR 2169/13; BVerfGE 128, 326, 367; 111, 307, 317; 82, 106, 120; 74, 358, 370). Daraus folgt, dass die EMRK mit ihren Grund- und Menschenrechten in ihrem Rang unterhalb der Grundrechte des Grundgesetzes auf der Ebene von Bundesgesetzen steht. Allerdings ist es ständige Rspr. des BVerfG, dass aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG (Art. 1 II GG) sowie der völkervertraglichen Bindung, die die Bundesrepublik mit der Unterzeichnung der EMRK eingegangen ist, Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nicht nur bei der Anwendung von einfachem Recht, sondern auch bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind (vgl. R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 5 mit Verweis auf BVerfGE 128, 326, 366 ff.; 111, 307, 317; 83, 119, 128; 74, 358, 370). Ist eine konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich (etwa, weil der Wortlaut nicht weiter auslegbar ist), muss den Gewährleistungen der EMRK nötigenfalls durch richterliche Rechtsfortbildung Rechnung getragen werden.
Missachtungen der Gewährleistungen der EMRK können von jedem Einzelnen vor dem EGMR geltend gemacht werden. So entscheidet nach Art. 34 EMRK der EGMR über Individualbeschwerden, mit denen jeder Bürger eines Vertragsstaates nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs eine Verletzung der EMRK rügen kann (Art. 35 EMRK). Stellt der EGMR daraufhin einen Verstoß gegen die EMRK fest, ist – aus völkerrechtlicher Sicht – der verurteilte Staat zur Abhilfe bzw. ggf. zur Entschädigung verpflichtet (Art. 46 I EMRK).
Im vorliegend zu besprechenden Fall geht es um die Frage, ob die EMRK ein Recht auf Scheidung gewährleistet, was der EGMR verneint.
Der Entscheidung lag folgender (leicht abgeänderter) Sachverhalt
zugrunde: M, polnischer Staatsbürger, unterhielt während seiner Ehe mit F eine Beziehung zu einer anderen Frau, mit der er nunmehr eine gemeinsame Zukunft verbringen wollte. Daher beabsichtigte er, sich von seiner Ehefrau scheiden zu lassen, und stellte einen entsprechenden Antrag vor Gericht. Jedoch stimmte seine Ehefrau der Scheidung nicht zu. Sie erklärte, ihn trotz seiner Beziehung zu einer anderen Frau noch immer zu lieben und sich mit ihm versöhnen zu wollen. Daraufhin wies das polnische Familiengericht den Scheidungsantrag ab. Zwar stellte es fest, dass die Ehe zerrüttet sei und in einem solchen Fall jeder der beiden Ehegatten die Scheidung beantragen könne, jedoch lehnte es den Scheidungsantrag ab mit der Begründung, dass eine Ehe nur dann geschieden werden könne, wenn der Antragsgegner die Zerrüttung herbeigeführt habe (sog. Verschuldensprinzip). Das sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Vielmehr sei M es gewesen, der die Zerrüttung verschuldet habe. Nach Erschöpfung des Rechtswegs erhob M Individualbeschwerde vor dem EGMR. Er machte geltend, die Versagung der Scheidung durch die polnischen Gerichte verletze ihn in seinen Menschenrechten aus der EMRK. Aber auch der EGMR half der Sache nicht ab. Er entschied, dass die EMRK den polnischen Regelungen nicht entgegenstehe. Sie gewähre kein Recht auf Scheidung.
Bewertung:
Solange also F der Scheidung nicht zustimmt, bleibt M mit ihr verheiratet. Das hat nicht nur personenstandsrechtliche Auswirkungen mit der Folge, dass M daran gehindert ist, jemals eine andere Frau zu heiraten, sondern auch unterhalts- und vermögensrechtliche Konsequenzen. Nicht nur in Anbetracht dieser Folgen, sondern auch mit Blick auf Wortlaut und Telos des Art. 8 EMRK ist dieses Urteil unverständlich. Art. 8 I EMRK gewährt das Recht auf Privatleben. Aus diesem Recht leitet der EGMR auch sonst ein allgemeines Persönlichkeitsrecht ab, dessen Schutzniveau er tendenziell hoch bemisst (EGMR NJW 2014, 3291 ff.). Und Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das Recht auf Selbstbestimmung, welches wiederum das Recht auf Wahl des Personenstandes und damit auch das Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft impliziert (R. Schmidt, Grundrechte, 20. Aufl. 2016, Rn. 269 (zwar bzgl. Art. 2 I i.V.m. 1 I GG, aber durchaus auf Art. 8 I EMRK übertragbar). Art. 8 I EMRK gewährleistet damit also durchaus ein Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft. Dieses Recht darf gem. Art. 8 II EMRK eine staatliche Behörde nur verwehren, wenn dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Keiner dieser Gründe ist in der Lage, das Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft zu verwehren. Insbesondere ist nicht ersichtlich, warum in einem Konventionsstaat (auch in Polen, auf dessen Rechtsordnung sich die Entscheidung des EGMR bezog) die Moral (der Gesellschaft) oder Rechte und Freiheiten anderer das Recht eines Menschen, sich aus einer Ehe oder Partnerschaft lösen zu wollen, überwiegen sollen. Mag dies vor etlichen Jahrzehnten noch anders gesehen worden sein, überwiegt in einer modernen demokratischen Gesellschaft das Recht auf Selbstbestimmung und damit das Recht auf Scheidung bzw. Lösung von der Partnerschaft.
Ergebnis:
Entgegen der Auffassung des EGMR steht die EMRK einem Recht auf Scheidung bzw. Lösung von einer Partnerschaft also nicht nur nicht entgegen, sondern sie schützt dieses Recht auch. Insofern ist im Ergebnis den abweichenden Meinungen zweier EGMR-Richter zu folgen.
Weiterführender Hinweis:
In der Bundesrepublik Deutschland würde sich ein solches Problem (wohl) nicht stellen. Das früher auch hier geltende Schuldprinzip wurde nämlich bereits 1977 durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt. Nach § 1565 I S. 2 BGB ist die Ehe gescheitert, wenn sie unheilbar zerrüttet ist. Das wiederum wird nach § 1566 II BGB unwiderleglich vermutet, wenn die Ehegatten seit drei Jahren voneinander getrennt leben. Die Unwiderleglichkeit des Scheiterns ergibt sich hier also aus der langen Trennung von drei Jahren, womit es den Parteien erspart bleibt, die Verschuldensgründe darzulegen und zu beweisen oder zu widerlegen. Und dem Familiengericht bleibt es erspart, anhand der Sachvorträge eine Zustandsprüfung vorzunehmen. Es scheidet schlicht die Ehe allein aufgrund unwiderleglich vermuteter Zerrüttung. Davon macht es lediglich dann eine Ausnahme, wenn die Aufrechterhaltung der Ehe im Interesse der gemeinsamen Kinder der Ehegatten notwendig ist (Kinderschutzklausel, § 1568 Var. 1 BGB) oder wenn die Scheidung aufgrund von außergewöhnlichen Umständen eine so schwere Härte darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe unter Berücksichtigung der Belange des Antragsgegners ausnahmsweise geboten erscheint (Ehegattenschutzklausel, § 1568 Var. 2 BGB).
F des obigen EGMR-Falls könnte also nach deutschem Recht die Ehescheidung grundsätzlich nicht einseitig verhindern - mit Blick auf das dem M zustehende Grund- und Menschenrecht auf Selbstbestimmung die allein richtige Regelung.
R. Schmidt
(19.2.2017)