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Beiträge 2018


18.7.2018: Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit auch außerhalb einer Vernehmung 

BGH, Urteil v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17 (NJW 2018, 1986)

Mit Urteil v. 6.3.2018 hat der 1. Strafsenat des BGH (1 StR 277/17) entschieden, dass die Aussagefreiheit auch außerhalb von Vernehmungen nach §§136,136a StPO verletzt werden und zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann. Ob das Urteil überzeugt, soll im Folgenden untersucht werden.

Ausgangslage: Für das Strafprozessrecht gelten verschiedene Grundsätze (Maximen), die die Struktur des Verfahrens prägen. Sie stehen im engen Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip, den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Grundgesetzes, sind aber nicht unmittelbare Folge aus diesen, sondern vielmehr historisch begründet: Es handelt sich um eine Errungenschaft des gegen den Obrigkeitsstaat kämpfenden Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, der u.a. die Ablösung des „Inquisitionsprozesses“ zur Folge hatte. Unter „Inquisitionsprozess“ versteht man einen geheimen Prozess, bei dem die Einleitung, die Ermittlungen und die Verurteilung in einer Hand liegen. Dass ein „Inquisitionsprozess“ in einem demokratischen Rechtsstaat keinen Platz hat, ist selbstverständlich. Dementsprechend ist das Strafverfahren von folgenden Prinzipien geleitet (siehe Hartmann/Schmidt, StrafProzR, Rn. 65):  
  • Unschuldsvermutung 
  • Offizialprinzip
  • Akkusationsprinzip
  • Legalitätsprinzip
  • Opportunitätsprinzip 
  • Fair-trial-Prinzip 
  • Beschleunigungsgebot (Konzentrationsmaxime) 
  • Untersuchungsgrundsatz (Ermittlungsgrundsatz)
  • Grundsatz des gesetzlichen Richters
  • Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
  • Nemo tenetur se ipsum accusare
  • In dubio pro reo
  • Grundsatz der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit 
  • Grundsatz der Unmittelbarkeit
  • Grundsatz des rechtlichen Gehörs 
  • Gerichtliche Fürsorgepflicht 
Im vorliegenden Zusammenhang ist der Nemo-tenetur-Grundsatz einschlägig (vollständig heißt dieser lateinische Rechtssatz: nemo tenetur se ipsum procedere (oder) accusare: Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu verraten/belasten/anzuzeigen). Dieser Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit besagt, dass der Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, aktiv die Sachaufklärung zu fördern bzw. aktiv an seiner Überführung mitzuwirken, insbesondere, sich selbst zu belasten.  Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang (BVerfGE 38, 105, 113; 55, 144, 150; 56, 37, 43; 110, 1, 31; BGH NJW 2018, 1986, 1987); er ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips (Art 20 III GG) und der Grund- und Menschenrechte, insbesondere des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) und der Menschenwürde (Art. 1 I S. 1 GG – siehe BVerfGE 38, 105, 113; 55, 144, 150; 56, 37, 43; BGH NJW 2018, 1986, 1987). Streng genommen basiert die Selbstbelastungsfreiheit nicht auf den genannten Verfassungsbestimmungen, da sie schon lange vor Inkrafttreten des Grundgesetzes bestand. Selbstverständlich aber ist sie unter der Geltung des Grundgesetzes den genannten Bestimmungen zuzuordnen. Konventionsrechtlich ist die Selbstbelastungsfreiheit durch Art. 6 EMRK geschützt. Der Beschuldigte darf nicht zu Tests, Tatrekonstruktionen, zur Abgabe von Schrift- und Stimmproben, zum Atemalkoholtest (vgl. dazu KG NStZ 2015, 42 mit Bespr. v. Mosbacher, NStZ 2015, 42 f.) etc. gezwungen werden (BGH NStZ 2004, 392, 393; OLG Brandenburg NStZ 2014, 524, 525), wohl aber zur passiven Duldung bspw. einer Blutprobenentnahme (all dies gilt gem. § 46 OWiG auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren, vgl. Mosbacher, NStZ 2015, 42 f.; Geppert, NStZ 2014, 481, 482; Cierniak/Herb, NZV 2012, 409, 410 f.). Einfachgesetzlich abgesichert wird der Nemo-tenetur-Grundsatz in der StPO durch ein umfassendes Schweigerecht des Beschuldigten sowohl im Ermittlungsverfahren (§ 136 I S. 2 StPO – vgl. dazu etwa BGH NJW 2013, 2769 f.; OLG Nürnberg StRR 2014, 105 f. Vgl. auch Kasiske, JuS 2014, 15 ff.) als auch während der Hauptverhandlung (§ 243 V S. 1 StPO – vgl. nur BGH NStZ 2016, 59 f.), worauf der Beschuldigte/Angeklagte bei der Vernehmung hinzuweisen ist. Daher dürfen auch keine Spontanäußerungen des Beschuldigten/Angeklagten, die er nach der Belehrung über sein Schweigerecht macht und nach der Erklärung, dass er von seinem Schweigerecht Gebrauch mache, zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen gemacht werden (BGH NJW 2013, 2769 f.; BGH NJW 2018, 1986, 1987). Ebenfalls ist der Nemo-tenetur-Grundsatz verletzt, wenn in einer Vernehmung oder „vernehmungsähnlichen Situation“ (also einer Situation, in der außerhalb einer förmlichen Vernehmung befragt wird) der Beschuldigte nicht eigenverantwortlich entscheiden kann, ob und ggf. inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt, die Ermittlungsperson diese Unfähigkeit der freien Entscheidung erkennt und gleichwohl durch ihr hartnäckiges Verhalten dazu beiträgt, dass der Beschuldigte die Aussagefreiheit nicht wahrnehmen kann (BGH NJW 2018, 1986, 1987 mit Verweis auf BVerfGE 38, 105, 113; 56, 37, 43; BGHSt 52, 11, 17 f.).   

Dem vorliegend zu besprechenden Urteil des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde (abgewandelt, um die Probleme des Falls zu fokussieren): Aufgrund von Mietrückständen kam es zu einer Räumungsklage in Bezug auf das von T gemietete Wohnhaus. Frustrationsbedingt fasste sie daher den Entschluss, das Gebäude anzuzünden. Sie kaufte bei einer nahegelegenen Tankstelle Benzin und brachte es in einem Benzinkanister zum Haus. Dort nahm sie zehn Tabletten des Antidepressivums Sertralin ein. Anschließend verteilte sie an mehreren Stellen im Haus sowie in der Garage zusammengerolltes Zeitungspapier und sonstiges brennbares Material, übergoss es mit Benzin und entzündete dann die präparierten Stellen. Weil ein Teil des ausgebrachten Benzins verdampft und dadurch ein Benzindampf-Luft-Gemisch entstanden war, führte dies mit dem Anzünden zu einer explosionsartigen Verpuffung. Infolge des raschen Eintreffens der durch Nachbarn herbeigerufenen Feuerwehr konnte der Brand gelöscht und T unverletzt gerettet werden. T wurde noch im Bereich des Brandobjekts durch Kriminalhauptkommissar R über ihre Rechte gem. § 136 StPO belehrt. Sie äußerte daraufhin, zur Sache nicht aussagen zu wollen. In der Folge wurde T in ein Krankenhaus verbracht, um mögliche gesundheitliche Folgen der Raucheinwirkungen abklären zu lassen. Mit der Begleitung der T war die Kriminalbeamtin K beauftragt worden, welche, wie bei der Kriminalpolizei üblich, Zivilkleidung trug. Auf dem Weg zum Dienstfahrzeug fragte T, die sich bei deutlich erhöhter Pulsfrequenz in der Angst befand, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, die K, ob diese Ärztin sei. K verneinte dies und wies auf ihren Polizeibeamtenstatus hin. Im Krankenhaus gab T auf Befragen des Arztes an, sie habe zehn Tabletten des Medikaments Sertralin genommen. Zudem sei viel Rauch entstanden. Sie habe „Benzin ausgeschüttet und das ausgeschüttete Benzin angezündet, überall im Erdgeschoss“, davor habe sie „Tabletten genommen“. K hielt sich zu dieser Zeit – für T erkennbar – ebenfalls im Behandlungszimmer auf und nahm daher die Äußerungen der T zur Kenntnis. Zuvor hatte K dem Arzt und der T die Frage gestellt, ob sie hinausgehen solle, ohne allerdings irgendeine Antwort zu erhalten. Später, im Krankenzimmer, ließ T die K mehrfach an ihr Bett kommen, um in Erfahrung zu bringen, wie es ihrer Tochter, die sich zur Zeit des Brandes ebenfalls im Haus aufhielt, gehe. Dabei äußerte sie gegenüber K u.a. wörtlich, dass sie einfach „nicht mehr konnte“ und „einfach alles angezündet“ habe.

Später im Prozess wurde K als Zeugin vernommen; ihre Aussage wurde vom Strafgericht verwertet. Die Angaben am Krankenbett seien verwertbare freiwillige Spontanäußerungen außerhalb einer Vernehmungssituation gewesen. Darauf stützte sich die Revision der T.

Entscheidung des BGH: In diesem Fall fand zwar zunächst eine förmliche Vernehmung durch R unter Beachtung der Belehrungspflicht bzgl. der Aussagefreiheit vor. Jedoch befand sich T anschließend ununterbrochen dem Einfluss der K ausgesetzt, die zu keinem Zeitpunkt auf das Schweigerecht der T Rücksicht nahm. Der BGH stellte hierzu fest, dass T letztlich auf diese Weise einer dauerhaften Befragung ausgesetzt war. Dies habe schon während des Transports der T zum Krankenhaus begonnen. K habe immer wieder das Gespräch auf die Tat gelenkt, auch im Wartebereich vor dem Arztzimmer, obwohl T zuvor ausdrücklich von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Sie sei – weshalb sie ja einem Arzt habe vorgestellt werden müssen – in einer gesundheitlich sehr angeschlagenen Verfassung gewesen. Sie habe eine Überdosis Psychopharmaka zu sich genommen und sich bei deutlich erhöhter Pulsfrequenz in der Angst befunden, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Schon allein aufgrund dieser prekären gesundheitlichen Verfassung sei T nicht aussagebereit gewesen, was weitere Fragen ausgeschlossen habe. Dies habe umso mehr gegolten, als T die K – wie sich aus ihrer Frage „Sind Sie Ärztin?“ ergeben habe – gar nicht als Kriminalbeamtin wahrgenommen habe (BGH NJW 2018, 1986, 1987).

Seien die Aussagen der T daher schon deshalb wegen Verstoßes gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz unverwertbar, könne es dahinstehen, ob das Arzt-Patienten-Gespräch wie im vorliegenden Fall nicht ohnehin einem Verwertungsverbot wegen einer Verletzung des absolut geschützten Kernbereichs persönlicher Lebensführung unterlegen hätte (BGH NJW 2018, 1986, 1987 mit Verweis auf BGHSt 50, 206, 210; 57, 71, 74 ff.), bei dem Ermittlungsmaßnahmen stets unzulässig seien (BGH NJW 2018, 1986, 1987 mit Verweis auf BVerfGE 129, 208, 265 f.; 109, 279, 322 f.; BT-Drs. 16/5846, 36 f.). Dagegen bestünden hinsichtlich der Verwertbarkeit der Aussagen später am Krankenbett keine Bedenken, da T selbst die K an ihr Bett holen ließ und die Tat gestand. 

Stellungnahme: Da sich T auf der Fahrt zum Krankenhaus und während der ärztlichen Behandlung im Krankenhaus in einer „vernehmungsähnlichen Situation“ befand und dabei zudem unfähig war, die Tragweite ihres Handelns zu erkennen, gebietet es der Nemo-tenetur-Grundsatz in der Tat, ihre Aussage als unverwertbar anzusehen. K hätte den vernehmungsunfähigen Zustand der T schon allein dadurch erkennen können, dass sie von T für eine Ärztin gehalten wurde; spätestens im Behandlungszimmer war K aber klar, dass T unter der Einwirkung von Psychopharmaka stand. K hätte daher nicht weiter auf T einwirken dürfen.  

Dass der BGH die Unverwertbarkeit der Aussage nicht mit einer Verletzung des Kernbereichsschutzes (Arzt-Patienten-Gespräch) begründet, sondern diese Frage offengelassen hat, mag auf den ersten Blick erstaunen, ist aber wohl dem Umstand geschuldet, dass er diese Frage nicht entscheiden wollte, zumal sowohl der Gesetzgeber als auch das BVerfG diese Frage im Falle von Arztgesprächen (lediglich) für möglich gehalten, ebenfalls aber nicht beantwortet haben (der BGH verweist insoweit auf BVerfGE 129, 208, 265 f.; 109, 279, 322 f.; BT-Drs. 16/5846, 36 f.). Zudem hätte die Beantwortung dieser Frage nichts daran geändert, dass die Fahrt zum Krankenhaus und das Gespräch später am Krankenbett nicht vom Kernbereichsschutz (Arzt-Patienten-Gespräch) erfasst waren und daher die Verwertbarkeit nicht daran gescheitert wäre. 

Im Übrigen bestand für den BGH auch keine Notwendigkeit, sich vom formellen Vernehmungsbegriff zu lösen, mit der Folge, dass die Vorschriften der §§ 163a IV, 136 StPO auch auf „Spontanäußerungen“, „informatorische Befragungen“ und „Befragungen“ eines Beschuldigten durch Private (V-Leute oder Informanten) anwendbar wären (siehe dazu Hartmann/Schmidt, StrafProzR, Rn. 238). Denn bejaht die Strafverfolgungsbehörde die Beschuldigteneigenschaft, muss sie förmlich vernehmen und zuvor belehren; anderenfalls verletzt sie die Beschuldigtenrechte, insbesondere die Selbstbelastungsfreiheit, mit der Folge der Unverwertbarkeit der Angaben, so, wie das bei einer fehlerhaften förmlichen Vernehmung der Fall wäre.


R. Schmidt (18.7.2018)



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