18.01.2021: „Ugah, Ugah“
– Verletzung der als unantastbar geschützten Menschenwürde
BVerfG, Beschluss v. 02.11.2020 – 1 BvR 2727/19
Mit dem genannten Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG entschieden, dass die Kündigung eines Arbeitsnehmers wegen rassistischer Beleidigung eines dunkelhäutigen Kollegen nicht das Grundrecht des Äußernden aus Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG (Meinungsäußerungsfreiheit) verletzt. Dem Beschluss liegt der Sachverhalt zugrunde, dass der später Gekündigte (im Folgenden: A) während einer betriebsverfassungsrechtlichen Gremiumssitzung im Rahmen einer Auseinandersetzung über den Umgang mit einem EDV-System gegenüber einem dunkelhäutigen Gremiumsmitglied (im Folgenden: B) die Äußerung „Ugah, Ugah“ tätigte, während dieser ihn als „Stricher“ bezeichnete. Das BVerfG entschied, dass die Äußerung „Ugah, Ugah“ Affenlaute imitiere und eine menschenverachtende Diskriminierung darstelle. Ob die Entscheidung überzeugt, soll im Folgenden – anhand einer systematischen und methodisch geordneten Aufbereitung – untersucht werden.
I. Grundrechtsgeltung auch im Privatrechtsverhältnis
Im klassischen Sinne stellen die Grundrechte Abwehr-, Leistungs- und Teilhaberechte im Verhältnis zwischen Bürger und Staat dar. Art. 1 III GG stellt dies verfassungsrechtlich klar, indem er die Grundrechtsgeltung nur auf Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bezieht. Private Rechtssubjekte können (von dem Sonderfall der Beleihung einmal abgesehen) danach keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten sein und folgerichtig auch nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) Grundrechte anderer Privater verletzen. Gleichwohl können einzelne Grundrechte kraft grundgesetzlicher Anordnung unmittelbar Einfluss auch auf die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander haben, so im Fall des Art. 9 III S. 2 GG. Dieser Effekt wird als „unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ bezeichnet (BVerfGE 93, 352, 360 f.; Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 56 ff.). Aber auch über den Fall der unmittelbaren Grundrechtsgeltung hinaus üben die Grundrechte, die ja nicht nur subjektive Rechte gegenüber dem Staat begründen, sondern auch eine objektive Wertordnung verkörpern (dazu R. Schmidt, Grundrechte, 25. Aufl. 2020, Rn. 21 ff. mit Nachweisen aus der Rspr.), Einfluss auf die gesamte (Zivil-)Rechtsordnung aus. Sie gelten daher für alle Bereiche des Rechts als Richtlinie und Impuls und damit auch mittelbar im Verhältnis der Bürger untereinander (allgemeine Ansicht, vgl. etwa BVerfG NVwZ 2020, 53, 59 – „Recht auf Vergessenwerden I“; BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 6; grundlegend BVerfGE 7, 198, 203 ff. – Lüth). Diesbezüglich hat sich der Begriff „mittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ etabliert, wobei das BVerfG in einigen jüngeren Entscheidungen nicht mehr explizit diesen Begriff verwendet, sondern schlicht eine Grundrechtsverletzung prüft. In der Sache geht es aber stets darum, dass bei der Auslegung der zivilrechtlichen streitentscheidenden Normen die grundrechtlichen Wertungen nicht verkannt werden. Das gilt insbesondere für die Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe. „Einfallstore“ der Grundrechte in das Zivilrecht sind unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln wie bspw. der vorliegend streitentscheidende Begriff des „wichtigen Grundes“ in § 626 BGB, über den die Arbeitsgerichte zu entscheiden hatten.
II. Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch die entscheidenden Gerichte
Kommt es wie vorliegend zu einer fachgerichtlichen (hier: arbeitsgerichtlichen) Entscheidung und ist diese dann Gegenstand der Verfassungsbeschwerde, ist es dieser staatliche Akt, der (wegen Art. 1 III GG) auf seine Grundrechtskonformität hin überprüft werden muss. So folgt aus Art. 1 III GG u.a., dass die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der streitentscheidenden Normen die Grundrechte der Parteien beachten müssen. Ob das Fachgericht bei der Anwendung einfachen Rechts die Grundrechte hinreichend beachtet hat, kann vom BVerfG im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde (Urteilsverfassungsbeschwerde) gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a und §§ 90 ff. BVerfGG überprüft werden. Das BVerfG prüft, ob der Beschwerdeführer gerade durch die fachgerichtliche Entscheidung in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. Ist die fachgerichtliche Entscheidung fehlerhaft und erfolgt die Verurteilung zu Unrecht, sagt man, das Urteil habe spezifisches Verfassungsrecht verletzt. Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (bzw. eine spezifische Grundrechtsverletzung) wird angenommen, wenn
und die Entscheidung auf einem dieser Fehler beruht (vgl. BVerfGE 7, 198, 203; 18, 35, 92 f.; 30, 173, 196 f.; 57, 250, 272; 74, 102, 127; 86, 59, 64; 59, 231, 268 f.; 77, 240, 255 f.; 101, 361, 388; 103, 142, 150; 105, 252 ff.; 105, 279 ff.; zusammenfassend BVerfG NJW 2015, 3158, 3159; vgl. auch BVerfG 31.1.2017 – 1 BvR 2454/16 und BVerfG NJW 2018, 770 f.).
Vorliegend kommt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts unter dem Aspekt „Verkennung der Bedeutung der Grundrechte bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts“ (mittelbare Drittwirkung von Grundrechten) in Betracht.
1. Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen?
Zu prüfen ist, ob A durch die arbeitsgerichtliche Bestätigung der Kündigung in seinem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG verletzt ist. Wäre das der Fall, führte das auch zur Unwirksamkeit der Kündigung.
a. Prüfung am Maßstab des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG
Aufgrund der Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft (hinsichtlich Art. 5 I GG vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2623; grundlegend BVerfGE 7, 198, 208) ist der Begriff der Meinung weit zu verstehen (vgl. nur BVerfGE 61, 1, 7: „Jeder soll frei sagen können, was er denkt ...“). Auf welchen Gegenstand sie sich bezieht und welchen Inhalt sie hat oder auf welchem intellektuellen Niveau sie sich befindet, ist insoweit gleichgültig; die Äußerung kann wahr oder unwahr (BVerfG NJW 2018, 770), politisch oder unpolitisch, von anderen als wertvoll oder wertlos, sachlich oder polemisch, vernünftig oder unvernünftig, harmlos oder gefährlich bzw. verletzend oder schockierend empfunden werden (siehe nur BVerfG NJW 2020, 2622, 2623). Nach Auffassung des BVerfG, das insoweit einen Rückschluss aus Art. 5 II Var. 3 GG (Recht der persönlichen Ehre) zieht, sind sogar Beleidigungen vom Schutzbereich des Art. 5 I GG erfasst; selbstverständlich treten sie dann aber im Rahmen der bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung vorzunehmenden Güterabwägung hinter den Ehrschutz zurück (vgl. etwa BVerfG 19.8.2020 – 1 BvR 2249/19; BVerfG NJW 2020, 2622, 2623). Denn auch das hohe Gut der Meinungsäußerungsfreiheit ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern steht (selbstverständlich) unter dem Postulat der Abwägung mit widerstreitenden Verfassungsgütern, insb. mit dem Persönlichkeitsrecht des von der Meinungsäußerung Betroffenen. Der Schrankenvorbehalt des Art. 5 II GG stellt dies klar. Aber auch bei Formalbeleidigungen, Schmähungen und sogar verbalen Angriffen auf die Menschenwürde nimmt das BVerfG regelmäßig die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 5 I GG an, lässt die Äußerungen aber (selbstverständlich) auf Schrankenebene (i.d.R. ohne eine umfassende Einzelfallabwägung vorzunehmen) hinter den Ehrschutz zurücktreten (vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2623 – Beleidigung von Justizpersonen; BVerfGE 93, 266, 293 f. – „Soldaten sind Mörder“; BVerfG NJW 2013, 3021, 3022 – Bezeichnung einer Rechtsanwaltskanzlei als „Winkeladvokatur“).
Eine Formalbeleidigung (die tw. auch als (Unter-)Form der Schmähung angesehen wird, siehe BVerfGE 93, 266, 294 und BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn 18) liegt nach allgemeiner Auffassung bei besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern – etwa aus der Fäkalsprache – vor, bei denen sich die Ehrkränkung nicht erst aus dem Inhalt der Äußerung ergibt, sondern schon durch die eindeutigen Worte, d.h. die Form (z.B. die Bezeichnung als „dumme Gans“ oder als „Vollidiot“) (BVerfG NJW 2020, 2622, 2624 f.).
Schmähungen sind Äußerungen, bei denen nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Es geht um Äußerungen, bei denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um eine andere Person persönlich zu kränken, über sie herzuziehen oder sie niederzumachen (vgl. etwa BVerfG NJW 2020, 2622, 2624 – Bezeichnung von Richtern u.a. als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Rechtsbeugung begingen und Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien – und BVerfG NJW 2016, 2870 – Bezeichnung einer Staatsanwältin als „widerwärtig, boshaft, dümmlich und geisteskrank“ –, jeweils mit Verweis auf BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16; 93, 266, 294).
Eine Menschenwürdeverletzung ist anzunehmen, wenn sich eine Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern sie einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht, wie das insbesondere bei einer menschenverachtenden Diskriminierung anzunehmen ist (vgl. BVerfG NJW 2020, 2622, 2625; BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn 15 – jeweils m.w.N.).
So heißt es im vorliegend zu besprechenden Beschluss, ob die gegenüber dem dunkelhäutigen Arbeitskollegen getätigte Äußerung „Ugah, Ugah“ eine erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellt, die als wichtiger Grund i.S.v. § 626 BGB zur Kündigung berechtigt:
„Die weitere eng zu verstehende Ausnahme vom Abwägungsgebot ist eine Äußerung, mit der die in Art. 1 Abs. 1 GG als unantastbar geschützte Menschenwürde verletzt wird. Da die Menschenwürde mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist, muss die Meinungsfreiheit dann stets zurücktreten.“ Weiter heißt es: „Sie (die Arbeitsgerichte) begründen ... ausführlich, dass es sich um menschenverachtende Diskriminierung handelt.“ (BVerfG 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19 Rn. 18).
b. Stellungnahme
Dass im Ergebnis die Äußerung des A gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des B zurücktreten muss und die Schwere der Würdeverletzung auch die fristlose Kündigung nach § 626 BGB rechtfertigt, ist nachvollziehbar und nicht zu beanstanden. Zu beanstanden ist aber die dogmatische Struktur der vom BVerfG vorgenommenen Grundrechtsprüfung. Den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 Var. 1 GG bei einer Äußerung zu bejahen, die nach ausdrücklicher Feststellung des BVerfG eine menschenverachtende Diskriminierung darstellt und die die als unantastbar geschützte Menschenwürde verletzt, kann nicht überzeugen. So würde das BVerfG auch den Schutzbereich des Art. 12 I S. 1 GG bspw. bei Menschenhandel, Zuhälterei, Handel mit kinderpornographischem Material, Drogenhandel keinesfalls bejahen. Daher erscheint es überzeugender, auf die Figur der verfassungsimmanenten Schutzbereichsbegrenzung (Muckel, FS Schiedermair, 2001, S. 347 mit Verweis auf Isensee, in: HdbStR V, § 111 Rn 56; Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rn 88 ff.; vgl. auch Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 530 ff.) zurückzugreifen, wonach die grundrechtlichen Schutzbereiche stets unter Berücksichtigung der jeweiligen Funktion eines Grundrechts zu ermitteln sind (siehe dazu ausführlich R. Schmidt, Grundrechte, 25. Auflage 2020, Rn. 126 ff.). So hat Art. 12 I S. 1 GG sicherlich nicht die Funktion, Menschenhändlern, Zuhältern, Personen, die mit kinderpornographischem Material handeln, Drogenhändlern oder gar „Berufskillern“ den grundrechtlichen Schutzbereich zu gewähren. Auch Art. 5 I GG kann nicht dazu dienen, Äußerungen zu schützen, die nicht ansatzweise der Auseinandersetzung in der Sache dienen, sondern bei denen die Diffamierung der Person im Vordergrund steht oder die eine menschenverachtende Diskriminierung darstellen. Vom Standpunkt der verfassungsimmanenten Schutzbereichsbegrenzung aus erreicht man also eine Ausgrenzung der aufgezeigten Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich und vermeidet die mit der Bejahung des Schutzbereichs verbundene, nicht zu vermittelnde Wirkung. Freilich führt das in der Konsequenz dazu, dass Aspekte der Güterabwägung, die nach der Systematik der Grundrechte der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind, in die Schutzbereichsprüfung „vorverlagert“ werden.
2. Ergebnis
Nach dem vom Verfasser vertretenen Standpunkt sind Verhaltensweisen, die mit der Funktion des Grundrechts nichts zu tun haben, aus dem Schutzbereich (Gewährleistungsbereich) herauszunehmen. Ist es nicht vermittelbar, z.B. Killerdiensten, Zuhälterei, Menschenhandel, Drogenhandel etc. lediglich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 12 I S. 1 GG zu begegnen (jedoch den Schutzbereich als eröffnet anzusehen), kann hinsichtlich verbaler Angriffe auf die auch vom BVerfG als unantastbar angesehene Menschenwürde nichts anderes gelten, möchte man sich nicht dem Einwand der Inkohärenz aussetzen.
III. Hinweise für die Bearbeitung entsprechender Fallstudien
Ob man bei Vorliegen einer Schmähung den Schutzbereich des Art. 5 I GG verneint oder diesen als eröffnet ansieht und die Schmähung auf Schrankenebene zurücktreten lässt, mag auf den ersten Blick einerlei sein, da die Schmähung auf jeden Fall keinen Bestand hat. Jedenfalls hinsichtlich solcher Schmähungen, die auf die Verletzung der Menschenwürde gerichtet sind, sprechen die besseren Argumente für die Verneinung bereits des Schutzbereichs, allein, um dem Äußernden nicht noch den Schutzbereich des Grundrechts zu eröffnen.
Keinesfalls offenbleiben darf aber die Frage, ob die zu prüfende Äußerung eine Schmähung bzw. eine Formalbeleidigung oder eine menschenverachtende Diskriminierung darstellt oder lediglich als polemische und überspitzte Kritik einzustufen ist. Denn während die Schmähung (bzw. die Formalbeleidigung oder die menschenverachtende Diskriminierung) entweder zur Verneinung bereits des Schutzbereichs führt oder jedenfalls (unter Verzicht auf eine Abwägung im Einzelfall) hinter das kollidierende allgemeine Persönlichkeitsrecht zurücktritt, ist bei einer lediglich polemischen oder überspitzten Kritik eine echte Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtsgütern erforderlich (vgl. dazu BVerfG NJW 2003, 1109, 1110; DVBl 2009, 243, 244 f.; NJW 2012, 3712, 3713 f.; BGH NJW 2004, 596 f.). In der Fallbearbeitung ist also folgendermaßen vorzugehen:
Rolf Schmidt (18.01.2021)