Aktuelles 2022 Zur Frage nach der Entschaedigungspflicht des Staates bei coronabedingten Schliessungsverfuegungen

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22.01.2022: Zur Frage nach der Entschädigungspflicht des Staates bei coronabedingten Schließungsverfügungen


OLG Brandenburg 1.6.2021 – 2 U 13/21; LG Hannover 9.7.2020 – 8 O 2/20 (NJW-RR 2020, 1226); LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20; OLG Köln 20.9.2021 – 7 U 1/21 (NJW-RR 2021, 1536); OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21; VGH Mannheim 2.11.2021 – 1 S 2802/21 (NJW 2021, 3799)


A. Einführung

Die die gesamte Gesellschaft seit Anfang 2020 betreffende Corona-Pandemie hat schwerwiegende Folgen hinterlassen. Gerade vom ersten, am 22.3.2020 in Kraft getretenen Lockdown, der zur Schließung der meisten Betriebe des Einzelhandels, von Kinos, Theatern, Diskotheken, Restaurants und anderen (Freizeit-)Einrichtungen geführt hat, haben sich viele Betriebe bis heute nicht erholt. Die ausgezahlten Corona-Hilfen (v.a. die als Billigkeitszahlungen deklarierten staatlichen Überbrückungshilfen) stellen lediglich (aber immerhin) Zuschüsse zu den Fixkosten dar. 


So wurden und werden erstattet:

  • bis zu 100 Prozent der förderfähigen Fixkosten bei mehr als 70 Prozent Umsatzeinbruch
  • bis zu 60 Prozent der förderfähigen Fixkosten bei 50 Prozent bis 70 Prozent Umsatzeinbruch
  • bis zu 40 Prozent der förderfähigen Fixkosten bei mindestens 30 Prozent Umsatzeinbruch

(jeweils im Vergleich zum entsprechenden Monat des Jahres 2019).

(Quelle: ueberbrueckungshilfe-unternehmen.de/UBH/Redaktion/DE/Artikel/ueberbrueckungshilfe-iii-plus.html)

 

Da jedoch allein Zuschüsse zu den Fixkosten nicht genügen, um sämtliche Folgen von Betriebsschließungen zu kompensieren, ist der Frage nachzugehen, ob Betroffene aus staatshaftungsrechtlichen Gesichtspunkten weitergehende Entschädigungsansprüche haben.   


I. Übersicht

Werden durch staatliches Verhalten Rechtsgüter beeinträchtigt, stellt sich die Frage, ob sich daraus Schadensersatz-, Ausgleichs-, Wiederherstellungs- und/oder Unterlassungsansprüche ergeben. Diese Frage beantwortet das Recht der staatlichen Ersatzleistungen (auch als Staatshaftungsrecht bezeichnet). Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Staatshaftung ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, das sich in dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung kon­kreti­siert und in den Art. 1 III und 20 III GG positivrechtlich zum Ausdruck kommt. Eine umfassende unmittelbare Staatsunrechtshaftung wird von Verfassungs wegen allerdings nicht gefordert (BVerfG NVwZ 1998, 271, 272; BGH NJW 1998, 142). Gesetzlich bzw. richterrechtlich anerkannt sind aber (Auflistung nach R. Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 22. Aufl. 2020, Rn. 1061):

 

  • Amtshaftungsanspruch wegen rechtswidrigen schuldhaften Verhaltens eines in Ausübung seines Amtes hoheitlich tätigen öffentlichen Bediensteten (Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB)
  • Anspruch auf Entschädigung für rechtmäßige gezielte Eingriffe in das Eigentum (Enteignung), Art. 14 III GG i.V.m. den Regelungen des betreffenden Enteignungsgesetzes
  • Anspruch auf Entschädigung für besondere Belastungen im Rahmen der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art. 14 I S. 2 GG (sog. ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung)
  • Anspruch auf Entschädigung für rechtswidrige Beeinträchtigungen des Eigentums (sog. enteignungsgleicher Eingriff)
  • Anspruch auf Entschädigung für enteignend wirkende Nebenfolgen rechtmäßigen Verwaltungshandelns (sog. enteignender Eingriff)
  • Anspruch auf Entschädigung für Eingriffe in immaterielle Rechte (Aufopferungsanspruch i.e.S.)
  • Allgemeiner öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch, der nach der wohl noch h.M. nicht auf Schadensersatz oder Entschädigung in Geld gerichtet ist, sondern auf die Beseitigung eines rechtswidrigen, wenn auch ursprünglich durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln hervorgerufenen Zustands und die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, des status quo ante in natura, ausgelegt ist
  • Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch und öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch


II. Entschädigungsanspruch wegen ausgleichspflichtiger Inhalts- und Schrankenbestimmung?

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 I S. 1 GG ein elementares Grundrecht und von besonderer Bedeutung für das Individuum (vgl. nur BVerfG NJW 2017, 217, 221 – Atomausstieg). Andererseits beauftragt das Grundgesetz den Gesetzgeber, Inhalt und Schranken des Eigentums und des Erbrechts zu bestimmen (Art. 14 I S. 2 GG); zudem soll der Gebrauch der durch Art. 14 I S. 1 GG geschützten Eigentumsposition dem Wohl der Allgemeinheit dienen (Art. 14 II GG). Um verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein, müssen Inhalts- und Schrankenbestimmungen (ISB) zunächst durch Gesetz erfolgen (Art. 14 I S. 2 GG). Es besteht also ein zwingender Gesetzesvorbehalt. Der Gesetzgeber, der Inhalt und Schranken der als Eigentum grundrechtlich geschützten Rechtspositionen bestimmt, hat dabei sowohl der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 I S. 1 GG als auch der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 II GG) Rechnung zu tragen. Danach an sich verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmungen können sich gleich­wohl im konkreten Einzelfall als unverhältnismäßig erweisen. In einem solchen Fall kann unter bestimmten Voraussetzungen die Verfassungs­widrigkeit der betreffenden Maßnahme durch Gewährung einer Geldentschädigung abgewendet werden (ausgleichspflichtige ISB). Das Gesetz, das die Inhalts- und Schrankenbestimmung darstellt, muss selbst Regeln enthalten, die zunächst den Bestand des Eigentums sichern, d.h. den Eingriff vermeiden. Solche Regeln sind z.B. im Denkmalschutzrecht Ausnahmen oder Befreiungen. Die unverhältnismäßige Belastung muss so weit als möglich real vermieden werden. Nur wenn dies nicht möglich ist, darf als Ultima Ratio eine Entschädigungsregel vorgesehen und Ersatz in Geld geleistet werden. Fehlt eine Entschädigungsregel in einer Inhalts- und Schrankenbestimmung, die den Einzelnen unverhältnismäßig belastet und damit ausgleichspflichtig wird, ist das Gesetz verfassungswidrig. Der Betroffene erhält aber keine Entschädigung. Vielmehr muss er wie bei der Enteignung ohne Entschädigungsregel den beeinträchtigenden Hoheitsakt selbst anfechten. Der Sekundäranspruch auf Geldersatz steht dem Primäranspruch auf Abwehr der Maßnahme nach (Vorrang des Primärrechtsschutzes). So müsste man bei den zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) ergangenen staatlichen Schließungsmaßnahmen in Bezug auf Kinos, Theater, Diskotheken, Restaurants und andere (Freizeit-)Einrichtungen eine ISB annehmen, da nicht lediglich die Berufsausübung beeinträchtigt ist, sondern eine eigentumsbeeinträchtigende Existenzgefährdung und -vernichtung vorliegt. Das aber würde bedeuten, dass aufgrund der Intensität der Beeinträchtigung auch gesetzliche Entschädigungsregelungen pflichtig wären. Da die gesetzlichen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes (InfSchG), auf deren Grundlage die Maßnahmen ergingen, aber keine Ausgleichsregelungen enthalten, müsste man im Ergebnis eine verfassungswidrige ISB annehmen. Die Rechtsprechung hat das Fehlen von Entschädigungsregelungen jedoch nicht beanstandet und daher auch keine verfassungswidrige ISB angenommen. Soweit ersichtlich, behandelt sie die Entschädigungsfrage noch nicht einmal unter dem Gesichtspunkt der (ausgleichspflichtigen) ISB, sondern ausschließlich im Rahmen des enteignenden Eingriffs.


III. Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs?

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei dem enteignenden Eingriff um einen zwangsweisen staatlichen Zugriff auf das Eigentum, der den Betroffenen im Vergleich zu anderen entgegen dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz ungleich behandelt bzw. trifft und ihn zu einem besonderen Opfer für die Allgemeinheit zwingt, das er hinzunehmen hat (BGH NJW 2013, 1736 unter Verweis u.a. auf BGH JZ 1962, 609, 611.; vgl. auch LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 71 ff.). Im Vordergrund steht danach die Entschädigung aufgrund einer aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht hinzunehmenden atypischen und unvorhergesehenen eigentumsbeeinträchtigenden Nebenfolge eines rechtmäßigen hoheitlichen Verwaltungshandelns (vgl. etwa BGH NJW 2011, 3157, 3158 f.; BGH NJW 2013, 1736 f.; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 72; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 34). Der BGH leitet das Institut des enteignenden Eingriffs (wie das des enteignungsgleichen Eingriffs) aus Aufopferungsgewohnheitsrecht her, namentlich aus dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Aufopferungsgedanken der §§ 74, 75 der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts (EinlPrALR) vom 5.2.1794 in seiner richterrechtlich geformten Ausprägung (BGHZ 90, 17, 29 f.; 91, 20, 27 f.; 102, 350, 357; 111, 349, 352; 122, 76, 77; BGH JZ 1997, 557).


Hinsichtlich der Abgrenzung zwischen ausgleichspflichtigen ISB und dem enteignenden Eingriff kommt es also auf die Finalität der eigentumsbeeinträchtigenden Folge an: Während die ausgleichspflichtige ISB eine finale, d.h. zielgerichtete rechtmäßige Eigentumsbeeinträchtigung voraussetzt, kennzeichnet sich der enteignende Eingriff durch die atypische und unvorhergesehene eigentumsbeeinträchtigende Nebenfolge eines rechtmäßigen hoheitlichen Verwaltungshandelns. Daher müsste man die zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Co­rona-Virus“) ergangenen staatlichen Schließungsmaßnahmen dogmatisch korrekt im Rahmen der (ausgleichspflichtigen) ISB erörtern. Denn es handelt sich bei den Folgen der Schließungsmaßnahmen (in Bezug auf Kinos, Theater, Diskotheken, Restaurants und andere (Freizeit-)Einrichtungen) gerade nicht um lediglich atypische und unvorhergesehene eigentumsbeeinträchtigende Nebenfolgen; sie waren typisch und wurden vorhergesehen. Gleichwohl behandelt die Recht­sprechung die Problematik im Rahmen des enteignenden Eingriffs statt sie als (nicht) ausgleichspflichtige ISB anzusehen.


1. Anwendbarkeit und Rechtsnatur des Haftungsinstituts

Die Anwendbarkeit des enteignenden Eingriffs ist (wie die Anwendbarkeit des enteignungsgleichen Eingriffs) aber ausgeschlossen, soweit Spezialregelungen greifen, welche die gleiche Zielrichtung verfolgen. Das betrifft zunächst das Strafverfolgungsentschädigungsgesetz (StrEG), das Ent­schädigungsansprüche gewährt. Weiterhin zu nennen sind § 52 Bundespolizeigesetz und insbesondere die Vorschriften der Landespolizeigesetze hinsichtlich der rechtmäßigen Inanspruchnahme von Nicht­störern (siehe etwa §§ 80 ff. NdsPOG). Das ist bspw. der Fall, wenn der durch einen rechtmäßigen Eingriff im polizeilichen Notstand in Anspruch Genommene ein Sonderopfer erbringt und dadurch einen gesetzlichen Entschädigungsanspruch (etwa nach § 80 I S. 1 NdsPOG) erlangt. Jedoch kann ein Entschädigungsanspruch nach den Grundsätzen des polizeilichen Notstands wiederum ausgeschlossen sein, wenn von einem Spezialgesetz (auch durch Nichtregelung) eine Sperr­wirkung ausgeht, etwa weil das Spezialgesetz die Ent­schädigungsfrage abschließend (nicht) regelt (vgl. BGH NJW 2011, 3157, 3158 f.; BGH NJW 2013, 1736 f.; BGH NJW 2017, 3384 f.; siehe auch OLG Brandenburg 1.6.2021 – 2 U 13/21; LG Hannover NJW-RR 2020, 1226; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 71 ff.; OLG Köln NJW-RR 2021, 1536, 1537; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 18 ff.; VGH Mannheim NJW 2021, 3799, 3800; Grefrath, NJW 2022, 215, 217). Ein solches Spezialgesetz ist z.B. das Infektionsschutzgesetz, das in seinen §§ 56 ff. Entschädigungsregelungen enthält.


Beispiel: K ist Betreiber eines Multiplex-Kinos. Zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) erging auf der Grundlage des InfSchG und der landesrechtlichen Corona-Eindämmungsverordnung eine Schließungsverfügung. Zwar erhielt K staatliche Überbrückungshilfen („Corona-Hilfen“) in Form von Zuschüssen zu den Fixkosten, jedoch genügte dies bei Weitem nicht, die Umsatzausfälle zu kompensieren. Er verlangte daher weitergehende staatliche Ausgleichszahlungen.

 

Da die staatlichen Schließungsanordnungen und die ihnen zugrunde liegenden Ermächtigungsgrundlagen des InfSchG als geeignet und erforderlich anzusehen sind, um die Pandemie einzudämmen und deren (tödliche) Folgen zu begrenzen, kommt es für die Frage nach der Rechtmäßigkeit darauf an, ob man sie auch für angemessen erachtet. Nimmt man dies (richtigerweise) an (siehe OVG Lüneburg 22.4.2020 – 13 MN 105/20 Rn. 8 ff.; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 78 ff.; OLG Köln NJW-RR 2021, 1536, 1537; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 18), ergibt sich ein Entschädigungsanspruch des K jedenfalls nicht aus Amtshaftung oder aus enteignungsgleichem Eingriff, da beide Haftungsinstitute an die Rechtswidrigkeit staatlichen Verhaltens anknüpfen. Die Entschädigungsregelungen der §§ 56 ff. InfSchG greifen tatbestandlich nicht; für eine analoge Anwendung fehlt die planwidrige Regelungslücke. Die Rechtsprechung weist diesbezüglich darauf hin, dass der Gesetzgeber bewusst nur bestimmte, und keine allgemeine Entschädigung wegen pandemiebedingter Ausfälle geregelt habe; gegen eine analoge Anwendung des Infektionsschutzgesetzes (besser: der Entschädigungsregelungen des Infektionsschutzgesetzes) sprächen schließlich die entsprechenden Hilfsprogramme des Bundes und der Länder, die Hilfen jenseits gesetzlicher Regelungen zum Gegenstand haben (ergänze: und ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich um Billigkeitsentschädigungen handele). Das belege, dass Bund und Länder bewusst davon abgesehen haben, insoweit gesetzliche Entschädigungstatbestände zu schaffen (LG Hannover NJW-RR 2020, 1226, 1227; LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn 44 ff.; OLG Köln NJW-RR 2021, 1536, 1537; OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn 18 ff.; OVG Lüneburg 3.9.2021 – 13 OB 321/21 Rn 15 ff.; VGH Mannheim NJW 2021, 3799, 3800). Ein Rückgriff auf die Entschädigungsregelungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist aufgrund der als abschließend zu betrachtenden speziellen Regelungen des InfSchG daher ausgeschlossen (LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn 70 ff.), sodass nach der Rechtsprechung der Anwendungsbereich des enteignenden Eingriffs eröffnet ist (siehe auch VGH Mannheim NJW 2021, 3799, 3800). Die Möglichkeit der ausgleichspflichtigen ISB wird – soweit ersichtlich – trotz der typischen und auch vorhergesehenen Nebenfolgen nicht aufgegriffen.


2. Voraussetzungen

Im Unterschied zum enteignungsgleichen Eingriff, bei dem der Eingriff auf einem rechtswidrigen hoheitlichen Handeln basiert, stützt sich der enteignende Eingriff auf eine an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahme, die bei dem Betroffenen unmittelbar zu Nachteilen führt, die er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen hinnehmen muss, die aber die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren übersteigen (BGH NJW 2013, 1736 f.; BGH NJW 2005, 1363; BGHZ 158, 263, 267; 100, 335, 3379). Meist (aber nicht zwingend) geht es (wie aufgezeigt) um eine unbeabsichtigte atypische und unvorhergesehene Nebenfolge eines an sich rechtmäßigen hoheitlichen Handelns (BGH NJW 2013, 1736 f.; NJW 1986, 2423, 2424). Der entscheidende Unterschied zum enteignungsgleichen Eingriff besteht mithin in der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Die Abgrenzung zur ausgleichspflichtigen ISB wird anhand der atypischen und unvorhergesehenen Nebenfolgen der Maßnahme determiniert.


So werden hinsichtlich der zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) auf der Grundlage des InfSchG und der landesrechtlichen Corona-Eindämmungsverordnungen ergangenen Schließungsverfügungen auch von der Rechtsprechung die Merkmale des enteignenden Eingriffs definiert. Die erforderliche atypische und unvorhergesehene Nebenfolge wird aber nicht zum Gegenstand einer Subsumtion gemacht. Stattdessen wird schlicht das Sonderopfer verneint (vgl. etwa OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21). Hätte man dogmatisch korrekt die Schließungsverfügungen am Maßstab der ausgleichspflichtigen ISB geprüft (da die Folgen nicht atypisch waren und sie auch vorhergesehen wurden), wäre es auf das „Sonderopfer“ nicht angekommen.


Ein Sonderopfer ist dann anzunehmen, wenn ein Eingriff in eine eigentumsrechtlich geschützte Rechtsposition des Betroffenen vorliegt, durch den der Betroffene unverhältnismäßig oder im Verhältnis zu anderen ungleich betroffen wird, und er mit einem besonderen, den übrigen nicht zugemuteten Opfer für die Allgemeinheit belastet wird (LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 80 mit Verweis auf BGHZ 121, 328 Rn 12; 197, 43 Rn. 8; siehe auch OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 34, das allein darauf abstellt, ob die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überstiegen wurde).


Ob eine hoheitliche Maßnahme die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überschreitet und damit ein Sonderopfer begründet oder sich noch als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums begreifen lässt, kann nur aufgrund einer umfassenden Beurteilung der Umstände des Einzelfalls entschieden werden (BGH NJW 2013, 1736 f. mit Verweis auf BGH VersR 1988, 1022, 1023). Mit der Formulierung: „er mit einem besonderen, den übrigen nicht zugemuteten Opfer für die Allgemeinheit belastet wird“ macht die Rechtsprechung deutlich, dass kein Entschädigungsanspruch be­steht, wenn ein (sehr) weiter Personenkreis von der Maßnahme betroffen ist (LG Hannover 20.11.2020 – 8 O 4/20 Rn. 81; siehe aber auch OLG Hamm 5.11.2021 – 11 U 44/21 Rn. 34, das allein darauf abstellt, ob die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überstiegen wurde; von einem „Vergleich zu anderen“ ist im Urteil nicht die Rede). Frei­lich kann das nicht unwidersprochen bleiben. Denn für den Einzelnen wird die Belastung ja nicht dadurch milder, dass auch viele andere mitunter existenzgefährdend belastet sind. Damit wird aber zugleich die Frage nach der Reichweite des Staatshaftungsrechts eröffnet, d.h., ob der Staat auch dann zur Entschädigung verpflichtet ist, wenn nicht nur Einzelne betroffen sind, sondern ein größerer Kreis betroffen ist (es also an der das Sonderopfer kennzeichnenden Vergleichsgruppe fehlt).


Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung ergibt sich für das obige Beispiel, dass K nicht individuell belastet war. Sämtliche Betreiber von Kinos, Theatern, Diskotheken, Restaurants und anderen (Freizeit-)Einrichtungen waren gleichermaßen von den Schließungsanordnungen betroffen. Daher liegt kein „individuelles“, sondern ein „generelles“ Sonderopfer vor, das nach der Rechtsprechung (wohl) nicht zu einem Entschädigungsanspruch nach den Grundsätzen des enteignenden Eingriffs führt. Ob dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der staatlich (und nicht von K) verursachten existenzgefährdenden Situation Bestand haben kann, ist unklar. Kritisiert man die Rechtsprechung (so z.B. Grefrath, NJW 2022, 215 ff.), muss man aber auch die weiteren Folgen bedenken, die höchstwahrscheinlich eingetreten wären, wenn der bundesweite Lockdown im Frühjahr 2020 nicht angeordnet worden wäre. Es muss nämlich davon ausgegangen werden, dass dann gerade wegen der vorherrschenden Delta-Variante weite Teile der Bevölkerung schwer erkrankt wären und nicht hätten medizinisch versorgt werden können mit der Folge unzähliger Todesfälle. Spätestens dann wären die Gäste ebenfalls ausgeblieben und K wäre (wenn er denn selbst überlebt hätte) – ganz ohne staatliche Schließungsverfügung – existenzgefährdend betroffen gewesen.


B. Fazit

Der Anspruch auf Aufopferungsentschädigung wegen enteignenden Eingriffs nach §§ 74, 75 EinlPrALR in ihrer richterrechtlichen Ausprägung kommt in Betracht aufgrund einer aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht hinzunehmenden atypischen und unvorhergesehenen eigentumsbeeinträchtigenden Nebenfolge eines rechtmäßigen hoheitlichen Verwaltungshandelns. Jedoch ist zu beachten, dass das Institut der Aufopferungsentschädigung wegen enteignenden Eingriffs ausscheidet, wenn spezielle Regelungen eine Entschädigung vorsehen bzw. ausdrücklich verneinen. Entschädigungsansprüche können nach dem Infektionsschutzgesetz oder nach dem Landespolizeigesetz (etwa nach § 80 I S. 1 NdsPOG) gewährt werden. Die Entschädigungsregelungen der §§ 56 ff. InfSchG greifen tatbestandlich nicht; für eine analoge Anwendung fehlt die planwidrige Regelungslücke; ein Rückgriff auf die Entschädigungsregelungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist aufgrund der als abschließend zu betrachtenden speziellen Regelungen des InfSchG ausgeschlossen. Daher ist der Weg zur Aufopferungsentschädigung wegen enteignenden Eingriffs nicht von vornherein versperrt. Für eine Entschädigung kommt es daher auf das Vorliegen der Voraussetzungen an: Da von den Schließungen Betroffene für die SARS-CoV-2-Epidemie nicht verantwortlich waren, sie aber gleichwohl ihre Kinos, Theater, Diskotheken, Restaurants und anderen (Freizeit-)Einrichtungen schließen mussten, könnten sie einen Entschädigungsanspruch nach den Grundsätzen des enteignenden Eingriffs haben. Jedoch verneint die Rechtsprechung das Sonderopfer. Das aber überzeugt nicht. Denn für den Einzelnen wird die Belastung ja nicht dadurch milder, dass auch viele andere mitunter existenzgefährdend belastet sind. Gleichwohl ist der Rechtsprechung im Ergebnis (nicht aber mit ihrer Begründung) zu folgen. Denn ohne Schließungsanordnungen wäre es viel schlimmer gekommen; weite Teile der Bevölkerung wären schwer erkrankt oder sogar an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Gäste wären also so oder so ausgeblieben.     



Rolf Schmidt (22.01.2022)




 



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