07.11.2020: Zur Strafbarkeit der Embryonenspende
BayObLG, Urt. v. 04.11.2020 – 206 StRR 1461/19
Mit Urteil v. 04.11.2020 (206 StRR 1461/19) hat der 6. Senat des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) entschieden, dass es dem Straftatbestand des § 1 I Nr. 2 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) unterfalle, wenn die zur künstlichen Befruchtung eingefrorenen Eizellen einer Frau aufgetaut werden, um damit die Schwangerschaft einer anderen Frau herbeizuführen, sofern sich die Zellen noch im sog. 2-PN-Stadium befinden. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.
I. Sachverhalt (leicht verändert)
Der verurteilte Arzt ist Mitglied eines Vereins, der durch beteiligte Ärzte es zeugungsunfähigen Frauen ermöglichte, imprägnierte kryokonservierte (d.h. in flüssigem Stickstoff bei -196 Grad Celsius tiefgefrorene) Eizellen zu erhalten, um auf diese Weise schwanger zu werden. Imprägniert ist eine Eizelle, bei der die Samenzelle zwar in das Plasma der Eizelle eingedrungen ist bzw. eingebracht wurde, aber noch keine Kernverschmelzung (Verschmelzung von Samen- und Eizellkern) stattgefunden hat. Die imprägnierten Eizellen stammten von Frauen, bei denen zuvor eine künstliche Befruchtung vorgenommen wurde. Dazu wurden der jeweiligen Frau Eizellen entnommen und mit dem Samen ihres Partners in vitro befruchtet und anschließend in die Gebärmutter der Frau eingesetzt. Dieses Verfahren ist nicht von den Strafnormen des ESchG erfasst, mithin straflos und in der Reproduktionsmedizin weit verbreitet. Die Besonderheit dieses Verfahrens besteht aber darin, dass stets mehrere Eizellen entnommen und imprägniert werden, weil die Erfolgsquote nicht sehr hoch ist. Die überzähligen imprägnierten Eizellen werden sodann kryokonserviert, um im Fall eines Fehlschlags auf weitere zurückgreifen zu können. Im Falle einer Schwangerschaft werden diese imprägnierten kryokonservierten Eizellen (jedenfalls für die konkrete Schwangerschaft) nicht mehr benötigt, sodass das Paar gefragt wurde, ob sie sie anderen Paaren überlassen möchten. Das aber könnte dem Straftatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG unterfallen, worüber seit Jahren juristischer Streit herrscht. Das BayObLG hat der Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Berufungsurteil (teilweise) stattgegeben und die Sache zurückverwiesen.
II. Biologische/medizinische Grundlagen
Ungewollte Kinderlosigkeit kann – beim Mann und bei der Frau – verschiedene (biologische) Ursachen haben. Im Zentrum steht die Infertilität, also die Unfähigkeit, Nachkommen zu zeugen, bzw. die Fähigkeit, nur noch sporadisch durch Spontankonzeption schwanger zu werden. Um sich gleichwohl den Kinderwunsch zu erfüllen, entscheiden sich viele betroffene Paare zur künstlichen Befruchtung, d.h. zur assistierten Reproduktion. Gemäß der Definition der „Richtlinie zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion“ der Bundesärztekammer v. 06.10.2017 wird als assistierte Reproduktion „die ärztliche Hilfe zur Erfüllung des Kinderwunsches durch medizinische Behandlungen und Methoden bezeichnet, die die Handhabung menschlicher Keimzellen (Ei- und Samenzellen) oder Embryonen zum Zwecke der Herbeiführung einer Schwangerschaft umfassen“ (Punkt 1.4, erster Spiegelstrich der Richtlinie). Im Mittelpunkt steht die „In-vitro-Fertilisation“ IVF (in vitro = lat.: „im Glas“). In-vitro-Fertilisation bedeutet also eine im Glas (d.h. Reagenzglas) vorgenommene Imprägnation der Eizelle, daher auch als „extrakorporale Imprägnation“ bezeichnet. Dazu werden der Frau unmittelbar vor dem (künstlich erzeugten) Eisprung Oozyten (Eizellen) aus den Ovarien (Eierstöcken) entnommen (Follikelpunktion). Jede entnommene Eizelle wird in ein Kulturgefäß überführt und dort mit den (aufbereiteten) Spermien zusammengeführt. Das erfolgt durch schlichte Vermischung. Sollte ein eigenständiges Eindringen einer Samenzelle in die Eizelle nicht möglich oder erschwert sein, wird „nachgeholfen“ mittels intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI), d.h. durch Injektion einer Samenzelle in das Plasma einer Eizelle. Das Eindringen einer Samenzelle in das Zellplasma einer Eizelle nennt man Imprägnation. Danach werden die imprägnierten Eizellen in einen Brutschrank gegeben, um die Befruchtung herbeizuführen bzw. abzuschließen. Die Befruchtungsphasen sind zeitlich, nach Fortschritt der Zellteilungen, gestaffelt:
Aus der Strafnorm des § 1 I Nr. 3 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) folgt, dass durch die IVF bzw. ICSI maximal 3 Embryonen extrakorporal erzeugt und übertragen werden dürfen. Üblicherweise werden daher 3 Embryonen erzeugt und in das PN-Stadium gebracht. Sodann werden maximal zwei Zellen des PN-Stadiums separiert und kryokonserviert, um – im Fall eines Fehlschlags – auf diese zurückgreifen zu können.
Lediglich die Eizelle(n), die auf die Frau übertragen werden soll(en), verbleibt bzw. verbleiben im Brutkasten zwecks Fortsetzung des Inkubationsprozesses. Nach Erreichen des Achtzellstadiums wird/werden sie dann mittels weichen Kunststoffkatheters in den Uterus (die Gebärmutter) der Frau übertragen (Embryonentransfer), damit sie sich dort einnistet bzw. einnisten (Nidation). Insoweit ist das Verfahren auch rechtlich einwandfrei.
Wenn aber die Implantation erfolgreich war und die Frau schwanger geworden ist oder sich der Kinderwunsch erübrigt hat, stellt sich die Frage nach dem Schicksal der überzähligen, kryokonservierten Eizelle(n). Es erscheint naheliegend, sie anderen Paaren zu überlassen. Ob das zulässig ist, ist zweifelhaft in Anbetracht der Strafnorm des § 1 I Nr. 2 ESchG, wonach sich strafbar macht, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Es kommt maßgeblich darauf an, ob zum Zeitpunkt der Kryokonservierung bereits eine Befruchtung stattgefunden hat. Nur, wenn das angenommen werden kann, ist § 1 I Nr. 2 ESchG nicht einschlägig. Da das ESchG den Begriff der Befruchtung jedoch nicht definiert, bedarf dieser einer Herleitung:
Befruchtet ist eine Eizelle jedenfalls mit der Kernverschmelzung (Konjugation), womit auch ein Embryo entstanden ist (siehe § 8 I Halbs. 1 ESchG). Die Konjugation wiederum ist gegeben, wenn sich Zellkern der Samenzelle und Zellkern der Eizelle vereinen. Das ist spätestens 24 Stunden nach der Imprägnation der Fall, also in der Phase 1 (im Pronucleus- bzw. PN-Stadium). Wie bereits erläutert, ist eine Eizelle imprägniert, wenn die Samenzelle zwar in das Plasma der Eizelle eingedrungen ist bzw. eingebracht wurde, aber noch keine Kernverschmelzung stattgefunden hat. Wird also eine lediglich imprägnierte Eizelle in die Gebärmutter einer anderen Frau implantiert, ist dieses Verfahren straflos, wenn man eine lediglich imprägnierte Eizelle noch nicht als befruchtete Eizelle ansieht. Eine Straflosigkeit besteht auch dann, wenn man eine imprägnierte Eizelle kryokonserviert und dabei nicht von einer Befruchtung ausgeht. Die entscheidenden Fragen lauten also: Handelt es sich bei einer imprägnierten Eizelle bereits um eine befruchtete Eizelle oder muss dazu eine Konjugation erforderlich sein? Und handelt es sich bei der kryokonservierten Eizelle bereits um eine befruchtete Eizelle?
III. Rechtliche Ausgangslage (Mutterschaft/Embryonentransfer)
Das BGB knüpft bei der Mutterschaft an die Geburt an. So ist nach § 1591 BGB Mutter eines Kindes die Frau, die es geboren hat. Eine so definierte Mutterschaft kann auf verschiedene (legale und illegale) Weisen entstehen (Übersicht nach R. Schmidt, FamR, 10. Aufl. 2018, Rn. 462m):
auf natürliche Weise (d.h. durch Geschlechtsverkehr)
mit dem Samen des Ehemanns
mit dem Samen eines anderen Mannes („Fremdinsemination“)
durch künstliche Befruchtung
mit dem Samen des Ehemanns (homologe intrakorporale Insemination)
mit dem Samen eines anderen Mannes (heterologe intrakorporale Insemination)
durch Entnahme einer Eizelle und Befruchtung außerhalb des Mutterleibs
mit dem Samen des Ehemanns (homologe extrakorporale Insemination)
mit dem Samen eines anderen Mannes (heterologe extrakorporale Insemination)
und anschließende Einsetzung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter der Frau, von der die Eizelle stammt
Zunächst ist es möglich, dass die Eizelle einer anderen Frau mit dem Samen des Ehemanns oder eines anderen Mannes in vitro bzw. durch intracytoplasmatischer Spermieninjektion befruchtet und anschließend in die Gebärmutter der (Ehe-)Frau eingesetzt wird. Dieses Verfahren ist nicht von den Strafnormen des ESchG erfasst, mithin straflos und in der Fortpflanzungsmedizin üblich (s.o.).
Jedoch macht sich gem. § 1 I Nr. 2 ESchG strafbar, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Hier stellt sich also die vorliegende Problematik nach dem Zeitpunkt, in dem von einer Befruchtung auszugehen ist.
Strafbar gem. § 1 I Nr. 6 ESchG ist auch die Entnahme einer bereits befruchteten Eizelle, d.h. eines Embryos (§ 8 I ESchG), aus dem Körper einer Frau, um diesen auf eine andere Frau zu übertragen oder ihn für einen nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden.
Gemäß § 1 I Nr. 7 ESchG macht sich auch strafbar, wer es unternimmt, bei einer Ersatzmutter (dazu R. Schmidt, FamR, 10. Aufl. 2018, Rn. 462a) eine künstliche Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen.
Vorliegend von keiner Relevanz ist der Fall, dass der Wunschmutter Eizellen zwecks In-vitro-Fertilisation bzw. intracytoplasmatischer Spermieninjektion entnommen werden, sich dann aber herausstellt, dass eine Einpflanzung einer imprägnierten bzw. befruchteten Eizelle in den Körper der Wunschmutter (medizinisch oder faktisch) unmöglich ist. Wird in diesem Fall ein Embryo in eine andere Frau übertragen, liegt kein Fall des § 1 II ESchG vor, da es allein schon an der zeitlichen Koinzidenz (vgl. § 1 II a.E. ESchG: „...ohne eine Schwangerschaft der Frau herbeiführen zu wollen, von der die Eizelle stammt“) fehlt. Gleiches gilt hinsichtlich der in § 1 I Nr. 6 ESchG beschriebenen Handlung, wenn die zeitliche Koinzidenz fehlt. Rechtspolitisch lässt sich die Straflosigkeit dieser Verfahren damit begründen, dass der Embryo anderenfalls verworfen werden müsste und dass die Ratio des ESchG, Vermeidung einer gespaltenen Mutterschaft, in diesen Fällen nicht greift (vgl. dazu Taupitz/Hermes, NJW 2015, 1802, 1803; Taupitz, NJW 2019, 337).
Jedoch ist unklar, ob ein Fall des § 1 I Nr. 2 ESchG auch dann vorliegt, wenn die in die Gebärmutter einer Frau eingepflanzte Eizelle von einer anderen Frau stammt. Das ist vorstellbar in dem Fall, in dem diese andere Frau und ihr Partner, von dem die Samenzelle stammt, die imprägnierte Eizelle nicht mehr benötigen, etwa, weil die Schwangerschaft bereits (durch eine IVF bzw. ICSI) eingetreten ist oder der Kinderwunsch sich erledigt hat. Wird die dann freigegebene imprägnierte Eizelle in eine andere Frau implantiert, könnte der Tatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG erfüllt sein. Ob das der Fall ist, hängt davon ab, ob eine Befruchtung bereits mit der Imprägnation vorliegt (dann kein Fall des § 1 I Nr. 2 ESchG) oder erst mit der Kernverschmelzung/Konjugation (dann Tatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG).
IV. Prüfung des Falls/Entscheidung des BayObLG
Der im Sachverhalt genannte Arzt könnte sich durch die Implantation einer aufgetauten imprägnierten bzw. befruchteten Eizelle in die Gebärmutter einer Frau, von der die Eizelle nicht stammt, nach § 1 I Nr. 2 ESchG strafbar gemacht haben. Nach dieser Norm macht sich strafbar, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Entscheidend ist also, in welchem Stadium des Befruchtungsprozesses die „Befruchtung“ i.S.d. § 1 I Nr. 2 ESchG anzunehmen ist. Teilweise wird auf den Zeitpunkt der Imprägnation abgestellt. Andere erachten den Zeitpunkt der Konjugation für maßgeblich. Das BayObLG hat entschieden, dass die Befruchtung einer Eizelle nicht schon durch das Einbringen der Samenzelle in die Eizelle geschehe (was also die Imprägnation als Akt der Befruchtung ausschließt), sondern sich über einen Zeitraum von bis zu 24 Stunden bis zur Entstehung eines Embryos (womit das Gericht wohl die Konjugation meint) vollziehe. Danach ist die Befruchtung also erst mit der Konjugation abgeschlossen. Schließt man sich dem an, kann man also lediglich von einem „Befruchtungsprozess“ sprechen, nicht aber von einer „fertigen Befruchtung“, solange die Konjugation noch nicht stattgefunden hat. Das wiederum führt zur Strafnorm des § 1 I Nr. 2 ESchG: Werden zwecks assistierter Reproduktion Eizellen der Wunschmutter entnommen, mit Samenzellen des Partners/Samenspenders imprägniert und sodann kryokonserviert, um sie später aufzutauen und der Wunschmutter zu implantieren, liegt darin noch keine Befruchtung, wenn man bei der Frage nach der Befruchtung auf das Stadium der Konjugation abstellt. Dann aber ist der Tatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG erfüllt, wenn eine imprägnierte Eizelle aufgetaut wird, diese dann das Stadium der Konjugation erreicht und sodann einer anderen Frau implantiert wird. Diese Lesart vertritt das BayObLG: Da die Befruchtung erst ihren Abschluss finde, wenn die Eizelle wieder aufgetaut werde, geschehe dann das Auftauen nicht mehr mit dem Ziel, eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt, sondern werde vorgenommen, um die Eizelle einer anderen Frau einzupflanzen. Damit sei der Tatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG erfüllt.
Stellungnahme: Nach dem soeben Aufgezeigten ist es also entscheidend, ob man die Imprägnation oder die Konjugation als Befruchtung ansieht. Rechtlich vertretbar ist beides, zumal das ESchG dies nicht annähernd beschreibt. Zieht man aber die Ratio der Strafnorm des § 1 I Nr. 2 ESchG heran, wonach man in erster Linie einer gespaltenen Mutterschaft (Auseinanderfallen von genetischer und gebärender Mutterschaft) begegnen wollte, weil dies als „Kindeswohlgefährdung“ angesehen wurde (siehe BT-Drs. 11/5460, S. 8), erscheint die Lesart des BayObLG auf den ersten Blick überzeugend. Jedoch bei einer gespaltenen Mutterschaft (zwingend) eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen, ist zum einen nicht dargelegt und entspricht zum anderen auch nicht modernen Familienstrukturen. Zudem erscheint es nicht nachvollziehbar, warum es einerseits strafbar ist, wenn imprägnierte Eizellen eingefroren, später aufgetaut und einer anderen Frau eingesetzt werden, wohingegen es straflos ist, wenn die eingefrorenen Eizellen bereits konjugiert waren. Ähnlich argumentierte auch der angeklagte Arzt gegenüber der LTO: „Das versteht kein Mensch. Wenn man nun einen Tag später einfriert, ist es legal“ (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bayoblg-206strr1461-19-netzwerk-embryonenspende-eizellspende-freispruch-revision-stattgegeben).
Insofern wäre eine teleologische Reduktion des § 1 I Nr. 2 ESchG angebracht gewesen und es hätte sich die gegenteilige Handhabung der mittlerweile 30 Jahre alten Strafnorm des § 1 I Nr. 2 ESchG angeboten: Wenn das Kryokonservieren eines bereits weiterentwickelten werdenden Menschen straflos ist, kann es nicht strafbar sein, wenn der werdende Mensch in einem früheren Stadium seiner Entwicklung kryokonserviert (und später einer anderen Frau eingesetzt) wird.
Ergebnis: Entgegen der Entscheidung des BayObLG ist der Tatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG nicht erfüllt. Richtigerweise ist eine Eizelle bereits mit der Imprägnation und nicht erst mit der Konjugation „befruchtet“ i.S.d. § 1 I Nr. 2 ESchG. Die vom BayObLG vorgenommene Auslegung des Begriffs der „Befruchtung“ war weder rechtspolitisch noch kriminologisch geboten. Auch aus teleologischer Sicht gibt es keinen überzeugenden Grund, die „Befruchtung“ mit dem Stadium der Konjugation zu definieren. Die Entscheidung des BayObLG war damit also jedenfalls nicht zwingend. Ob das BVerfG eine Grundrechtsverletzung (Art. 12 I GG; Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG) auf Seiten des verurteilten Arztes zu prüfen haben wird, bleibt (vorerst) abzuwarten.
Weiterführender Hinweis: Das BayObLG hat auf die Möglichkeit eines Verbotsirrtums hingewiesen, d.h. dem Berufungsgericht aufgetragen, die Voraussetzungen des § 17 StGB zu prüfen. Diese Vorschrift regelt zunächst den Fall, dass der Täter glaubt, es gebe gar keine Verbotsnorm, die sein Verhalten erfasst, oder das von ihm gewählte rechtliche Konstrukt sei zulässig (siehe die Fälle BGH NJW 2017, 1487 – Parkkralle; LG Passau 13.1.2016 – 1 Ns 35 Js 4140/13; AG Erfurt 28.4.2016 – 880 Js 10703/13 Ds mit Bespr. v. Putzke, ZJS 2016, 787 – dazu R. Schmidt, Strafrecht BT II, 21. Aufl. 2019, Rn. 546) und er habe sich daher nicht strafbar gemacht. Mithin geht es um die Konstellation, in der der Täter glaubt, er begehe kein Unrecht bzw. sein Handeln sei nicht verboten und daher nicht strafbar. Die rechtliche Behandlung erfolgt nach § 17 StGB. Jedoch handelt der Täter nach § 17 S. 1 StGB nur dann ohne Schuld, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte; anderenfalls (bei Vermeidbarkeit des Irrtums) kann die Strafe lediglich gemildert werden (§ 17 S. 2 StGB i.V.m. § 49 I StGB).
Hier ist übrigens die (aus dem römischen Recht stammende) Volksweisheit „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ (Ignorantia legis non excusat) anzusiedeln. Insbesondere betrifft dieser Rechtsirrtum nicht die Frage nach den Fehlerfolgen infolge Unkenntnis von Tatsachen, die dem gesetzlichen Tatbestand unterfallen (Ignorantia facti). Letzteres ist von § 16 StGB erfasst und führt zum Ausschluss des Vorsatzes.
An die Unvermeidbarkeit des Irrtums stellt der BGH durchweg hohe Anforderungen, da er dem Täter die Pflicht auferlegt, sich in zumutbarer Weise zu erkundigen (etwa durch Gesetzeslektüre bzw. Einholung von qualifiziertem Rechtsrat), damit dieser auf diesem Wege zur richtigen Einschätzung der Rechtslage gekommen wäre (Fischer, § 17 Rn. 7; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 44; BGH NStZ 2013, 461 f.; NJW 2006, 522, 523; NStZ 2000, 307, 309; BayObLG wistra 2000, 117; OLG Karlsruhe NJW 2003, 1061, 1062; vgl. auch BGH NJW 2004, 2459, 2460). In ständiger Rechtsprechung führt der BGH aus, dass ein Verbotsirrtum i.S.v. § 17 S. 1 StGB (nur dann) unvermeidbar ist, „wenn der Täter trotz der ihm nach den Umständen des Falls, seiner Persönlichkeit sowie seines Lebens- und Berufskreises zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige nicht zu gewinnen vermochte“. Im Zweifel treffe ihn eine Erkundigungspflicht (BGH NJW 2017, 2463, 2464 m.w.N.). Etwa aufkommende Zweifel seien erforderlichenfalls durch verlässliche und sachkundige Auskunft auszuräumen (BGH NJW 2017, 2463, 2464).
Der verurteilte Arzt hat sein Verhalten auf ein Gutachten einer Rechtsprofessorin gestützt, die das beschriebene Verfahren als straflos erachtet. Jedoch führt das nach der hier vertretenen Auffassung nicht dazu, dass sich der Arzt in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befand, da die Frage, ob eine Befruchtung i.S.d. § 1 I Nr. 2 ESchG bereits mit der Imprägnation oder erst mit der Konjugation vorliegt, umstritten ist und v.a. einige Instanzgerichte das bislang anders sahen. Bei einer unsicheren Rechtslage kann man sich nicht nur auf ein Rechtsgutachten stützen und kann demnach nicht allein deshalb von einem unvermeidbaren Verbotsirrtum ausgehen. Mithin befand sich der Arzt nicht in einem schuldausschließenden unvermeidbaren Verbotsirrtum. Es greift dann § 17 S. 2 StGB, der gem. § 49 I StGB zur Strafmilderung führt. All das setzt jedoch voraus, dass man (mit dem BayObLG) den Tatbestand des § 1 I Nr. 2 ESchG als erfüllt ansieht, was nach der hier vertretenen Auffassung aber nicht der Fall ist. Insofern stellt sich von dem hier vertretenen Standpunkt aus schon gar nicht die Problematik des Verbotsirrtums.
Rolf Schmidt (07.11.2020)